Shane Burley, Journalist und Autor, über Antisemitismus und Verschwörungstheorien in den USA

»Das ist der Triumph des Populismus«

Der Rechtsextremismus-Experte Shane Burley spricht im Interview mit der »Jungle World« über den Judenhass der amerikanischen Mainstream-Rechten, warum dabei sogar Juden mitmachen und wie bessere Gegenstrategien aussehen könnten.
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Wird Antisemitismus in der USA ernst genug genommen?
Es ist ein Unterschied, ob man ihm Aufmerksamkeit schenkt oder ihn ernst nimmt. Wir schenken ihm sicherlich viel Aufmerksamkeit, aber ich denke nicht, dass wir ihn ernst nehmen. Es gibt eine ganze Reihe von NGOs und Institutionen, die sich damit befassen sollen, aber ich finde nicht, dass sie richtig damit umgehen. Offenkundig gibt es eine Verschiebung hin zu explizitem Antisemitismus bei der eher zum Mainstream gehörenden Rechten. Der Rapper Ye, früher Kanye West, ist ein gutes Beispiel. Es gibt auch sehr expliziten Antisemitismus in der Propaganda des Trumpismus und der Maga-Bewegung (Make America Great Again, 2016 von Donald Trump in seiner Wahlkampagne benutzter Slogan, Anm. d. Red.) und bis zu einem gewissen Grad bei den Nationalkonser­vativen, die eine etwas intellektuellere Version davon sind.

Gewinnt die »white supremacy« an Einfluss?
Die weiße nationalistische Bewegung wächst derzeit nicht mehr. Sie hat sich stabilisiert, einige Organisationen sind von ihr abgefallen. Eine akzelerationistische Version (der Akzelerationismus propagiert die Beschleunigung kapitalistischer Krisenprozesse, Anm. d. Red.) des Neonazismus ist ein wenig trendy geworden, es gibt noch immer die Atomwaffen Division und The Base, die Gewalt gegen Juden propagieren, aber diese Gruppen sind recht klein. Doch eine spezifische Form des Antisemitismus wird normalisiert, vor allem jene Variante, die sich auf jüdische Eigenschaften bezieht. Da geht es nicht nur um ­jüdische Kontrolle, sondern darum, woher diese Kontrolle kommt – entweder wird das aus dem Talmud abgeleitet oder aus fremdartigen Eigenschaften der Juden. Das kann man vor allem bei der Groyper-Bewegung (vor allem im Internet aktive Gruppe rechtsextremer Aktivisten, Anm. d. Red.) und ihrem Anführer Nick Fuentes sehen.

Die Republikanische Partei hat derzeit zwei einflussreiche Flügel: die Nationalkonservativen, die sich um den Think Tank Claremont Institute gruppieren, und die Maga-Bewegung, die sich um Trump sammelt. Beide bedienen sich bei den Groypers und ihrem Umfeld, denn dort ist man sehr umtriebig. Sie sehen diese Aktivitäten und spiegeln sie ihn ­einem moderateren Ton wider. Deshalb glaube ich, dass die christlich-nationalistische Version des Antisemitismus dessen dominierende Variante werden wird.

Wie passt der Antisemitismus in den größeren Rahmen der derzeitigen »white supremacy«?
Er ist in gewisser Weise essentiell. Wir bewegen uns in eine Richtung, die man als postantisemitisch bezeichnen könnte, wo der Antisemitismus so implizit im Weltbild enthalten ist, dass er keiner Juden mehr bedarf. Es gibt hier drei Publikumsgruppen: die Mainstream-Rechte, die christlichen Nationalisten und die weißen Nationalisten.
Weiße Nationalisten brauchen Juden in der klassischen Art, in der die Nazis sie brauchten, als kontrollierende Macht, die Nichtweiße manipuliert. Dann gibt es die christlichen Nationalisten, die eine Sichtweise der Juden wiederbeleben, die jener vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962–1965, legte fest, dass die Juden nicht mehr als von Gott verworfen oder verflucht dargestellt werden dürfen, Anm. d. Red.) ähnelt. Weil sie sich online über solche Ideen austauschen, kommen sie mit eher neonazistischen Ansichten in Berührung. Manches ergibt logisch keinen Sinn, etwa wenn fundamentalistische Baptisten die Holocaustleugnung übernehmen. Sie haben keinen Grund, das zu tun, aber wenn sie sich online mit anderen Antisemiten austauschen, werden sie von deren Gedankengut beeinflusst.

Wie sieht es im rechten Mainstream aus?
Diese Strömung ist sehr stark von Verschwörungstheorien geprägt, aber auch Israel; deshalb ist es wirklich schwer für sie, dass die Juden im Zen­trum des Antisemitismus stehen. Das macht das Leben der Juden nicht sicherer. Je mehr man Verschwörungstheo­rien propagiert, desto weniger sicher sind Juden. Aber jetzt laden sie Juden zum Mitmachen ein. Chaya Raichik, die hinter dem rechtsextremen und LGBT-feindlichen Twitter-Account »Libs of Tiktok« steht, ist eine orthodoxe Jüdin. Sie greift George Soros an und ihre Verschwörungstheorien – von denen einige explizit Juden benennen – hatten Einfluss auf ein Dutzend oder mehr transfeindliche Gesetze.

»Offenkundig gibt es eine Verschiebung hin zu explizitem Antisemitismus bei der eher zum Mainstream gehörenden Rechten.«

Es gibt also tatsächlich Juden, die mitmachen, deshalb geschehen bizarre Dinge. So haben Chassiden andere Juden beschuldigt, von Soros bezahlt zu werden. Es gibt Bilder von einem Satmar (Mitglied einer chassidischen Gruppierung, Anm. d. Red.), der beim Sturm auf das Kapitol am 6. Januar 2021 neben jemandem mit einem »Camp Auschwitz«-T-Shirt stand. Es ist irre, ein verwirrendes Durcheinander. Ob Juden im Zen­trum der Verschwörungstheorien bleiben werden, ist eine andere Frage. Aber die antisemitische Struktur wird weiter bestehen.

Die Behauptung, Donald Trump sei um seinen Wahlsieg betrogen ­worden, und die Feindseligkeit gegen Trans-Personen sind weiterhin präsent. Wird das dauerhaft so ­bleiben?
Das Angriffsziel werden nicht immer Trans-Personen sein, aber die Dynamik ist immer die gleiche. Manches, wie spezifische Qanon-Verschwörungstheorien, wird nicht mehr benötigt. Es gibt jetzt viele Qs, viele Leute enthüllen Geheimnisse auf dem Imageboard 4chan: »Ich bin Insider im Außenministerium, ich weiß, was sie tun!« Ein Grund, warum sie Trans-Personen angreifen, ist ihr Sieg bei der Abtreibung. Es ist also leicht, zu einem anderen Thema zu springen. Bei der Konzentration auf Trans-Personen werden eine Menge komplizierter Angelegenheiten vermischt und nehmen scheinbar materielle Form an. Es ist nicht nur wokeness, es ist medizinische wokeness: »Eure Kinder injizieren wokeness in ihre Körper!«

An diesem Punkt ist die Verbindung zu Argumenten vollständig gelöst, und man braucht keine kohärenten Theorien. Man braucht überhaupt keine Theorien mehr, man sagt einfach: »Einige Leute sagen … « Das ist gewissermaßen posttheoretisch, die Verschwörung findet immer und überall statt.

Das ist auch der Triumph des Populismus, denn das ist es, was der Populismus verlangt: gegen das System sein, ohne zu definieren, was das System ist und was es bedeutet, dagegen zu sein. Das bestimmende politische Ziel ist derzeit, die Zentrale zu zerstören und die dominierenden Institutionen anzugreifen – so dass viele die Rechte und die Linke als weitgehend austauschbar wahrnehmen, sofern sie destruktiv sind. Das ist auch bei der Linken ein Pro­blem, allerdings nicht im gleichen Ausmaß wie bei der Rechten. Ich denke, dass ein großer Teil der Anhängerschaft Trumps seinen Begierden freien Lauf lassen wird, um an einer Bewegung gegen das System teilzunehmen.

Eine kleine, obskure Gruppe von Neonazis hat kürzlich zu einem antisemitischen »Tag des Hasses« aufgerufen. Viele Medien schenkten dem große Beachtung und schlugen Alarm, doch so verschafften sie dem Aufruf, der ansonsten wenig Wirkung gezeigt hätte, große öffentliche Aufmerksamkeit. Nicht alarmistisch agieren, aber vor realen Bedrohungen warnen – wie kann man in effektiver Weise wachsam sein?
Übertriebene Reaktionen sind nicht hilfreich. Das gilt insbesondere für Antisemitismus, weil es sich um ein so politisches Thema handelt. Um es richtig zu machen, muss man sich Zeit nehmen und sich mit anderen in der Öffentlichkeit koordinieren, so dass alles untersucht wird und Informationen geteilt werden. Dann muss man Wege finden, es so zu präsentieren, dass die Menschen zu einem wirklich informierten Verständnis gelangen – jenseits der Sichtweisen von Strafverfolgungsbehörden und vielen NGOs, die nicht in der Lage sind zu differenzieren. Ich denke nicht, dass es eine Geheimformel dafür gibt. Die Schwierigkeit besteht darin, dass es zwei Arten von Bedrohung gibt: die Bedrohung durch eine wachsende ­Bewegung und alles, was eine große Bewegung tun kann, und die Bedrohung durch die Gewalt kleiner Gruppen. Beide sind wichtig und sie treten getrennt auf.

Es gibt Dinge, auf die man achten muss. Wandel und Anziehungskraft sind immer von Bedeutung. Wenn eine Person aus dem Mainstream sich in wirklich grundlegender Weise verändert, ist es wichtig, dem nachzuspüren. Und wenn es ein großes Wachstum gibt, ist das ebenfalls wichtig.

Die Entwicklung, die Ye genommen hat, ist wichtig, weil sie einen grund­legenden Wandel zeigt. Das Wachstum und die Beständigkeit der Groypers – der einzigen aus der Alt-Right übrig gebliebenen Gruppierung, die ihre zahlenmäßige Stärke gewahrt hat – ist wichtig. Und die Einzigen, die diesen Dingen nachgehen, sind die Antifaschisten, die dafür viel Zeit aufwenden. Es sollte mehr Diskussion und Zusammenarbeit geben, damit die Menschen die Veränderungen und Kontinuitäten besser verstehen – und auch die Geschichte, die zukünftige Entwicklung und die Funktionsweise. Da es häufig wiederkehrende Muster gibt, kann man aus der Vergangenheit lernen.

Shane Burley

Shane Burley ist Experte für die extreme Rechte in den USA. Er arbeitet als Journalist unter anderem für »The Daily Beast«, »The Independent« und »Haaretz«, zu seinen Buchveröffentlichungen gehört »Why We Fight: Essays on Fascism, Resistance, and Surviving the Apocalypse« (2021).

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