Die Pläne zur Kernfusion unterschätzen die Komplexität der neuen Technologie

Das nächste Abenteuer

Die Pläne zur Kernfusion beachten die Erfahrungen bei der Nutzung der Kernspaltung nicht, die Komplexität der neuen Technologie wird unterschätzt.
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Die Bundesrepublik hat das Kapitel Stromerzeugung durch Kernspaltung weitgehend abgeschlossen, nun könnte mit der Kernfusion eine andere Form von Atomenergie nutzbar werden. Die Frage liegt auf der Hand, wie sich dabei die Fehler vermeiden ließen, die bei der Kernspaltung gemacht wurden. Diese Reflexion müsste selbstverständlich sein, sie findet aber nicht statt; schon Hinweise auf Fehler gelten als Ausdruck »grüner Ideologie« verdächtig. Maßgebliche Kräfte in Wirtschaft und Politik können das nächste nukleare Abenteuer kaum erwarten, ohne das vorige verstanden zu haben.

Doch das Neue kann man nicht erfolgreich beginnen, wenn man das Alte nicht erledigt hat. Dazu gehört an erster Stelle die Entsorgung des angefallenen Atommülls.In der Gesamtschau ist es absurd, mit Volldampf in die Kernfusion einsteigen zu wollen, während die nukleare Entsorgung, wie von der Bundesgesellschaft für Endlagerung (BGE) verkündet, erneut verschoben wird. Die Öffentlichkeit nahm es, mit wenigen Ausnahmen, gleichmütig bis desinteressiert zur Kenntnis. Wer kein Engagement bei der nuklearen Entsorgung nachweisen kann, sollte sich bei der Fusionstechnik ganz hinten anstellen.

Ein konkretes Beispiel zeigt, wie diese beiden Themen zusammenhängen: Für die Kernfusion wird das Wasserstoffisotop Tritium benötigt, das teuer ist, weil es in der Natur praktisch nicht vorkommt. Es fällt jedoch in den herkömmlichen Nuklearreaktoren an, wo es als radioaktives Gas unerwünscht ist. In der Ruine des Atomkraftwerks von Fukushima ist Tritium eine schwere Belastung, und die japanische Regierung hat im Januar angekündigt, noch in diesem Jahr Millionen Kubikmeter tritiumverseuchten Wassers in den Pazifik abzupumpen.

Mit dem Hinweis auf Probleme kann man kein Geld machen. Also werden in Sachen Kernfusion Erfolgsmeldungen und waghalsige Ankündigungen herausposaunt, die dem Marketing dienlich sind.

Müsste man nicht der japanischen Regierung, wenn dies geschieht, signalisieren, dass man sie, da man sie aus der internationalen Kooperation zur Kernfusion nicht ausschließen kann, zumindest in dieser Frage politisch zu isolieren gedenkt? Das Tritium-Management, das für die Kernfusion benötigt wird, wäre daran zu messen, ob man die Weltmeere schont und Lösungen dafür findet, wie Tritium aus der Hinterlassenschaft stillgelegter oder zerstörter Atomkraftwerke entfernt werden kann.

Der zweite Punkt, der eine intensive Beschäftigung verdient, ist die allgemein unterschätzte Komplexität von Atomtechnologien. Manche verstehen darunter eine besonders ausgeklügelte Technik, doch es gibt auch ganz unerwartete, schlichte Fehler. Vor neun Jahren ereignete sich ein großer Atomunfall im US-Bundesstaat New Mexico, als bei der sogenannten Konditionierung von Atommüllfässern das falsche Katzenstreu benutzt wurde. Es klingt wie ein Witz, ist aber wahr: Im Atombombenlabor Los Alamos füllt man Katzenstreu als Mittel gegen Feuchtigkeit in die Fässer. Das ging lange Zeit gut, dann benutzten schlecht ausgebildete Angestellte monatelang ein falsches Produkt, das unerwünschte chemische Reaktionen auslösen kann. Ein schon eingelagertes Fass platzte, und die Atommüllanlage WIPP bei Carlsbad, New Mexico, wurde mit Plutonium verseucht, so dass sie drei Jahre lang geschlossen werden musste. »We used the wrong kitty litter« – wer kann so etwas voraussehen?

Hubert Reeves, ein altgedienter und prominenter kanadischer Physiker, nahm den Vorfall zum Anlass zu erklären, warum die Nukleartechnik mit den Fähigkeiten und Schwächen der menschlichen Gattung nicht in Einklang zu bringen sei. Das kümmert die Propagandisten der Kernfusion nicht. Ihnen geht es darum, ihre Maschinen zum Laufen zu bringen. Fusionsreaktionen in ausreichender Menge zu initiieren, ist das große Ziel. Alles andere wird auf später verschoben, wie vor 70 Jahren bei der Kernspaltung.
In einem Gutachten von 2019 hat der Zürcher Physiker Michael Dittmar einige Probleme der Fusionstechnik benannt, die nachrangig erscheinen, aber im Handumdrehen zu unüberwindlichen Hindernissen werden können. Eines davon betrifft die Umwandlung von freigesetzter Fusionsenergie in nutzbare Wärme und den dabei erreichbaren Wirkungsgrad. Anders als bei der Kernspaltung befindet sich der Core eines Fusionskraftwerks nämlich nicht in einem Wasserbad, sondern in einer Vakuumkammer. Folglich prallen die Neutronen als Träger der freigesetzten Energie ungebremst auf die Innenwände des ringförmigen Tunnels, in dem das Fusionsplasma rotiert. Das hat eine extrem hohe Materialbeanspruchung zur Folge.

Augen auf beim Katzenstreukauf

Augen auf beim Katzenstreukauf. Die Nutzung der falschen Marke kann einen Atomunfall verursachen

Bild:
wikimedia / Seth Werkheiser (CC BY-SA 2.0)

Dieser Schwierigkeit war man sich schon vor Jahrzehnten bewusst. In den Inhaltsverzeichnissen alter Ausgaben von wissenschaftlichen Publikationen finden sich viele Artikel zu den Materialanforderungen in zukünftigen Fusionsreaktoren. Dann hat man gemerkt, dass diese Studien der Kritik an existierenden Atomkraftwerken Argumente liefern, weil es bei denen auf lange Sicht ebenfalls zu Materialermüdung kommt. Deswegen waren solche Untersuchungen bald nicht mehr erwünscht.

Mit dem Hinweis auf Probleme kann man eben kein Geld machen. Wer wird einer Forschungseinrichtung oder einem Start-up-Unternehmen Mittel geben, solange von unbewältigten Schwierigkeiten die Rede ist? Also werden Erfolgsmeldungen und waghal­sige Ankündigungen herausposaunt, die dem Marketing dienlich sind. So wird reproduziert, was bei der Kernspaltungstechnik falsch gemacht worden ist.

Neben der Profitorientierung gibt es politische und militärische Interessen, die das Projekt einer friedlichen Zukunftstechnik gefährden. Bei der laserinduzierten Fusion ist das bereits umfangreich thematisiert worden. Experimente nach dem Konzept der inertial confinement fusion (ICF, Kernfusion durch Trägheitseinschluss) dienen dem Militär als Ersatz für Atomtests – ein Zusammenhang, der oft geleugnet wird, aber relevant sein sollte, wenn es um eine Förderung mit öffentlichen Mitteln geht. Beim kalifornischen Lawrence Livermore National Laboratory, wo im Dezember vorigen Jahres ein Durchbruch bei der Laserfusion verkündet wurde, zeigt sich der verhängnisvolle Trend einer Verschmelzung von ziviler und militärischer Atomtechnik deutlich; Atomwaffenentwicklung und Fusionsforschung finden hier unter einem Dach statt.

»Ohne zivile Nuklearenergie gibt es keine militärische Nutzung dieser Technologie – und ohne militärische Nutzung gibt es keine zivile Nuklearenergie«, sagte der französische Präsident Emmanuel Macron 2020.

Und das gilt nicht nur in den USA. »Ohne zivile Nuklearenergie gibt es keine militärische Nutzung dieser Technologie – und ohne militärische Nutzung gibt es keine zivile Nuklearenergie«, sagte der französische Präsident Emmanuel Macron 2020. Angesichts und gegen diesen Trend wären vermehrte politische Anstrengungen bei der Nichtverbreitung von Atomwaffen erforderlich. Deutschland hat den Atomwaffensperrvertrag unterzeichnet, doch immer wieder flammen Debatten über einen deutschen Beitrag zu einer Nu­klearstreitmacht der EU auf. Wer mag unter solchen Umständen der Laserfusion vertrauen?

Der International Thermonuclear Experimental Reactor (Iter) in Südfrankreich, an dem 35 Nationen beteiligt sind, soll mit einem Tokamak betrieben werden. Diese Fusionsmaschine, in der ein Plasma durch gewaltige Magneten zusammengehalten wird, ist militärisch nicht verwendbar. Doch das Interesse an der internationalen Kooperation geht derzeit zurück. Denn eine Politik, wie sie zu Iter geführt hat – maßgeblich war eine Verabredung des damaligen US-Präsidenten Ronald Reagan mit Michail Gorbatschow, dem damaligen Generalsekretär der KPdSU –, ist heutzutage nicht mehr erwünscht. Der Tokamak war ursprünglich eine sowjetische Erfindung, Russland ist an Iter in Nachfolge der Sowjetunion beteiligt.

Für eine Bekämpfung des Klimawandels käme die Kernfusion viel zu spät; immerhin ist man bei Iter aufrichtig genug, das einzugestehen. Ob sie sich überhaupt nutzen lässt, ist nicht sicher. Ähnlich wie die Kernspaltung durch die Formel von Otto Hahn und Lise Meitner beschrieben wird, die den Ingenieuren zum Bau von Atomkraftwerken reichte, gibt es eine Fusionsformel, mit der die Nuklearbranche wiederum zufrieden ist:

2D + 3T –> 4He + 1n + 17,6 MeV
D: Deuterium (Wasserstoff mit einem Neutron, auch als 2H geschrieben)
T: Tritium (Wasserstoff mit zwei Neutronen, auch als 3H geschrieben)
He: Helium
n: Neutron
MeV: Millionen Elektronenvolt (Energieeinheit)

Das kennen die Techniker, und diese Kenntnis halten sie für ausreichend, weil es ihnen nur auf den Energiebetrag rechts in der Formel ankommt. Eine Formel ist jedoch keine mathematische Gleichung, sondern eine stark vereinfachte Übersicht über ein, wie sich rasch herausstellt, auch im Mikrokosmos komplexes und schwer zu durchschauendes Ereignis. Eben das ist die Gefahr von Formeln: Sie täuschen ein Wissen vor, das in Wahrheit nicht vorhanden ist.

Wenn die Fusionsforschung ihrem proklamierten Ziel gerecht ­werden will, muss sie ihre Richtung dahingehend ändern, dass die Mathematik stärker zum Zug kommt.

Oft wird die Fusionstechnik mit dem Sonnenfeuer verglichen. Was stimmt daran und was ist daran falsch? Fusionsreaktionen ereignen sich in der Sonne bei vergleichsweise niedrigen siebenstelligen Temperaturen. Für Fusionskraftwerke auf der Erde benötigt man hundertmal höhere Temperaturen. Das liegt daran, dass das Sonnenplasma durch die gewaltige Gravitationskraft zusammengepresst wird. Die Schwerkraft der Sonne spielt bei der natürlichen Fusion eine entscheidende Rolle. Ohne deren immensen Druck käme die solare Kernfusion nicht zustande.

Die Rolle der Gravitation sollen bei der künstlichen Fusion elektromagnetische Felder einnehmen. Der Fusionsformel ist das egal. Weder die eine noch die andere Umgebung kommt in ihr vor, das jedoch ist realitätsfremd im wörtlichen Sinne. Um eine Fusion zweier Atomkerne zu verstehen, reicht es nicht, mit Größen der klassischen Physik wie Druck, Dichte, Temperatur, Feldstärke und Geschwindigkeit zu operieren. Die klassischen Begriffe und die damit verbundenen Vorstellungen haben in der Welt der Atomkerne nur begrenzten Wert.

Metaphorisch könnte man das vielleicht so fassen: Die Physik, wie sie nun einmal ist, reicht von der Alchimie bis zur Mathematik. In der derzeitigen Außendarstellung der Kernfusion hat die Alchimie ein klares Übergewicht – man behauptet, über eine magische Formel für unerschöpfliche Energiegewinnung zu verfügen. Wenn die Fusionsforschung ihrem proklamierten Ziel gerecht ­werden will, muss sie ihre Richtung dahingehend ändern, dass die Mathematik stärker zum Zug kommt. Das sollte man allerdings nur mit denjenigen diskutieren, die ihren Verstand bei der Priorisierung der Aufgaben bewiesen haben. Die Entsorgung des Atommülls sollte Vorrang haben, auch für die ­Wissenschaft.