Aufs Auge gedrückt
Öfter war von einer »Datenbrille« die Rede, doch wenn eine solche hauptsächlich zum Anschauen von Daten und Medieninhalten dienen soll, dann ist »Vision Pro«, wie Apple das Anfang Juni vorgestellte Ding genannt hat, ganz gewiss keine. Oder nur zu einem kleinen Teil. In typischer Apple-Manier beschreibt der Konzern die Brille als einen tragbaren spatial computer, also einen Rechner, der im Unterschied zu herkömmlichen Modellen nicht Bildschirme bespielt, sondern eine Brille, die ein drei- statt zweidimensional wahrgenommenes Bild erzeugt. Dieser spatial computer soll besonders intuitiv sein – bedient wird er mit den Augen, manuellen Gesten und der Stimme.
Herzstück des Geräts sind ein Apple-M2-Prozessor, also ein SoC (system on a chip) der aktuellsten Generation, sowie ein brandneuer R1-Chip, der ausschließlich für die Koordinierung der verbauten Sensoren und ihrer Daten zuständig ist. Das ist nötig, weil eine ganze Menge Sensoren verbaut wurde, von Kameras über Infrarot- und Beschleunigungssensoren bis zu Mikrophonen und Lidar (Light Detection and Ranging, dreidimensionales Laserscanning). Das ist viel Rechen- und Sensorenpower für eine »Datenbrille«. Die kleinen Bildschirme vor den Augen der Benutzer:innen haben mit 23 Millionen Pixeln eine Auflösung wie ein 4K-Bildschirm.
Das ermöglicht eine Menge an Leistung, die man für technischen Overkill halten könnte. Allerdings muss das Gerät mit hoher Genauigkeit die Bewegung sowohl der Augen als auch der Hände der Nutzerin erfassen können. Es muss seine eigene Position im Raum feststellen, die Umgebung vermessen, genug Bandbreite für die Analyse und Ausgabe akustischer Signale bereitstellen und genug Rechenleistung für die Integration aller Datenströme zu einem »Mixed-Reality«-Raum aufbieten, also um die digitale Umgebung herzustellen, die der User wahrnimmt. Zu diesen Datenströmen gehören neben den Audio-, Video-, Lidar-Informationen selbstverständlich auch W-Lan- und Bluetooth-Signale. All das muss in Echtzeit passieren. »Echtzeit« bedeutet hier eine Verzögerung von zwölf Millisekunden vom Abtasten bis zur Darstellung.
Die ersten Erfahrungen deuten darauf hin, dass Apple es mit dem Gerät geschafft hat, eine kritische Schwelle zu unterschreiten, unterhalb derer die Verzögerung nicht mehr stört.
Die ersten Erfahrungen deuten darauf hin, dass Apple es damit geschafft hat, eine kritische Schwelle zu unterschreiten, unterhalb derer die Verzögerung nicht mehr stört. Wenn das stimmt, dann ist das die wichtigste technische Leistung des Geräts, weil die bisherigen AR/VR/MR-Brillen für Normalsterbliche (also eben nicht die extrem teuren Helme von Düsenjägerpilot:innen) hier deutlich schlechter abschnitten. Man kann Apple aus Gründen blöd finden, und die Vision Pro sowieso, aber das ist ein relevanter technologischer Sprung.
Dabei ist noch gar nicht erwähnt, dass ein eigenes, 3D-orientiertes Betriebssystem namens Vision OS geschaffen wurde, mit dem das Gerät seine vollen Fähigkeiten im Solobetrieb ausspielen und dennoch mit dem ganzen Rest an Soft- und Hardware von Apple nahtlos zusammenarbeiten kann. Videokonferenzen, Text- und Bildbearbeitung, Filmschnitt, Webbrowsing, Unterhaltung und Kunst, Arbeit, Spaß und Spiel – das alles soll mit der Vision Pro möglich sein. Wenn nötig gleichzeitig, auf beliebig vielen Bildschirmen, die virtuell über, vor, neben den Möbeln im eigenen Wohnzimmer hängen und die mit Blicken, Gesten und der Stimme gesteuert werden. Sollte das tatsächlich wie versprochen funktionieren, wäre es eine Leistung, zu der nicht viele Technologiekonzerne weltweit fähig sind.
Das kostet natürlich. Die Vision Pro ist für den gewöhnlichen Konsumenten viel zu teuer (angekündigt ist ein Preis von 3.499 US-Dollar), was die massenhafte Benutzung des Geräts erst einmal eindämmen wird. Das ist vielleicht nicht schlecht, weil der Gebrauch dieses Geräts Opfer fordern wird – eine spezifische Form von Opfer. Die interessanteste Nebenfigur in Ray Bradburys Science-Fiction-Roman »Fahrenheit 451« ist die Ehefrau von Guy Montag. Sie konsumiert pausenlos Medien auf drei Videowänden, mit denen sie sich fast ganz umstellt hat, und wünscht sich nichts sehnlicher als eine vierte Wand, damit die Umzingelung perfekt ist.
Apple hat eine fast ideale vierte Wand geschaffen; daran ändert auch die clevere Möglichkeit nichts, mit einem Rändelrad stufenlos den Grad der Immersion selbst zu bestimmen. Hinter dieser vierten Wand werden die Nutzer:innen verschwinden, und manche von ihnen werden nicht wieder auftauchen, genauso sicher, wie die massenhafte Produktion und Nutzung von Autos Autounfälle und Umweltbelastung hervorruft. Und: Schon lange werden Kriege auch mit Hilfe von Datenbrillen geführt; eine Verbesserung von deren Leistung wird also auch die Kriegsführung perfektionieren.
Aber trotz dieser unheimlichen Konsequenzen führt kein Weg daran vorbei: Die Brille sieht lächerlich aus, und die Nutzer sehen lächerlich aus, wenn sie das Ding auf dem Kopf haben. Von Eleganz kann hier kaum die Rede sein; ebenso wenig wie von Leichtigkeit: Das hohe Gewicht der Brille wird öfter kritisch erwähnt, genau wie die geringe Laufzeit des Akkus (zwei Stunden), den man immer bei sich tragen muss, wenn man die Vision Pro nicht an ein Netzteil anschließen will. Wahrscheinlich waren diese Designentscheidungen angesichts von Preiskalkulation, technologischer Entwicklung und Nutzungspotential unvermeidlich: flacher, leichter, stromsparender geht es im Moment nicht, jedenfalls nicht zu einem Preis, der noch irgendwie vermittelbar gewesen wäre. Ein Konkurrenzprodukt von Microsoft namens »Hololens« fällt in dieselbe Preiskategorie.
Vermeidbar allerdings waren ein paar Entscheidungen, die dann doch nur Kopfschütteln auslösen, und zwar interessanterweise in dem Bereich, der die Brille menschlicher und alltagstauglicher machen soll. Es ist naheliegend, dass man mit einem Sensor- und Kameramonster wie der Vision Pro auch 3D-Fotos und -Filme machen kann. Aber die Vorstellung (die in der Präsentation Anfang Juni explizit beworben wurde), dass technikbegeisterte Väter mit dem Ding auf dem Kopf zwischen Geburtstagsgästen ihrer Tochter herumspringen, um den schönen Moment einzufangen, ist offenkundig Material für eine gruselige Dystopie.
Die Brille sieht lächerlich aus, und die Nutzer sehen lächerlich aus, wenn sie das Ding auf dem Kopf haben.
Noch schlimmer ist das, was sich Apple mit der sogenannten »Eyesight-Technologie ausgedacht hat. Um die Kommunikation mit Nicht-Brillenträgern zu erleichtern, kann Vision Pro eine mehr oder minder realistische Simulation der Nutzeraugen präsentieren, die das Gegenüber dann anstelle der richtigen Augen sieht. Das mag technologisch interessant sein, aber es sieht fatal aus: Untote schauen dich an. Es ist bekannt, dass die Realität gern die furchtbarsten Ideen der Science Fiction wahr macht, aber man muss ja nicht gleich kopfüber in die Welt von »Ghost in the Shell« hineinspringen.
Mehr Produktivität ihrer Nutzer:innen, das ist es natürlich, was die Vision Pro bringen soll. Sie gibt ihnen scheinbar mehr Kontrolle, während die Brille eigentlich sie kontrolliert. Ist die Arbeit dann erledigt, kann man das Gerät gleich auf der Nase sitzen lassen, um sich die ganzen Filme und Serien reinzuziehen, die einem buchstäblich aufs Auge gedrückt werden. Erhöhte Produktivität und verbesserte Kontrolle, die wie Selbstbestimmung aussieht – das sind freilich Themen bei jeder technischen Neuerung im Kapitalismus. Aber hier bleibt seltsam unklar, wozu die Vision Pro eigentlich dienen soll; das, was sie kann, kann man auch mit einem Smartphone oder einem Computer machen – und zwar viel einfacher.
Apple hat ein symbolisches Produkt geschaffen. Damit ist nicht nur die Tatsache gemeint, dass es erst im kommenden Jahr auf den Markt kommen soll (und Verzögerungen sind absolut möglich). Apple hat mit einem Aufwand, den normalerweise staatliche Rüstungsprogramme aufbringen, ein Produkt voller Potential geschaffen, das als Gadget lange erwartet wurde und technologisch sehr interessant sein mag, aber dessen konkrete Anwendung reichlich nebulös ist. Die nach Börsenpreis wertvollste Firma der Welt hat ein Symbol für ihre eigene technische Überlegenheit hergestellt – nicht mehr und nicht weniger.