Der Tod Nahel Merzouks löste in Frankreich Proteste und Aufruhr aus

Feuer und Tränengas

Nachdem der 17jährige Nahel Merzouk in Nanterre bei einer Polizeikontrolle erschossen wurde, ist es in vielen französischen Städten zu Protestdemonstrationen und Aufruhr gekommen.
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Eigentlich knallt es am französischen Nationalfeiertag immer richtig, denn üblicherweise findet am 14. Juli, in einigen Städten auch am Vorabend, ein Feuerwerk statt. Doch in diesem Jahr soll es in einigen französischen Ballungsräumen ausbleiben. In Montargis zwischen Paris und Orléans, im südfranzösischen Nîmes, aber auch in Straßburg wurde es verboten. Mancherorts hängt dies mit der in Teilen Frankreichs anhaltenden Dürre zusammen, Funkenflug könnte die ausgetrocknete Vegetation allzu leicht entzünden. Noch mehr hat es jedoch damit zu tun, dass es bereits in den letzten Juni- und ersten Julitagen zu viel knallte, wenn auch auf andere Weise.

Ausgangspunkt der Krawalle, Ausschreitungen und Proteste, die ihren Höhepunkt zwischen dem 29. Juni und dem 1. Juli erreichten, doch erst im Laufe der vergangenen Woche aufhörten, war die Stadt Nanterre nordwestlich von Paris. Den Unruhen folgten am Samstag von linken Parteien und Gewerkschaften unterstützte friedliche Demonstrationen, die allerdings in ­Lille und Paris verboten wurden. In der Hauptstadt wurden die dennoch erschienenen Demonstranten eingekesselt.

Nanterre, die rund 95.000 Einwoh­ner:in­­nen zählende Bezirkshauptstadt des Département Hauts-de-Seine, ist die fünftgrößte Stadt der Hauptstadtregion – Paris selbst nicht mitgerechnet – und besteht aus vier größeren Vierteln; drei haben jeweils eine eigene Station des Vorortszugs RER. Da ist die historische Alt- und Kernstadt; das in den sechziger Jahren abseits der historischen Stadt erbaute Universitätsviertel, in dem die Initialzündung zur Achtundsechziger-Bewegung erfolgte; ­daneben das Viertel mit den Repräsentativbauten der Präfektur – Polizei-, Führerschein- und Ausländerbehörde, Ge­richt und Arbeitsgericht. Hinzu kommt ein in den siebziger Jahren als futuristischer Stadtteil konzipiertes, nach dem spanisch-französischen Maler Pablo Picasso benanntes Hochhausviertel, dessen Wohntürme nach einem Architekturwettbewerb Émile Aillaud gestaltete – sie werden als Tours Aillaud, aber auch als »Wolkentürme« bezeichnet.

»Maskuline Verteidigungshaltung«
Doch in den späten siebziger Jahren begann die wirtschaftliche und soziale Krise das vormalige Sozialmodell zu erschüttern. Die Stadtverwaltung führte die Französische kommunistische Partei (PCF), sie hatte bewusst viele Arbeiter dort angesiedelt. Diese waren oft in der westlich von Paris konzentrierten Automobilindustrie beschäftigt. Als dort Massenentlassungen einsetzten, veränderte sich die Struktur des Wohnviertels. Wer konnte, zog weg. Zurück blieben überwiegend migrantische Familien, denen der sogenannte freie Wohnungsmarkt wenig Wahl ließ, und die Deklassierten der früheren industriellen Arbeiterklasse.

»Wolkentürme« von Nanterre

Als futuristisches Sozialmodell konzipiert, nun überwiegend von migrantischen Familien und Deklassierten bewohnt: die »Wolkentürme« von Nanterre

Bild:
Geograph23 (gemeinfrei)

Dort, in der Cité Pablo Picasso, wuchs Nahel Merzouk bei seiner alleinerziehenden Mutter auf. Die Familie stammt aus Algerien. Die Nachbarschaft schilderte ihn nach seinem Tod als freundlich und hilfsbereit. Wie andere Jugendliche kam er jedoch auch auf dumme Ideen. Der 17jährige kurvte am Dienstag vorvergangener Woche ohne Führerschein am Steuer eines Autos frühmorgens durch die Stadt, just an der Grenze zwischen der Pablo-Picasso-Siedlung und dem Stadtteil mit den repräsentativen Gebäuden.
Es handelte sich um einen Sportwagen der Marke Mercedes-AMG mit polnischem Kennzeichnen. In jüngerer Zeit wurde es unter anderem in den französischen Banlieues zunehmend populär, Mietautos aus Polen zu benutzen. Denn dort sind die Fahrzeugmietpreise vergleichsweise niedrig, und das polnische Recht erlaubt auch das Weitervermieten, was bei einem Vertragsschluss in Frankreich unzulässig wäre. Viele Autofahrer benutzen diese durch die internationale Konkurrenz der Anbieter entstandene Möglichkeit zudem, um einer Strafverfolgung wegen nicht allzu gravierender Verkehrsdelikte zu entgehen. Denn solche Verkehrsverstöße werden in aller Regel nicht auf dem Umweg über Polen weiterverfolgt, die Identität der Fahrer bleibt unbekannt.

Die polizeiliche Version des Tathergangs lautete zunächst, Merzouk sei nach kurzem Anhalten an einer Straßensperre wieder losgefahren. Ein Amateurvideo widerlegte dies.

Es mag sogenannte toxische Männlichkeit gewesen sein, die den jungen Mann antrieb, oder auch einfach Freude am Herumspielen mit einem Statussymbol. Viele junge Männer in einer Situation sozialen Scheiterns kompensierten dies mit »maskuliner Verteidigungshaltung«, schrieb die Soziologin Christine Castelain Meunier in der Pariser Abendzeitung Le Monde vom Freitag voriger Woche.

Die Polizei behauptet, Merzouks Fahrweise sei potentiell bedrohlich gewesen, er habe einen Radfahrer und ­einen Fußgänger gefährdet. Das lässt sich kaum überprüfen. Doch steht fest, dass die staatlichen Ordnungskräfte derzeit in erster Linie um Schadensbegrenzung für sich selbst und eine Rechtfertigung ihres Einsatzes bemüht sind.

Umstrittener Tathergang
Denn an jenem 27. Juni gegen acht Uhr früh erschoss ein Polizist Merzouk. Auf dem Rücksitz des Autos saß damals der 14jähriger Adam – er war mit dem getöteten Fahrer befreundet und wurde von ihm zu seiner Mittelstufen-Abschlussprüfung befördert. Am Montag voriger Woche vernahmen ihn die Ermittler der Dienstaufsichtsbehörde (Inspection générale de la Police nationale, IGPN). Dabei und gegenüber Medien gab Adam zu Protokoll, Merzouks letzte Worte seien ein ungläubig ausgerufenes »Der ist irre, der hat geschossen!« gewesen.

Die polizeiliche Version des Tathergangs lautete zunächst, der Wagen sei auf die Beamten zugefahren, Merzouk sei nach kurzem Anhalten an einer Straßensperre wieder losgefahren. Ein Amateurvideo widerlegte dies jedoch schnell. Auf ihm ist zu sehen, dass sich keiner der beteiligten Polizisten vor dem Fahrzeug befand oder von ihm hätte erfasst werden können. Alle Beamten standen seitlich des Autos. Dadurch wurde die auch in einem offiziellen ­Polizeiprotokoll festgehaltene Version der am Einsatz Beteiligten als Lüge entlarvt. Die Staatsanwaltschaft stellte ein bereits gegen den Fahrer eingelei­tetes Ermittlungsverfahren wegen Tötungsversuchs ein und eröffnete eines wegen vorsätzlicher Tötung gegen den Polizisten, der geschossen hatte.

Die trotz Verbot am 8. Juli in Paris erschienenen Demonstrierenden wurden von der Polizei umstellt

Kein Durchkommen. Die trotz Verbot am 8. Juli in Paris erschienenen Demonstrierenden wurden von der Polizei umstellt

Bild:
Bernhard Schmid

Bei dem Todesschützen handelt es sich um den 38jährigen ehemaligen Soldaten Florian M., der in Afghanistan eingesetzt worden war. Zunächst wurden wenige Angaben über ihn bekannt, doch Oise Hebdo, eine lokale Wochenzeitung im nordfranzösischen Département de l’Oise, aus dem der Polizist stammt, publizierte inzwischen sein Porträt und nannte seinen vollen Namen. Wegen der Nennung des Familiennamens und der Wohngemeinde hat Innenminister Gérard Darmanin eine Strafanzeige gegen die Zeitung angekündigt. Mittlerweile wurde auch bekannt, dass der 38jährige im Jahr 2021 vom damaligen Pariser Polizeipräfekten Didier Lallement, der einen besonders repressiven Kurs verfolgt, ausgezeichnet worden war, unter anderem für seine Einsätze gegen die Proteste der gilets jaunes (Gelbwesten). Der Beamte gehörte zeitweilig der Motorradeinheit BRAV-M ein, die im März 2019 im Zusammenhang mit den Protesten der Gelbwesten neu aufgestellt wurde. Die letzte motorisierte Sondereinheit vor der Gründung von BRAV-M hatte der seinerzeitige konservative Innenminister Charles Pasqua im Dezember 1986 wegen des Todes des jungen Malik Ous­se­kine auflösen müssen; er war als Unbeteiligter am Rande einer studentischen Demonstration von Polizisten zu Tode geprügelt worden.

M. sitzt derzeit im Pariser Gefängnis La Santé ein, in dem häufig Prominente untergebracht werden. Er hatte auf Freilassung aus der Untersuchungshaft geklagt, doch am Donnerstag vergangener Woche entschied das Pariser Berufungsgericht, ihn, den Anträgen der Staatsanwaltschaft folgend, in Haft zu behalten.

Kein Einzelfall
Die Dienstaufsichtsbehörde der Polizei untersucht auch die Äußerungen der beteiligten Beamten im Laufe ihres Einsatzes und den Wortwechsel zwischen ihnen und den Insassen des Autos, dem Fahrer Merzouk, einem Gleichaltrigen auf dem Beifahrersitz sowie dem 14jährigen Adam auf der Rückbank. Was ­genau zu hören sei, war zunächst umstritten, da die Tonqualität des Amateurvideos zu wünschen übrig lässt. Unklar war, ob einer der hinter dem Schützen stehender Polizisten »Shout!«, eine abgewandelte französische Version des englischen Verbs shoot (schieß), oder ob der vor ihm stehende Beamte »Coupe!« (eine Aufforderung, den Motor abzustellen) rief. Unklar war ebenfalls, ob der neben M. stehende Polizist zu Merzouk »Du fängst dir noch eine Kugel in den Kopf ein!« rief oder, wie er selbst behauptet: »Nimm die Hände hinter den Kopf!«
Inzwischen haben Toningenieure das Video ausgewertet. Den Ermittlungs­behörden zufolge erfolgte tatsächlich die Aufforderung »coupe«. Doch sei ­sogar zweimal die Drohung an Nahel Merzouk zu hören, er werde noch eine Kugel abbekommen; das spricht gegen eine Affekthandlung oder einen ver­sehentlich abgegebenen Schuss. M. bestreitet diese Version weiterhin.

»Wie viele Nahels wurden nicht gefilmt?« stand auf einem Schild, das eine junge Frau bei der Protestdemonstration von über 10.000 Menschen am 29. Juni in Nanterre trug – es zählte vielleicht zu den meistfotografierten. Denn tatsächlich ist oft umstritten, ob die Polizei wirklich in Notwehr handelte, wenn tödliche Schüsse fielen. 13 Menschen wurden im vorigen Jahr der Tageszeitung Ouest-France zufolge bei Polizeikontrollen erschossen, die linke Wochenzeitung Politis spricht von insgesamt 44 in den Jahren 2021 und 2022.

Ein Gesetz, das am 2. März 2017, ­gegen Ende der fünfjährigen Amtszeit des sozialdemokratischen Staatspräsidenten François Hollande, verabschiedet wurde, könnte die Hemmschwelle gesenkt haben. Es änderte den Artikel L435-1 des Gesetzbuchs Code de la sé­curité intérieure, das das Verhalten der Sicherheitskräfte reguliert.

Vorausgegangen waren unter anderem die jihadistisch motivierten Attentate von November 2015 sowie ein Angriff Krimineller auf Polizeibeamte in der Pariser Vorstadt Viry-Châtillon, bei dem vier Polizisten schwere Verbrennungen davontrugen. Das neue Gesetz enthält eine längere Liste von Umständen, unter denen Polizisten das Feuer auf ein Fahrzeug, das auf Aufforderung hin nicht anhält, eröffnen dürfen. Dazu muss einen gegenwärtige Gefahr für Leib oder Leben entweder der beteiligten Beamten oder aber von Dritten vorliegen.

Demonstration in Nanterre

Die bislang größte Protestaktion: die Demonstration in Nanterre am 29. Juni

Bild:
Bernhard Schmid

Die Gesetzesänderung wurde mit der Rechtssicherheit für Polizeibediens­tete begründet. Liegen die geschilderten Umstände allerdings vor, dann würde ohnehin der strafrechtliche Rechtfertigungsgrund der Notwehr (légitime ­défense) oder Nothilfe (légitime défense pour autrui) greifen. Die für Polizisten explizit festgeschriebene Straffreiheit beim Schießen auf ein bewegtes Fahrzeug scheint ein Teil der Beamtenschaft so aufgefasst zu haben, dass für einen Schusswaffeneinsatz nun weniger strenge Regeln gälten.

Insofern haben sowohl die linken Parteien – von der radikalen Linken über die Wahlplattform La France insoumise (Das unbeugsame Frankreich, LFI) bis hin zu einer Mehrheit bei der sozialdemokratischen früheren Regierungspartei Parti socialiste (PS) – wohl durchaus recht, wenn sie nun die Abschaffung des Gesetzes von 2017 fordern. Der für dessen Ausarbeitung zuständige damalige Innenminister Bernard Cazeneuve (PS) führte aus, auch das unter seiner Verantwortung verabschiedete Gesetz erlaube einen Schusswaffen­gebrauch nicht, wie er allem Anschein nach in Nanterre erfolgte. Doch spricht die Statistik dafür, dass Polizisten die Waffe nun eher einzusetzen: Die Häufigkeit von Schusswaffeneinsätzen mit tödlichem Ausgang hat sich gegenüber der Zeit vor der Gesetzesänderung verfünffacht.

Aufruhr und friedlicher Protest
Der Tod Merzouks führte zum einen zu Unruhen in vielen Trabantenstädten, auch sonst eher ruhigen wie Ivry-sur-Seine, ebenfalls in der Hauptstadtre­gion gelegen, zum anderen zu friedlichen Protestdemonstrationen. In Angers und Chambéry wurden Letztere von militanten faschistischen und »identitären« Gruppen attackiert, die sich zu Bürgerwehren aufzuschwingen versuchten.

Bei den Unruhen gingen mehr als 5.000 Fahrzeuge in Flammen auf, aber auch einige Bibliotheken. In Nanterre wurde das Mahnmal Mémorial des martyrs de la déportation et de la Résistance mit Parolen beschmiert. Bei einem Angriff auf das Haus des Bür­germeisters von L’Haÿ-les-Roses wurden dessen Ehefrau und eines seiner Kinder verletzt, die Täter könnten in diesem Fall allerdings aus dem Milieu der Drogenkriminalität stammen. Die Polizei meldete mehr als 3.300 Festnahmen.

Die bislang größte Protestaktion fand am 29. Juni in Nanterre statt, eine ­Demonstration mit einer fünfstelligen Zahl von Teilnehmenden. Dies war nur zwei Tage nach dem Tod von Nahel Merzouk, an einem Wochentag um 14 Uhr und mit nur eintägiger Mobilisierungszeit nach der Veröffentlichung des Aufrufs eine höchst beachtliche Zahl.

Beim Eintreffen an dem Ort in Nanterre, an dem die tödlichen Schüsse gefallen waren, warteten auf die Demonstrierenden bereits Polizeieinheiten, die kurz darauf zahlreiche Tränengasgranaten verschossen.

Junge muslimische Frauen, die sich mit Henna die Händen tiefrot bemalt hatten, blondbärtige Fußballfans mit Messi-T-Shirts und in Turnschuhen, ­algerische Großmütter mit babouches (Straßenpantoffeln), Linke sowie einzelne Politiker und Politikerinnen – in der Menge erkannte man die Abgeordneten Danièle Obono und Éric Coquerel (beide LFI) – kamen hier zusammen. Ein Motorradkorso, der parallel zu dem Protestmarsch fuhr, verbreitete einen stellenweise ohrenbetäubenden Lärm.

Als der Demonstrationszug an dem Ort eintraf, an dem die tödlichen Schüsse gefallen waren, warteten bereits Polizeieinheiten, die kurz darauf zahlreiche Tränengasgranaten verschossen. Zunächst sah es in den Wirren des Geschehens so aus, als lieferten sich ­Jugendliche aus den Banlieues hier spontane Auseinandersetzungen mit der Polizei. Ein später auf der Online-Plattform Info libertaire veröffentlichter Text lässt allerdings vermuten, dass es sich um eine vorbereitete Aktion von Autonomen gegen ein dort befind­liches Seitengebäude des Gerichts von Nanterre handelte. Einige der franzö­sischen Autonomen pflegen ein ausgesprochen unkritisches Verhältnis zum Protest-, aber auch Gewaltpotential in den Banlieues.

Die Polizei trieb daraufhin die Menge auseinander. Am Abend brannten in Nanterre Autos und eine Bankfiliale aus. Flammen loderten jedoch zu diesem Zeitpunkt bereits auch wieder in Dutzenden anderer Trabantenstädte.