Der anarchokapitalistische argentinische Präsidentschaftskandidaten Javier Milei ist populär

Ein Kandidat für das Desaster

Der rechtsextreme selbsterklärte Anarchokapitalist Javier Milei schnitt bei der Vorwahl in Argentinien am besten ab. Das verschärft die wirtschaftliche und politische Krise weiter.

Sollte wie vorgesehen am 10. Dezember ein neuer Präsident in Argentinien sein Amt antreten, wäre das ein historisches Datum: Genau 40 Jahre zuvor hatte Raúl Alfonsín als erster demokratisch gewählter Präsident nach dem Ende der Militärdiktatur das Amt übernommen. Zu feiern dürfte es allerdings wenig geben. Alles deutet darauf hin, dass sich die ökonomische Krise, die seit Jahren anhält und zu der sich eine politische gesellt hat, weiter verschärfen wird.

Die Inflationsrate belief sich im Juli auf 113,4 Prozent im Vergleich zum Vorjahresmonat, rund 43 Prozent der Bevölkerung leben unter der Armutsgrenze, eine Dürre hat die Agrarexporte einbrechen lassen und die Handlungsfähigkeit des Staats schwindet: Die Reserven der Zentralbank sind im laufenden Jahr drastisch gesunken, so dass der Wertverlust des Argentinischen Peso – und damit ein weiterer Anstieg der Preise – kaum noch abgebremst werden kann.

Im Juli hatte Wirtschaftsminister Sergio Massa vom peronistischen Partido Justicialista (PJ) daher erneut mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) verhandelt. Argentinien steht bei der Organisation in der Schuld, seit Mauricio Macri, Präsident von 2015 bis 2019, im Jahr 2018 ein Abkommen über Kredite in Höhe von 57 Milliarden US-Dollar abgeschlossen hat. Davon wurden bislang zwar nur 44 Milliarden in Anspruch genommen, doch diese belasten die Zahlungsbilanz des südamerikanischen Staats, der die Zahlungsfristen nicht einhalten konnte, weil der erhoffte wirtschaftliche Aufschwung ausgeblieben ist.

Seit der Vorwahl haben die sozialen Spannungen zugenommen. Plünderungen häufen sich – Bilder, die Erinnerungen an den Staatsbankrott 2001 wecken.

Im Austausch für einen Zahlungsaufschub hat sich das Land unter dem derzeit regierenden Präsidenten Alberto Fernández (PJ) in einem neuen Abkommen, das die Regierung an den Rand des Zerbrechens gebracht hatte, 2022 zu Sparmaßnahmen verpflichtet. Die argentinische Staatskasse ist so schlecht gefüllt, dass sich Massa im Juni genötigt sah, Schulden bei Katar und China aufzunehmen, unter anderem um Zinsverpflichtungen an den IWF nachzukommen.

Für Massa ist die Frage der Inflation und der Währungsstabilität auch eine des politischen Überlebens. Der Rechts­peronist ist Kandidat der regierenden Parteienallianz Unión por la Patria (Union für das Vaterland, bis Juni 2023 Frente de Todos, Front aller), die maßgeblich vom peronistischen PJ getragen wird, für die Präsidentschaftswahl im Oktober. Nachdem Präsident Fernández im Machtkampf mit Vizepräsidentin Cristina Fernández de Kirchner unterlegen war, diese aber aufgrund einer (noch nicht rechtskräftigen) Verurteilung wegen Korruption auf eine Kandidatur verzichtet hatte, war Massa als letzte starke Führungsperson übriggeblieben. Massa hat schon lange Ambitionen auf das Präsidentenamt, galt jedoch als Gegner Kirchners und war zur Zeit ihrer Regierung 2007 bis 2015 in der Opposition – wobei er im Wahlkampf tönte, sie hinter Gitter bringen zu wollen.

Seine Integration in die geeinte peronistische Allianz 2019 war ein Coup von Kirchner und Fernández. Doch während sich der kirchneristische Flügel der Peronisten stets damit gebrüstet hatte, die Zusammenarbeit mit dem IWF 2004 unter Präsident Néstor Kirchner beendet zu haben, galt Massa als dem Finanzsektor freundlich gesinnt und als »Kandidat der Botschaft« – womit freilich die der Vereinigten Staaten gemeint war. Seine Ernennung zum Wirtschaftsminister im vergangenen Jahr sollte auch ein Zeichen der Verlässlichkeit in Richtung Washington, D.C., sein, wo sowohl der IWF als auch die US-Regierung ihren Sitz haben.

Deshalb mussten viele linke Peronisten eine Kröte schlucken, als ihre Anführerin Cristina Kirchner, die Witwe Néstors, die Losung ausgab, Massa zum Kandidaten der gesamten Allianz zu machen. Widerstand regte sich kaum, so dass Massa bei der Vorwahl am 13. August problemlos über den Gegenkandidaten Juan Grabois siegte. An den offenen, obligatorischen Vorwahlen nehmen nicht nur Parteianhänger und -sympathisanten teil, sondern alle Wahlberechtigten sind zur Teilnahme verpflichtet; auch die Kandidaten für die beiden Parlamentskammern wurden auf diese Weise bestimmt. Die Vorwahlen funktionieren also wie eine Art Generalprobe für die Wahlen im Oktober.

Die beiden Bewerber für die Präsidentschaftskandidatur von Unión por la Patria vereinigten lediglich 27 Prozent auf sich, womit das Bündnis auf dem dritten Platz gelandet ist. Auf dem zweiten landete das konservativ-neoliberale Oppositionsbündnis Juntos por el Cambio (Gemeinsam für den Wechsel), wobei sich die Hardlinerin Patricia Bullrich gegen ihren Konkurrenten Horacio Rodríguez Larreta, den Bürgermeister der Autonomen Stadt Buenos Aires, durchsetzte. Bullrich war Sicherheitsministerin im Kabinett Macris gewesen.

Javier Milei, der Außenseiter, der sich als Anti-System-Kandidat präsentiert, holte gut 30 Prozent der Stimmen.

Doch der unerwartete Sieger der Präsidentschaftsvorwahl war Javier Milei. Entgegen allen Umfragen holte der Außenseiter, der sich als Anti-System-Kandidat präsentiert, gut 30 Prozent der Stimmen. Milei und seine Partei La Libertad Avanza (Die Freiheit schreitet voran) bezeichnen sich als anarchokapitalistisch und werden häufig als ultra­liberal bezeichnet; dabei kombiniert der Ökonom ein Programm der drastischen Schrumpfung des Staats mit reaktionären gesellschaftspolitischen ­Inhalten. Er wirbt mit dem Versprechen, reihenweise Ministerien und die Zentralbank zu schließen, die argentinische Wirtschaft zu dollarisieren (ein Prozess, der aufgrund der Schwäche des Peso ohnehin seit Jahrzehnten voranschreitet), die Waffengesetze zu liberalisieren und das öffentliche Bildungs- und Gesundheitswesen abzuschaffen beziehungsweise kostenpflichtig zu machen; den Klimawandel hält er für eine Lüge.

Seine Forderung, den Organhandel zu erlauben, begründet er mit dem Argument, jeder könne mit seinem Körper anstellen, was er wolle. Paradoxerweise kämpft er gleichzeitig gegen das Recht auf Abtreibung. Außerdem hetzt er gegen den Feminismus und Fortschritte im Bereich LGBT-Rechte. Das alles garniert er mit einem Mantra der Freiheit. »Wir lieben die Freiheit, wir atmen Freiheit und wir sind bereit, unser Leben für die Freiheit zu geben«, deklamiert er in einem Tiktok-Video. Milei, der kein herausragender Redner ist, weiß die sozialen Medien gezielt für sich zu nutzen.

Dabei inszeniert er sich als Provokateur; so manche Kritiker halten ihn schlicht für einen Spinner. Während er seine politischen Gegner mit derben Beleidigungen bedenkt – so spricht er in Hinblick auf die etablierten Parteien stets von »der Kaste«, die er auch mal als »Rattennest« bezeichnet –, verbreitet er auch die Behauptung, ausgebildeter Tantralehrer zu sein. Wegen seines erratischen, ausfallenden Stils und seines Auftretens mit Lederjacke und verwuscheltem Haar (ihn frisiere die »unsichtbare Hand«, gab er einst zu Protokoll) wurde er lange kaum ernst genommen, insbesondere von seinen direkten Konkurrenten von der traditionellen Rechten. Doch bei vielen jungen, frustrierten Argentiniern, die kaum ­etwas anderes kennen als die Wirtschaftskrise, kommt er gut an; in der Vorwahl gewann er viele Stimmen in Wohnorten der unteren Mittelschicht oder armen Vierteln – den traditionellen Hochburgen des Peronismus.

Außer seinen Wählern scheint kaum jemand an die Pläne Mileis zu glauben, vor allem nicht die Finanzmärkte, von deren Reaktion die argentinische Wirtschaft so stark abhängt: Am Tag nach Mileis Wahlsieg verlor der Peso um 18 Prozent an Wert, die Zentralbank erhöhte den Leitzins um 21 Prozentpunkte auf 118 Prozent – einen sprunghaften Anstieg der Inflation konnte das nicht verhindern.

Zugleich haben die sozialen Spannungen in den Wochen seit der Wahl zugenommen. Zu der Kriminalität, die seit Jahren in allen Wahlkämpfen eine Rolle spielt, kommen nun zahlreiche Plünderungen – Bilder, die Erinnerungen an den Staatsbankrott 2001 wecken. Das so verstärkte Unsicherheitsgefühl dürfte den Rechten in die Hände spielen, zeigt es doch die fortschreitenden Verfallstendenzen der argentinischen Gesellschaft.

Klar ist, dass es in Argentinien nach vier Jahren Peronismus und noch mehr Jahren der Krise eine rechte Mehrheit gibt.

Sollte sich das Ergebnis der Vorwahlen bei den Wahlen im Oktober wiederholen, wäre das eine Niederlage historischen Ausmaßes für die Peronisten – sie würden es nicht in die Stichwahl schaffen. Zu dieser kommt es, wenn keiner der Kandidaten im ersten Durchgang 45 Prozent der Stimmen oder 40 Prozent mit zehn Prozentpunkten Abstand zum Zweitplatzierten erhält. Zwar gab sich Milei nach seinem Sieg bei den Vorwahlen bereits sicher, er könne »die Kaste« bereits in der ersten Runde schlagen, doch der Ausgang ist völlig offen. Denn die größte Gruppe bei den Vorwahlen waren die Nichtwähler: Gut 31 Prozent der Wahlberechtigten haben gegen die Wahlpflicht verstoßen.

Es gibt für alle Lager also noch viele Stimmen zu gewinnen. Der Regierung könnte dabei in die Hände spielen, dass Bullrich und Milei letztlich um dieselbe Gruppe buhlen: Antiperonisten, (Wirtschafts-)Liberale, Rechtsextreme und die große Menge Frustrierter. ­Außerdem könnten von den Wählern Rodríguez Larretas mehr zu Massa tendieren als zu Bullrich. Andererseits ist jedoch fraglich, ob Kirchners Aufruf tatsächlich ausreicht, um die linken Peronisten zur Wahl ihres einstigen Gegners Massa zu veranlassen.

Klar ist jedoch, dass es in Argentinien nach vier Jahren Peronismus und noch mehr Jahren der Krise eine rechte Mehrheit gibt. Sollte Massa es also in die Stichwahl schaffen, dürfte er große Schwierigkeiten haben. Heißt sein Gegner Milei, könnte er von einer Art anti­faschistischer Räson profitieren, ähnlich der, die Emmanuel Macron in Frankreich zweimal in Stichwahlen gegen die rechtsextreme Marine Le Pen gewinnen ließ. Denn auch viele, die mit der Regierung unzufrieden sind, wollen 40 Jahre nach dem Ende der Diktatur den Staat nicht einem Zertrümmerer wie Milei ausliefern.

Etwa eineinhalb Wochen nach den Vorwahlen verkündete der IWF, eine weitere Tranche in Höhe von 7,5 Milliarden US-Dollar auszuzahlen; das stärkt Massa vorläufig den Rücken. Über die nicht den Absprachen genügende Senkung des Haushaltsdefizits sehe man aufgrund einer »präzedenzlosen Dürre und politischer Entgleisungen« hinweg. Das Geld soll die Staatsfinanzen bis Ende November stabilisieren – dann steht fest, wer am 10. Dezember in der Casa Rosada, dem Präsidentenpalast, seine vierjährige Amtszeit ­antritt.