Olaf Knellessen, Heini Bader und Fabian Ludwig, Betreiber des Psychoanalyse-Podcasts »Traumstation«, im Gespräch

»Der Traum ist ein Zugang zur eigenen und zur Welt überhaupt«

Mit der Traumdeutung fing alles an: Keine Psychoanalyse ohne die Analyse des »Hüter des Schlafes«, wie Sigmund Freud ihn nannte. Das schweizerische Projekt »Traumstation«, das dazu einen Podcast macht, widmet sich der Deutung anonym eingesandter Träume. Die Psychoanalytiker Olaf Knellessen und Heini Bader und der Psychiater Fabian Ludwig erzählen im Interview mit der »Jungle World« über schnell entstehende Intimität und davon, wie andere Analytiker auf das Projekt reagieren.

Einen Traum, nach Freud der »Hüter des Schlafes«, behält der Träumerin der Regel für sich. Für Ihr Projekt »Traumstation« können Träume eingereicht und, wenn gewünscht, im zugehörigen Podcast gedeutet werden. Worum geht es dabei und wie kann man sich diese Arbeit vorstellen?
Olaf Knellessen: Selbst wenn man einen Traum niemandem erzählt, wird man trotzdem immer wieder von ihm heimgesucht, in Stimmungen versetzt. Deswegen kann es passieren, dass einem der Traum oder Teile davon in einer bestimmten Situation wieder einfallen. Der Traum geht in unser Erleben des Tages mit ein, durch Gedanken, Stimmungen, Wünsche, die beeinflussen, was wir tun und wie wir es tun. Letztlich glaube ich sogar, dass sehr viel von der Welt, in der wir leben, von den Dingen, die uns umgeben, auch Produkte sind, die vom Traumgeschehen beeinflusst werden. Der Traum bleibt nicht bei sich, mal ganz abgesehen davon, dass man ihn ja auch nicht so selten erzählt, am Frühstückstisch und natürlich auch beim Analytiker.
Wir wollen den Traum nicht nur in der Praxis aufnehmen, sondern ihn auch draußen aufgreifen. Das ist die Idee der Traumstation. Wir haben zu Beginn Boxen aufgestellt an verschiedenen Orten: Hotels, Restaurants, Kulturorten, Bibliotheken. Man konnte seinen Traum und die Adresse einwerfen und wir schickten eine Deutung zurück. Wir haben eine telefonische Hotline erstellt, bei der man Träume auf Band sprechen oder sich anhören konnte. Wir haben auch eine E-Mail-Adresse und eine mobile Traumstation eingerichtet, eine Velo-Rikscha, mit der wir dann in Zürich herumgefahren sind und Leute auf Straßen und Plätze eingeladen haben, Träume zu erzählen.

Wie reagieren Menschen darauf?
Fabian Ludwig: Es gibt am Anfang Hemmungen, einen Traum zu erzählen, aber die sind schnell durchbrochen. Es entsteht schnell eine Art von Intimität, wenn jemand einen Traum erzählt und wenn man versucht, diesen zusammen mit der Person zu deuten – auch im öffentlichen Raum. Wir hatten sogar eine Couch mit Sessel auf einem Platz stehen. Es hat sich wie von selbst eine Traube an Menschen drumherum gebildet. Wenn der Sitzplatz nicht von uns besetzt war, haben sich Besucherinnen und Besucher auf den Stuhl des Analytikers, den deutenden Stuhl gesetzt.

O. K.: Das ist ein wunderbares Modell für die psychoanalytische Ausbildung. So kann das doch funktionieren: Du setzt dich einfach hin und fängst damit an. Die angesprochene Intimität hat mir auch nochmal klar gemacht, dass wir Psychoanalytiker immer besonders stolz auf die in unserem Setting angebotene Intimität sind. Gleichzeitig sollte man dabei nicht vergessen, dass Intimität etwas ist, das hergestellt wird, und zwar in dem Moment, in dem du etwas Intimes erzählst, zum Beispiel einen Traum. Das muss nicht in der Analysepraxis sein.

F. L.: Vielleicht noch zu Freud, dem Traum als »Hüter des Schlafes« und dem sogenannten Königsweg zum Unbewussten über die Traumdeutung. Das sind geläufige, aber widersprüchliche Definitionen. Wenn der Traum die Funktion eines Hüters des Schlafs perfekt ausführen würde, könnte man sich nicht an ihn erinnern. Jeder Traum, der übergreift ins Wachleben, ist schon schiefgegangen und gewinnt zugleich eine andere Funktion. Er gewährt uns Einblick in das, was da aufsteigt und sich auf das Wachleben überträgt.

Traumstation 2
Bild:
Stephanie Schoell

Ihr Verein und Projekt sitzen in Zürich. Von dort aus hat Fritz Morgenthalers Traumtheorie Einfluss auf den psychoanalytischen Umgang mit Träumen genommen. Reimut Reiche zum Beispiel hat in Deutschland Traumseminare mit Psychoanalytikern in dieser Tradition fortgesetzt: Man erhält keinerlei Informationen über den Analysanden, von dem der Traum stammt, der Traum wird nur erzählt und hierzu assoziiert. Sehen Sie sich mit der Traumstation in dieser Tradition?
Heini Bader:
Seine eigene Arbeit als Fortsetzung derjenigen Morgenthalers zu verstehen, wäre ein bisschen hoch angesetzt. Morgenthaler ist in Zürich präsenter als an anderen Orten, er ist eine Referenz für uns alle. Den Anspruch einer Weiterführung seiner Arbeit würde ich mir nicht zumuten, aber ihn im Hinterkopf zu haben, sicherlich.

O. K.: Dieser Anspruch ist zu hoch, ja. Aber in gewisser Weise passiert bei uns etwas, das mit Morgenthalers Traumtheorie zu tun hat. Morgenthaler hebt sehr stark auf die formalen Elemente im Traum ab, also weniger auf die Inhalte, sondern er geht den Traum von den formalen Assoziationen und Verknüpfungen her an. Diesen Aspekt greifen wir auf und können auch gar nicht anders. Wir bekommen Träume zugeschickt von Träumern, über die wir in der Regel gar nichts wissen.
In Analysen ist es üblich, dass man am Ende der Traumerzählung die Träumerin fragt, was ihr dazu einfällt. Das hat seine Berechtigung. Morgenthaler hat demgegenüber eine sehr pointierte Position eingenommen: Das sei auch Ausdruck ­einer Abwehr, man will mit dem Traum nichts zu tun haben und gibt ihn zurück an den Träumer, weil man sonst vom Traum gepackt und affiziert wird. In Morgenthalers Traumgruppen wurde zu Träumen assoziiert, und wir greifen das auf.
Wir gehen zugleich einen Schritt weiter und nehmen das Mediale mit rein. Der Traum ist ein mediales Ereignis. Beispielsweise gehört die Anonymität zur E-Mail, die das Medium der Kontaktaufnahme zur Traumstation ist. Man weiß nie so ganz, woher was kommt, und auch das gehört zum Traum. Der Traum kommt nicht nur von dem, der träumt, sondern immer auch von irgendwo anders her. Hier sind wir beim Medium. Freud hat nicht von ungefähr das Bild vom Telefon für die Übertragung des Unbewussten gebraucht.

Ein erzählter, geschriebener, auditiv dargelegter und schließlich von mehreren Menschen gedeuteter Traum ist auf mehrfache Weise entstellt. Dennoch wäre der psychoanalytische Anspruch, wie es Reimut Reiche im Anschluss an Morgenthaler einmal festhält, eine »objektive Sinnstruktur des Traums als Ausdrucksgestalt« auszumachen. Dem Alltagsverstand und psychoanalytischen Laien mag das absurd anmuten. Wie darf man es sich vorstellen, dass eine Gruppe deutender Analytiker wie Sie auf eine Sinnstruktur im Traum einer ihnen unbekannten Person stößt?
F. L.:
Der Traum selbst ist ja auch schon eine Entstellung. So wie von Ihnen geschildert, klingt es, als gäbe es ein Original, was dann mit jeder Entstellung verfremdet wird. So verhält es sich nicht mit dem Traum. Es gibt kein Original, zu dem man Zugriff haben könnte. Ich glaube, das Wesentliche bleibt auch in unterschiedlichen Medien erhalten.

H. B.: Es gibt schließlich auch Entstellungen bis zur Kenntlichkeit.

O. K.: Das ist etwas ganz Zentrales und Generelles in der Psychoanalyse: dass man die Dinge immer von einem Ort zu einem anderen bringt und in andere Kontexte stellt, so wie man Assoziationen auseinandernimmt und wieder neu verknüpft. Man betrachtet Phänomene aus neuer Perspektive und der Traum führt uns letztlich genau dies vor. Hier berühren wir das psychoanalytische Prinzip der Übertragung: Die Dinge werden von hier dorthin gebracht, sie werden im Traum nicht nur erzählt, sie werden als Bild, als Gefühl des Fliegens, als Geschmack, Geruch, Sinneseindrücke, in anderen Perspektiven und medialen Kontexten dargestellt und übertragen.

 »Jeder Traum, der übergreift ins Wachleben, ist schon schiefgegangen und gewinnt zugleich eine Funktion. Er gewährt uns Einblick in das, was da aufsteigt und sich auf das Wachleben überträgt.« Fabian Ludwig

Die Bewegungen des Traums, von denen alle in der Deutung erfasst werden, sind wichtig. Sie streuen nicht völlig willkürlich. Sie haben sozusagen einen Rahmen, eine Cloud. Im Traum ist so viel verdichtet und das manifestiert sich bei jedem, der deutet, anders, es übertragt und manifestiert sich – das ist auch ein Überschuss. Man könnte sagen, die Träume objektivieren sich auf unterschiedliche Weise.

Das leuchtet mir ein. Sie sprechen viel mehr von Bewegungen als von Inhalten, die bedeutsam werden. Vorgestern habe ich von Ihrem Podcast den Traum 139 mit dem Titel »Arbeit ohne Ende« angehört: den wunderbaren Traum einer Frau, die in der Nacht, bevor ihre Mutter ins Altersheim kommt, von einem Keller, Wäsche und zerreißenden Stoffen träumt. Bei einem von Ihnen entsteht das Gefühl eines traurigen Traums, für die anderen steckt etwas Optimistisches darin. Sicherlich übertragen sich hier die Gefühlslage und die Anteile der Träumerin auf Sie und auch Ihre Zuhörer.
F. L.:
Das ist erneut ein Punkt von Morgenthaler, nämlich die Sukzession in Bezug auf den Traum. Es geht um die Abfolge entscheidender Momente im Traum, die Bewegungen ergeben, weil sie Nähe oder Abstand zu etwas herstellen.

Traumstation 3
Bild:
Stephanie Schoell

Wenn man sich so viel mit Träumen beschäftigt: Was macht das denn, wenn man so sagen will, mit dem Verhältnis des Traums zur Wirklichkeit? Wie lebt man, wenn man derart in den Träumen unterwegs ist?
F. L.:
In den Therapien sind Träume mehr Teil des Gesprächs geworden. Der Traum kommt rein, man sagt etwas dazu, aber es ist nicht mehr ganz so fremd, sondern Teil der momentanen Bewegung in der Therapie.

O. K.: Der Traum ist eine Art Zugang zur eigenen und zur Welt überhaupt. Mit Freud gesprochen, wird durch den Traum etwas primärprozesshaft akzentuiert, was im ganzen Gespräch ohnehin mit drin ist. Je länger ich mich mit dem Traum beschäftigt habe, umso deutlicher ist mir geworden, dass der Traum nicht etwas ganz anderes, sondern ohnehin immer präsent ist. Zu Beginn der Traumstation passierte mir Folgendes: Ich bin in einem Restaurant gesessen, schaute mich um und sah plötzlich, wie die Säulen des Raums zu bröckeln begannen. Ich habe aber nicht dissoziiert, war nicht in einem psychotischen Zustand. Ganz im Gegenteil, ich fand es faszinierend: In einer ganz normalen Situation beginnt sich plötzlich die Szenerie zu verändern. So was sind Highlights. Wie in den Analysestunden, wenn auf einmal etwas von diesem Anderen erlebbar wird. Ein Traum präsentiert dies auf pointierte Art und Weise und bringt es zur Darstellung.

H. B.: Ich bin ein Analytiker, der sich eher ein bisschen vor Träumen gefürchtet hat. Die via regia zum Unbewussten! Mich hat das eingeschüchtert. Mir fällt nun mit der Zeit mit der Traumstation auf, dass das zurückgegangen ist, auch in der Praxis. Ich höre mehr Träume, also offensichtlich bin ich offener für sie geworden.

Es geht also auch darum, sich in den Traum hineinziehen zu lassen.
F. L.: Man fühlt sich bei der Traumstation auch nicht unbedingt als Experte in dem Sinne, dass man über ein besonderes Wissen verfügt. Es geht mit der Zeit besser, die anonymen Träume zu deuten, weil man einfach losschreibt, wenn man den Traum gelesen hat. Nicht, weil man zwingend auf etwas Kluges zurückgreifen kann, das man in der Ausbildung gelernt hat. Man spricht aus, was kommt, und setzt es zusammen.

Wenngleich Ihnen von den Zu­hörern Können und Wissen unterstellt werden. Einerseits ist die Traumstation modern und hyperreal, eben ein Podcast. Andererseits wirkt die Traumstation old school, weil man wie vor Tau­senden Jahren den Traum zum Traumdeuter bringt.
O. K.:
Lacan drückt das mit »sujet supposé savoir« aus und das unterstellte Wissen spielt natürlich eine große Rolle. In den Träumen, die uns auf diese Art erreichen, ist die Übertragung häufig deutlicher bemerkbar. Wir nehmen die Äußerungen in den Vorbemerkungen zu den ein­gesendeten Träumen mit in die Deutung auf. Man sieht es zwar nicht auf den ersten Blick, aber in der Kontaktaufnahme ist das Andere, das im Traum spricht, bereits enthalten. Wir versuchen, die von Ihnen angesprochene altmodische Verbeugung vor den Traumdeutern immer wieder mit aufzunehmen. Das ist mit Übertragung gemeint und wieder sind wir im Bereich des Medialen.

»Es besteht bei Kollegen ein Interesse an dem, was wir in der ›Traumstation‹ tun, nicht ohne ein ungläubiges Staunen, dass man so was Verrücktes überhaupt machen kann.« Heini Bader

F. L.: Es hat natürlich auch etwas Spielerisches, man zeigt etwas Intimes. Die Träumer sind neugierig und gespannt, worauf die Analytiker kommen. Ich habe auch selbst schon anonym einen Traum eingereicht, nur um zu schauen, worauf die Kollegen stoßen.

Im Laufe der Geschichte der Traum­station hat sich institutionell ­etwas verändert: Zunächst vom Psychoanalytischen Seminar ­Zürich (PSZ) ausgegangen, ist das Projekt nun beim Verein The Missing Link angesiedelt. Gab es Ärger um die Traumstation? Und wie reagieren die Kollegen auf das Projekt?
F. L.:
Die Traumstation war nicht Auslöser dieser Trennung.

O. K.: Oder nur indirekt. Es gibt gewisse Unterschiede, an die Dinge ranzugehen, vor allem in Fragen der Weiterbildung. Von Analytikerseite bekommen wir jedenfalls keine ­direkte Rückmeldung auf unsere Arbeit. Manche äußern Bedenken, aber offene Konflikte bestehen nicht. Dass man das nicht machen könne, wird manchmal angedeutet. Da können wir nur antworten: Wir können es machen und ganz offensichtlich geht es auch. Zugleich gibt es nicht nur Vorbehalte, sondern umgekehrt auch eine Faszination.

H. B.: Es besteht bei Kollegen ein Interesse an dem, was wir in der Traum­station tun, nicht ohne ein ungläubiges Staunen, dass man so was Verrücktes überhaupt machen kann.

Traumstation 4
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Stephanie Schoell

Sie sind ja nicht nur Menschen, die in der Traumstation Träume deuten, sondern auch Analytiker mit Patienten, die Ihnen im Podcast zuhören können. Besteht da nicht ein gewisses Konfliktpotential?
O. K.:
In den Behandlungen, in denen die Traumstation auftaucht, nimmt man es schlicht mit auf. Natürlich kann es Konflikte geben, das ist doch gut. Denn Konflikte sind das, worum es in der Psychoanalyse geht. Das Interessante sind die Konflikte und nicht das, wo es geradeaus läuft.

F. L.: Konflikte gab es am ehesten innerhalb unserer Gruppe. Es bestanden Bedenken, dass wir als eine Art Autorität aufgefasst werden und ein »So ist es!« bezüglich des Traums aufstellen – und so die Rolle einer allwissenden Instanz einnehmen würden.

O. K.: Nicht nur das. Auch am angeblichen »Vor-sich-hin-Assoziieren« wurde in unserer Gruppe Anstoß genommen. Die Deutungen und Assoziationen gelten dann als Ausdruck unserer Phantasien, die mit den Träumern und deren psychischer Struktur herzlich wenig zu tun hätten.

F. L.: Ich finde, wenn du etwas siehst in einem berichteten Traum, dann musst du es auch sagen. Das ist, was interessiert, wenn jemand einen Traum einschickt.

O. K.: Es geht nicht um die Traumdeutung. Die haben wir auch nicht. Das wird auch dadurch unterstrichen, dass wir zu dritt oder viert deuten. Die unterschiedlichen Perspektiven treten immer hervor. Am Schluss von Reiches Traumseminaren zum Beispiel konnte man noch etwas vom Patienten erfahren. Das ist zwar spannend, aber wenn ich ehrlich bin, interessiert es mich gar nicht so furchtbar. Es geht nicht darum, ob etwas stimmt oder nicht stimmt. Das ist ein vollkommen irreführender Versuch einer Verifikation. So ist es auch nicht bei der Übertragung: Wenn einer von seinem Vater erzählt, muss ich diesen Vater auch nicht sehen, um zu überprüfen, ob er wirklich so streng wie beschrieben ist. Die Übertragung verfälscht kein Bild. Es ist die Übertragung, die etwas anderes macht.

Der Podcast »Traumstation« kann bei allen gängigen Plattformen gestreamt werden.