Ahmet Insel, türkischer Ökonom, im Gespräch über den Erdoğanismus

»Immer heftiger werdender reaktionärer Kulturkampf«

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat seinem Amt ­umfassende Befugnisse gesichert, seine Regierung unterliegt keiner parlamentarischen Kontrolle. Ein Gespräch mit Wirtschafts­wissenschaftler Ahmet Insel über den Erdoğanismus und das Fundament seiner Autorität.
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Was ist der Erdoğanismus, hat er eine Besonderheit?
Erdoğanismus ist ein Begriff, der den Namen des Menschen, der im Zentrum des Ein-Mann-Regimes steht und von seiner Herausbildung profitiert, besonders hervorhebt. Wie wir mit Putinismus auf die Besonderheit hinweisen wollen, dass Russlands Präsident Wladimir Putin im Zentrum eines Systems steht, ja, das ganze politische System beherrscht, so wollen wir mit Erdoğanis­mus auf das Gleiche hinweisen.
Es ist ein wichtiges Merkmal, dass es eine persönliche Form der Regierung, eine persönliche Art des Regierens ist, in deren Mittelpunkt der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan steht. Es ist ein zentralisiertes und sehr ­personalisiertes System der politischen Entscheidungsfindung, bei dem Erdoğan die Exekutive, die Legislative und auch die Justiz, genauso wie in großem Umfang die Medien und wichtige große Firmen, direkt oder indirekt kontrolliert und leitet. Konkretisiert wurde dies mit dem System der Präsidialregierung, das im April 2017 durch ein Referendum angenommen wurde. Dieses Regierungssystem ist komplett auf Erdoğan zugeschnitten.

Gibt es einen Bereich der Wirtschaft, der ihn besonders unterstützt?
Unbedingt gibt es den. Es gibt ein großes ökonomisches Umfeld, das von der Erteilung von staatlichen Genehmigungen, von öffentlichen Investitionen, von den ganzen öffentlichen Aufträgen profitiert. In der Türkei sagen wir dazu »unzertrennliche Freunde«, mit einem international üblichen Ausdruck würde man »Klientelsystem« sagen. Das sieht man insbesondere im Bausektor und bei der öffent­lichen Infrastruktur. Fünf bis zehn große Baufirmen, große Holdings, bekommen bei allen großen öffentlichen Ausschreibungen fast immer den ­Zuschlag.

»Derzeit ist eines der größten Probleme der Türkei, dass Lizenzen für die Suche nach Bodenschätzen für Waldgebiete vergeben und die Wälder dann abgeholzt werden. Das Gleiche gilt für die Wassernutzung. Das alles geschieht im Namen der Ideologie einer fortschreitenden Entwicklung.«

Außerdem geben die Rathäuser, die von Erdoğans AKP (Adalet ve Kalkınma Partisi, Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung, Anm. d. Red.) geleitet werden, kleinere Aufträge an Mitglieder der Partei oder an deren Verwandte. Das bringt natürlich eine große Gruppe von Profiteuren hervor. Das Klientelsystem ist ganz augenfällig. Zudem gibt es auch Nepotismus, das heißt, dass auf staatliche Posten politisch genehme Personen oder Menschen mit verwandtschaftlichen Beziehungen kommen. Erdoğan fördert es, dass Menschen nicht aufgrund ihres Wissens und ihrer Kompetenz, sondern aufgrund ihrer politischen oder verwandtschaftlichen Beziehungen berufen werden.

Braucht ein solches System nicht eine ideologische Tarnung?
Die Ideologie des Regimes ruht auf drei Säulen. Zum einen ist da kalkınmacı, das heißt: die fortschreitende Entwicklung. Dauernd wird ­Wirtschaftswachstum als Ziel genannt. Aber es ist eine überholte Form von Wachstum gemeint, die durch die Zerstörung und Ausbeutung der Natur ­erreicht wird, durch die Verschwendung öffentlicher Gelder für nutzlose Großprojekte und durch die Bau­industrie. Das ist kein ökonomisches Wachstum, wie es in der vor uns liegenden Epoche wahrscheinlich stattfinden wird, sondern eine sehr alt­modische Kapitalakkumulation. Es ist eine Wirtschaftspolitik, wie sie zum Wiederaufbau ab 1945 direkt nach dem Zweiten Weltkrieg angewandt wurde. Aber diese fortschreitende Entwicklung wird vor allem durch eine übermäßige Ausbeutung der Natur erreicht.

Wie zeigt sich das in der Türkei?
Derzeit ist eines der größten Probleme der Türkei, dass Lizenzen für die Suche nach Bodenschätzen für Waldgebiete vergeben und die Wälder dann abgeholzt werden. Das Gleiche gilt für die Wassernutzung. Das alles geschieht im Namen der Ideologie einer fortschreitenden Entwicklung. Andererseits wurden unter Erdoğan im Rahmen der Politik des Neoliberalismus öffentliche Einnahmequellen, Produktion und Dienstleistungen, zum großen Teil privatisiert.
Es ist eine zerstörerische Entwicklungspolitik. Es wird nicht versucht, Fortschritt zu erreichen, etwa durch technologische Entwicklung, durch Steigerung der Arbeitsproduktivität, indem man die Arbeitskräfte besser ausbildet, das Bildungsniveau erhöht, sondern indem man die Natur und die öffentlichen Finanzquellen rasch ­aufbraucht.

Wodurch zeichnet sich Erdoğans Regime noch aus?
Die zweite Säule ist eine neoliberale Ideologie, die in der politischen Praxis den Verarmten vordergründig freundliche Hilfe leistet durch staatliche ­Almosen. Das heißt, sie macht die Bevölkerung ärmer, dann hilft sie ihr ­finanziell und erzeugt so eine Kultur der Loyalität und macht die Menschen abhängig.

»Moderne Musik, insbesondere Popmusik, wird als degeneriert und kosmopolitisch diffamiert.«

Und die dritte Säule?
Das ist der Konservativismus auf kulturellem Gebiet. Die große Mehrheit der Türken sind sunnitische Muslime. Daher zeigt sich der Konservatismus als sunnitisch-muslimischer, türkischer Nationalismus. Parallel führen Erdoğan, die AKP und die Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) – die rechtsextreme Bewegung, die mit Erdoğan in der Regierung zusammenarbeitet – einen kulturellen Kampf, ­einen Krieg um die kulturelle Hegemonie. Sie bemühen sich, beim Lehrplan der Schulen, bei den Programmen der Universitäten, bei der Leitung der Univer­sitäten und in den Medien eine konservative, sunnitisch-islamische und nationalistische Gegenkultur zur Kultur der modernen Türkei hervorzubringen. Es ist ein immer heftiger werdender reaktionärer Kulturkampf, der sich immer stärker auf eine nationalistische, sunnitisch-islamische Ideologie stützt und angefangen hat, auch Verbote zu verhängen.

Welche Verbote meinen Sie?
Im vorigen Jahr haben die Gouverneure und Bürgermeister begonnen, ­Musikveranstaltungen und große Musikfestivals zu verbieten. Verstöße ­gegen sittliche Normen, Terrorgefahr oder die Notwendigkeit, Jugendliche vor Alkoholkonsum zu schützen, werden als Gründe angeführt. Insbesondere Veranstaltungen, bei denen Künst­ler:innen auftreten, die eine oppositionelle Haltung haben, werden ver­boten. Außerdem wird moderne Musik, insbesondere Popmusik, als degeneriert und kosmopolitisch diffamiert.

Wie äußert sich das noch?
Das Präsidium für Religionsangelegenheiten, Diyanet İşleri Başkanlığı, mischt sich immer mehr ein, insbesondere was den Schulunterricht betrifft. In einem Pilotprojekt in İzmir und Eskişehir werden an Gymnasien Lehrer von Predigerschulen, Prediger und andere religiöse Experten entsandt, um, wie es heißt, nationale, geistige und sittliche Werte zu vermitteln. Erdoğan hat bereits im Jahr 2012 gesagt, dass er eine »fromme Generation« heranziehen möchte.

Vieles erinnert da an Länder wie Iran, Russland, China.
Ja, wir nennen das Nationalkapitalismus. Also nicht Nationalsozialismus, sondern autoritären Nationalkapitalismus.

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Ahmet Insel

Ahmet Insel

Bild:
wikimedia / G.Garitan

Ahmet Insel ist ein türkischer Wirtschafts- und Politikwissenschaftler, Verleger, Journalist sowie emeritierter Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Universität von ­Galatasaray. Von 1990 bis 1994 war er Dekan, danach bis 1999 Vizepräsident an der Universität Paris 1 Panthéon-Sorbonne. Im Dezember 2008 begann er mit anderen Intellektuellen eine Kampagne, bei der sich ­türkische Privatpersonen öffentlich für den Völkermord an den Armeniern durch die Türkei während des Ersten Weltkriegs entschuldigten. Er war auch an einem Aufruf gegen das gewaltsame Vorgehen der Türkei gegen Kurden beteiligt. Zuletzt ist von ihm und Pierre-Yves Hénin 2021 das Buch »Le national-capitalisme-autoritaire: une menace pour la démocratie« (Der autoritäre Nationalkapitalismus: eine Bedrohung für die Demo­kratie) erschienen.