Der türkische Präsident gibt sich neuerdings der EU zugewandt

Erdoğan zeigt sich versöhnlich

Neuerdings zeigt sich der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan, dem eine anhaltende Wirtschaftskrise zu schaffen macht, außenpolitisch auffällig versöhnlich.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan setzt sich gern als mächtiger Mann in Szene – auch wenn er Geld sammeln geht. Die Tageszeitung Bir Gün titelte anlässlich seiner Reise in die reichen Golfstaaten, von denen er sich »beträchtliche Investitionen« in Verteidigung, Energie und Infrastruktur erhofft, am Sonntag: »Der Präsident und der heiße Geldstrom vom Golf«. Weder die kürzlich angehobene Mehrwertsteuer noch die Anhebung des Leitzinses zeigen bisher Wirkung gegen die seit langem enorm hohe Inflation in der Türkei und den rasanten Kursverfall der türkischen Lira. Derzeit ist Erdoğan jedenfalls auffällig zurückhaltend und schlägt außenpolitisch öfter mal versöhnliche Töne an, was sich vermutlich auch auf die anhaltenden finanziellen Schwierigkeiten der Türkei zurückführen lässt.

Nach langer Weigerung hatte sich die Türkei am Montag vergangener Woche, einen Tag vor Beginn des Nato-Gipfels in Vilnius, bereit erklärt, Schwedens Antrag auf Beitritt zu dem Militärbündnis nicht weiter abzulehnen. Das ist eine erstaunliche Kehrtwende Erdoğans, der noch eine Woche zuvor angedeutet hatte, Schweden könne erst beitreten, wenn die Türkei in die Europäische Union aufgenommen worden sei. Viele Monate lang hatte Erdoğan einen Beitritt Schwedens blockiert.

Auch bei einem Treffen mit dem griechischen Ministerpräsidenten Kyriakos Mitsotakis am Rande des Gipfels standen die Zeichen auf Entspannung. Beide vereinbarten, die bilateralen Beziehungen wieder zu normalisieren; diese waren wegen der Streitigkeiten um Seegrenzen und Gasvorkommen im östlichen Mittelmeer eineinhalb Jahre lang äußerst angespannt gewesen, sogar die Telefondirektverbindung zwischen den Regierungsoberhäuptern war gekappt worden.

Der Präsident der Ukraine, Wolodymyr Selenskyj, hatte zuvor auch gestaunt, als bei seinem Besuch in Istanbul am 7. Juli Erdoğan eine künftige Nato-Mitgliedschaft der Ukraine als Notwendigkeit bezeichnete. Zum Abschied übergab er ihm fünf Kommandeure des Asow-Regiments aus Mariupol, das der ukrainischen Nationalgarde untersteht und in Russland als terroristische Vereinigung eingestuft ist. Die drei hätten eigentlich nach Absprache mit Russland bis zum Ende des Ukraine-Kriegs in der Türkei bleiben sollen. Bei einem früheren Gefangenenaustausch zwischen der Ukraine und Russland hatte die Türkei als Vermittler fungiert.

Die Türkei schlägt sich auf keine Seite, sondern konnte sich bislang immer gut durchlavieren

Im Hintergrund geht es um das Getreideabkommen, das im Juli 2022 in Istanbul von der Türkei und den Vereinten Nationen vermittelt wurde. Das Abkommen hat zum ersten Mal seit dem Einmarsch in die Ukraine, durch den Russland auch die Seehäfen seines Nachbarlands kontrollierte, den sicheren Transport von Getreide, weiteren Lebensmitteln und russischem Dünger aus dem vor allem für ärmere Länder wichtigen Agrarexportland Ukraine über das Schwarze Meer ermöglicht. Das Abkommen wurde mehrfach verlängert, zuletzt Mitte Mai um zwei Monate. Der Kreml kündigte es nun mit der Forderung, dass die Beschränkungen für den Handel mit russischen Lebens- und Düngemittel aufgehoben werden müssten. Erdoğan kündigte eilig Gespräche mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin an.

Die weitgehende Ignoranz in den türkischen Medien im Hinblick auf das Getreideabkommen, dessen Kündigung durch Russland Erdoğan düpiert, hat mit der Medienkontrolle des türkischen Amts für Information zu tun. Berichterstattung über Misserfolge in der Wirtschaftspolitik sind dort sehr ungern gesehen und können mitunter Ermittlungsverfahren zu Berichten über ganz andere Themen auslösen.

Russland kann Druck auf die Türkei ausüben. Im vergangenen Jahr überholte das Land Deutschland als wichtigsten Handelspartner der Türkei. Das ist vor allem auf Energieimporte zurückzuführen, die den größten Teil der Einfuhren aus Russland ausmachen und deren Wert sich dem türkischen Statistikinstitut TÜİK zufolge im Vergleich zu 2021 auf rund 59 Milliarden US-Dollar verdoppelt hat.

Der russische Protest gegen das Einlenken der Türkei in der Nato fiel jedoch milde aus, zumal die Türkei Friedensgespräche der Ukraine mit Russland zur Bedingung für eine zukünftige Nato-Mitgliedschaft der Ukraine gemacht hatte. Putins Pressesprecher Dmitrij Peskow beklagte zwar hinsichtlich der an Selenskyj übergebenen Asow-Kommandeure, die Türkei habe damit gegen eine Vereinbarung zum Gefangenenaustausch verstoßen, mutmaßte aber gleichzeitig, dass der türkische Präsident vor dem litauischen Gipfeltreffen von den übrigen Nato-Staaten unter Druck gesetzt worden sei.

Deutsche diplomatische Beobachter sehen das anders, die Türkei laviere aus eigenem Antrieb. Michael Erdmann, ehemaliger deutscher Botschafter in Ankara, äußerte in der »Tagesschau« am 11. Juli: »Wir erleben im Zusammenhang mit Russland und der Nato und gegenüber der Ukraine eine Schaukelpolitik«, und zwar der Türkei. Und weiter: »Dieser Präsident nimmt an einem Nato-Gipfel teil, trägt die Nato-Erklärungen mit und versucht gleichzeitig, sich als Gesprächspartner von Präsident Putin darzustellen – trotz dessen verbrecherischen Angriffskriegs. Das passt nicht zusammen. Und man fragt sich letztlich: Wohin gehört eigentlich diese Türkei?« Eine Strategie vermag Erdmann nicht mehr zu erkennen. Erdoğan habe wahrscheinlich erkannt, dass Russland strategisch und aus ­globaler Perspektive der Verlierer des Krieges ist. Möglicherweise wolle Erdoğan »sich zum richtigen Zeitpunkt noch auf die richtige Seite schlagen, ­bevor die Dinge den Bach runtergehen«.

Doch die Türkei schlägt sich eben nicht auf eine Seite, konnte sich aber bislang immer gut durchlavieren. Schon lange bleiben zum Beispiel türkische Interventionen in Syrien oder ­Libyen folgenlos, die Flüchtlingsbewegungen auslösen. Sowohl die Nato als auch die EU machten wegen der strategischen Bedeutung der Türkei immer wieder Zugeständnisse, unterstrich Erdmann.