Michela Marzanos Recherche: Wenn der Großvater Benito heißt

Opa war (k)ein Nazi

Auch in Italien war man nach dem Ende des Faschismus sehr darauf erpicht, Ruhe und Frieden im Land wiederherzustellen. Davon handelt das Buch der italienischen Autorin und ehemalige Abgeordneten Michela Marzano.
Buchkritik Von

Michela Marzano, eine italienische Autorin und ehemalige Parlamentsabgeordnete, war überzeugt, aus einer sozialistischen Familie zu stammen, die mit dem Faschismus rein gar nichts zu tun hatte. Dann fiel ihr der Taufschein ihres Vaters in die Hände: Sein zweiter Vornamen lautete Benito. Doch wer hätte sein Kind 1936 so genannt, wenn nicht ein Anhänger Benito Mussolinis?

Als sie anfing, zu recherchieren, wollte ihr Vater keine Fragen beantworten. Damit begann der Einblick in sehr unerfreuliche Familienverhältnisse, die sich auch daraus ergaben, dass die Vergangenheit und die Taten des Großvaters so konsequent unter den Teppich gekehrt worden waren. Davon handelt ihr Buch »Falls ich da war, habe ich nichts gesehen«.

Es wurde geschwiegen, wie auch der Vater schweigen wollte – und so ist die desolate Geschichte der Familie Marzano eine, die sich ähnlich im gesamten Land abspielte.

Marzano hat ihren Großvater kaum gekannt, er starb, als sie sechs war. Vorher hatter er nach mehreren Schlaganfällen im Rollstuhl gesessen und war seiner Sprache beraubt gewesen. Um festzustellen, warum ihr Vater Benito heißt, musste Marzano in Archive gehen, und da war zum Glück viel zu finden. Der Großvater war Faschist der ersten Stunde und ein enger Freund und Mitarbeiter von Achille Starace gewesen, einem Vertrautem Mussolinis, der kurz vor Kriegsende in Ungnade fiel.

Nach dem Krieg verlor der Großvater Amt und Würden, aber nur sehr kurzfristig, denn in Italien war man darauf erpicht, Ruhe und Frieden im Land wiederherzustellen. Es wurde geschwiegen, wie auch der Vater schweigen wollte – und so ist die desolate Geschichte der Familie Marzano eine, die sich ähnlich im gesamten Land abspielte.

Kinder lernten patriotische Lieder aus dem Ersten Weltkrieg, ein sozialistischer Bürgermeister benannte einen Platz nach einem ausgewiesenen Faschisten, und alle trösten sich damit, dass die meisten Italiener nur Mitläufer gewesen seien. Ein in jeder Hinsicht wirklich aufregendes und informatives Buch.


Buchcover

Michela Marzano: Falls ich da war, habe ich nichts gesehen. Aus dem Italienischen von Lina Robertz. Eichborn-Verlag, Frankfurt am Main 2023, 367 Seiten, 24 Euro