Adriana Urrea Torres, Gewerkschafterin, im Gespräch über den wohl längsten Streik im mexikanischen Mediensektor

»Wir haben 44 Monate Streikposten aufrechterhalten«

Der wohl längste Streik in der Mediengeschichte Mexikos neigt sich seinem Ende zu. Seit 2020 sind Beschäftigte der staatlichen Nach­richten­agentur »Notimex« im Ausstand. Ein Gespräch mit Adriana Urrea Torres, der Vorsitzenden der Haus­gewerk­schaft Sutnotimex, über die Situation der Streikenden und die Zukunft der Gewerkschaft.

Am 3. Oktober haben Sie für Sutno­timex ein Abkommen zur Verstän­digung mit dem Sekretariat der mexikanischen Regierung unterzeichnet. Das ist ein erster Schritt zur Beilegung des wohl längsten Streiks in der Mediengeschichte Mexikos. Ist es auch dessen Ende?
Nein, unser Streik geht so lange weiter, bis die Compañeras und Compañeros Abfindungen und ausstehende Löhne erhalten haben. Das ist bisher nicht der Fall, die Verhandlungen laufen. Bis wir eine Lösung gefunden haben, werden wir unser Camp vor der Zentrale von Notimex nicht auflösen. Am 21. Oktober befinden wir uns seit 44 Monaten im Ausstand, weil wir entgegen den gesetzlichen Regeln entlassen wurden. Das haben die Arbeitsgerichte auch so bestätigt – wir haben also berech­tige Ansprüche.

Der Arbeitskonflikt bei Notimex begann 2019 mit dem Amtsantritt der neuen Direktorin Sanjuana Martínez, richtig?
Ja, innerhalb von wenigen Monaten nach ihrer Verpflichtung wurden 245 Mitarbeitende von Notimex fristlos entlassen, darunter auch ich. Dabei wurden Arbeitsrechte verletzt und deshalb sind wir ganz legal im Streik, was die Gerichte anerkannt haben. Deshalb ist am 26. Juni 2020 der Agenturbetrieb nach unserer Klage eingestellt worden. Im Kern geht es bei dem Konflikt um den Tarifvertrag, der 2019 zum letzten Mal verhandelt wurde. 2020 wäre die Neuverhandlung fällig gewesen. Doch bereits Anfang 2020 hatte Sanjuana Martínez verlangt, dass Sutnotimex einem neuen Tarifvertrag ­zustimmen solle – auf Basis von Mindestlöhnen. Wir sollten auf alle Zusatzleistungen verzichten, die wir über Jahre erkämpft hatten. Dazu waren wir nicht bereit, Direktorin Martínez ließ keinen Verhandlungsspielraum ­erkennen und reagierte mit den fristlosen Kündigungen.

Hat Martínez Sutnotimex unterschätzt?
Aus heutiger Perspektive schon. Wir hätten ja selbst nie erwartet, dass wir 44 Monate unsere Streikposten vor der Zentrale von Notimex aufrechterhalten können, und haben gehofft, dass die Regierung von Präsident Andrés Manuel López Obrador reagiert und interveniert. Das hat sie mehrfach angekündigt, aber sie ist letztlich trotz eindeutiger Gerichtsbeschlüsse der zuständigen Kammern für Arbeitsrecht nicht tätig geworden. Aus arbeitsrechtlicher Perspektive ist das ein Armutszeugnis.

Das hat sich erst im April geändert, als Präsident López Obrador ankündigte, Notimex zu schließen, weil die Agentur nicht mehr nötig sei. Spätestens da muss der Regierung doch klar geworden sein, dass es den Arbeitskonflikt noch beizulegen gilt.
Ja, aber das beinhaltet eben nicht die Einbindung der Beschäftigten, wie ­andere Fälle zeigen. Die Regierung hat sich für die Schließung mehrerer staat­licher Institute, mit teilweise ähnlicher Struktur wie bei Notimex, entschieden und das nicht vorab der Belegschaft mitgeteilt. Ein Beispiel dafür ist die Financiera Rural, eine regionale Entwicklungsbank zur Förderung der Landwirtschaft.

»In Mexiko findet eine Zentrali­sierung der Information in den Händen des Präsidenten und seiner morgendlichen Presserunde statt.«

Daraufhin haben wir uns damals zu Wort gemeldet und darauf aufmerksam gemacht, dass es einen offenen Arbeitskonflikt gibt, der vor der Schließung von Notimex beigelegt werden müsse. Notimex könne nicht einfach so dichtgemacht werden.

Sie haben also sowohl die ausstehenden Löhne für die 44 Streikmonate eingefordert als auch die Beilegung des Arbeitskonflikts?
Das zum einen, aber wir haben auch die Schließung von Notimex in Frage gestellt, denn natürlich wollen wir nicht unsere Arbeitsplätze verlieren. Wir sind der Meinung, dass die Nachrichtenagentur Notimex durchaus ihre Berechtigung hat, denn sie hat eben auch eine Funktion, sie liefert Informationen aus den Bundesstaaten Mexikos, die weniger stark im Fokus stehen. Diese Position haben aber die verantwortlichen Regierungsstellen, mit denen wir im Gespräch sind, kategorisch abgelehnt. Es hieß, die Entscheidung sei gefallen und unumkehrbar. Wir haben insistiert und mit Kongressabgeordneten gesprochen, aber da war nichts zu machen.

Weil es eine direkte Entscheidung des Präsidenten ist? López Obrador hat öffentlich behauptet, dass seine morgendlichen Pressekonferenzen ausreichten, um die Bevölkerung vollumfänglich über die Situation in Mexiko zu informieren. Ist das nicht eine Absage an kritische, mehrdimensionale Berichterstattung?
Ja, deshalb haben wir alles versucht, um Notimex zu erhalten – ohne Erfolg. Ein Grund dafür ist die Nähe der Notimex-Direktorin zum Umfeld des Präsidenten, ein anderer die Tatsache, dass in Mexiko eine Zentralisierung der Information in den Händen des Präsidenten und seiner morgendlichen Presserunde stattfindet. Dort wird die offizielle Sicht der Dinge vertreten, Journalist:innen, die kritisch nachfragen, die eine abweichende Perspek­tive auf die Verhältnisse vertreten, werden angegriffen und lächerlich gemacht.

»Uns droht die Arbeitslosigkeit. Einige werden als freie Journalist:innen weiterarbeiten, sich neue Stellen in einem schwieriger werdenden Mediensektor suchen. Das ist die bittere Realität.«

Wir als Journalist:innen wissen nur zu gut, wie wichtig es ist, auf unterschiedliche Quellen zurückzugreifen, und ­dafür war Notimex ein gutes Beispiel. Die Agentur versorgte auch Gemeinden, die nicht oder nur punktuell ans Internet angeschlossen sind, mit gut recherchierten Informationen. Da sind traditionelle Medien, die auf Notimex zurückgriffen, deutlich wichtiger als in Mexiko-Stadt. Notimex war ein öffentliches Medium, das einen wichtigen Auftrag hat, und ist nun in Auf­lösung. Das widerspricht auch dem Programm eines linken Präsidenten, der sich im Wahlkampf für das Recht auf Information ausgesprochen hatte. Die Schließung von Notimex ist eine schlechte Nachricht für alle Journa­list:innen und die Gewerkschaftsbewegung im Land.

Die Schließung ist also eine doppelte Niederlage, gerade weil es einen ­Tarifvertrag gab?
Definitiv, denn die Arbeitsbedingungen im Mediensektor werden immer prekärer. Hinzu kommt, dass die Verantwortliche für den Arbeitskonflikt, Sanjuana Martínez, sich nicht verantworten muss. Sie genießt den Rückhalt der Regierung und wird obendrein wohl auch noch eine Abfindung erhalten – das ist ­bitter. Der Präsident höchstpersönlich hält die Hand über sie. Der Fall Notimex ist längst ein Politikum, er lässt sich mit normalen Parametern nicht mehr nachvollziehen.

Wie geht es nun weiter? Verhandeln Sie mit den staatlichen Stellen, dem Sekretariat der mexikanischen Regierung?
Ja, und höchstwahrscheinlich wird der Kongress noch in diesem Monat das Ende von Notimex und den Etat für die Abwicklung der Nachrichtenagentur bewilligen. Dann bleiben den Verantwortlichen zwei Monate, um Abfindungen sowie ausstehende Gehälter auszubezahlen und alle weiteren Notimex betreffenden Verträge auszuhandeln. Ende Dezember könnte Notimex dann Geschichte sein.

Wie geht es für die 85 noch aktiv Streikenden weiter, und wie für die Gewerkschaft Sutnotimex?
Uns droht die Arbeitslosigkeit. Einige werden als freie Journalist:innen weiterarbeiten, sich neue Stellen in einem schwieriger werdenden Mediensektor suchen. Das ist die bittere Realität. Auf der anderen Seite denken wir darüber nach, Sutnotimex und all die Erfahrungen aus dem Streik zu erhalten und weiterzumachen. Wir wollen Sutno­timex zur Branchengewerkschaft im Mediensektor transformieren – nicht nur für Journalist:innen, sondern auch für technische und Ver­waltungs­mit­ar­beiter:innen.

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Adriana Urrea Torres lebt in Mexiko-Stadt und ist die Vorsitzende von ­Sutnotimex, der Hausgewerkschaft der 1968 gegründeten staatlichen mexikanischen Nachrichtenagentur »Notimex«. Dort hat sie 17 Jahre als Reporterin mit dem Spezialgebiet Finanzwesen und Wirtschaft gearbeitet. Doch die Tage von »Notimex« sind gezählt: Die Agentur wird abgewickelt, weil Mexikos Präsident Andrés Manuel López Obrador meint, die Bevölkerung selbst ausreichend zu informieren; seine täglichen Pressekonferenzen seien genug.