Die Führungsfigur der russischen Opposition, Aleksej Nawalnyj, ist im Gefängnis ­gestorben

Politische Grabesruhe

Wladimir Putins Regime hat in Russland die Grundlagen für eine ­organisierte politische Opposition systematisch zerstört. Einen Monat vor der Präsidentschaftswahl ist nun der Oppositionelle Aleksej Nawalnyj im Gefängnis gestorben.

Am Freitag gegen Mittag schlug die Nachricht wie ein Blitz ein: Aleksej Nawalnyj ist tot. Nach dem Hofgang habe er das Bewusstsein verloren, Wiederbelebungsversuche seien erfolglos gewesen, teilte die Justizbehörde im Autonomen Kreis der Jamal-Nenzen mit.

In den hohen Norden, genauer gesagt in die nördlich des Polarkreises gelegene Strafkolonie IK-3, war der Oppositionspolitiker erst im Dezember verlegt worden, nachdem ihn ein Gericht im vergangenen Sommer zu insgesamt 19 Jahren Lagerhaft verurteilt hatte, unter anderem wegen »Extremismus«. 2022 war Nawalnyj bereits zu einer 9jährigen Haft verurteilt worden.

In der offiziellen Mitteilung an die Angehörigen hieß es später, der Tod sei um 14.17 Uhr Ortszeit eingetreten. Der vom russischen Staat kontrollierte Fernsehsender RT, vormals Russia Today, glaubte da bereits, die Todesursache zu kennen – Thrombose. Diese Standarddiagnose wird in russischen Gefängnissen gerne verwendet, damit keine wei­teren Fragen aufkommen – bei Gefangenen, deren Ableben kein öffentliches Aufsehen erregt, in der Regel mit Erfolg.

Nawalnyj mobilisierte zu Straßenprotesten gegen Wahlbetrug, und, nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine, als er bereits im Gefängnis saß, gegen den Krieg.

Nawalnyj war ein streitbarer Politiker, der keinem Konflikt aus dem Weg ging. In jüngeren Jahren, ab Ende der nuller Jahre, verbreitete er rassistische Botschaften und suchte das Bündnis mit der nationalistischen Rechten. Er setzte alles daran, mit Hilfe von Nationalisten wie auch Liberalen politische Veränderungen in Russland herbeizuführen, und gab den Machthabern im Kreml zu verstehen, dass er sich nicht einschüchtern lassen würde. Das gelang noch nicht einmal durch Vergiftung mit dem Kampfstoff Nowitschok, mutmaßlichen aus dem Sonderarsenal des russischen Militärs, die er 2020 mit großem Glück überlebte.

Sämtliche legalen Mittel wusste er auszuschöpfen. Als junger Anwalt versuchte er, als Kleinaktionär bei oft staatlichen Großunternehmen die Offenlegung ihrer Geschäftstätigkeiten zu erzwingen, um Korruption öffentlich zu machen. Dabei schaffte er es sogar, in den Vorstand der Fluggesellschaft Aeroflot gewählt zu werden. Jahrelang deckte er das immense Ausmaß an Korruption in der russischen Führungsriege auf, später mit investigativen Recherchen, die auf Youtube Millionen Zuschauer erreichten.

Nawalnyj als Symbol und Führungsfigur der demokratischen Opposition

Nawalnyj mobilisierte zu Straßenprotesten gegen Wahlbetrug, und, nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine, als er bereits im Gefängnis saß, gegen den Krieg. In den Jahren vor dem Giftanschlag baute er mit seinen lokalen Stäben ein landesweit agierendes Netzwerk auf und gab mit seinen Aufrufen, taktisch zu wählen, also stets für den im jeweiligen Wahlbezirk aussichtsreichsten Oppositionskandidaten zu stimmen, eine effektive Methode vor, um der Kreml-Partei Einiges Russland Stimmen abzujagen.

Seine zentrale Botschaft war einfach: Eine politische Alternative zum Regime von Präsident Wladimir Putin ist möglich. Weil das Grundprinzip von dessen Herrschaft jedoch darin besteht, sich als alternativlos zu präsentieren und jegliche abweichenden politischen Bestrebungen zu unterdrücken, zog der Machtapparat alle Register, um Nawalnyj als Symbol und Führungsfigur der demokratischen Opposition auszuschalten.

Zunächst wurde Nawalnyj nur mit zermürbenden Strafverfahren wegen angeblicher Korruption drangsaliert. Die Urteile wirken aus heutiger Sicht noch milde, boten allerdings den rechtlichen Vorwand dafür, ihn von Wahlen auszuschließen. Als er 2021 nach dem überlebten Giftanschlag nach Russland zurückkehrte, lag die Vermutung nahe, dass Nawalnyj nie wieder auf freien Fuß kommen würde. Für ihn war vorgesehen, isoliert im Gefängnis und Foltermethoden ausgesetzt, eines langsamen, aber sicheren Todes zu sterben. Innerhalb von weniger als zwei Jahren Lagerhaft verbrachte Nawalnyj über 300 Tage in ­sogenannter »Strafisolation«.

Dabei handelt es sich um ein Strafinstrument, das es erlaubt, Häftlinge für 15 Tage komplett von der Außenwelt abzuschirmen: Persönliche Gegenstände und selbst im Gefängnisladen gekaufte Lebensmittel sind nicht zulässig, Telefonanrufe untersagt, ein Buch oder Schreibutensilien werden nur für eine Stunde pro Tag ausgehändigt. Die Zellen werden schlecht oder gar nicht belüftet, die Temperatur liegt zu niedrig oder zu hoch, Trinkwasser ist nur sehr eingeschränkt verfügbar.

Nawalnyjs Team spricht von Mord

Selbst für Menschen mit eiserner Konstitution ist das auf Dauer kaum aus­zuhalten, weshalb Häftlinge den russischen Strafvollzug oft mit zerstörter Gesundheit verlassen. Trotzdem schien es Nawalnyj nach Aussagen seines Anwalts und der Angehörigen den Umständen entsprechend gut zu gehen. Am Vortag seines Todes trat er noch putzmunter per Videoschaltung bei einer Gerichtsverhandlung auf und scherzte mit dem Justizpersonal – er hatte Klage gegen eine Strafkolonie eingereicht, in der er zuvor inhaftiert gewesen war.

Nawalnyjs Team spricht von Mord. Der Leichnam soll sich nach Angaben der in Russland verbotenen Exilzeitung Nowaja Gaseta Europa in der nächstgelegenen größeren Stadt Salechard befinden. Eine Obduktion stehe noch aus. Die russischen Behörden teilten Nawalnyjs Angehörigen mit, dass sein Leichnam für 14 Tagen unter Verschluss behalten werde, bis chemische Untersuchungen abgeschlossen sind. Nawalnyjs Frau wirft den Behörden vor, den Leichnam zurückzuhalten, bis sich Reste des Nervengiftes Nowitschok aufgelöst haben.

Der Sprecher des russischen Parlaments, Wjatscheslaw Wolodin, macht den Westen für Nawalnyjs Tod verantwortlich, ohne diese absurde These zu erklären. Den gleichen Tenor schlagen regimenahe Blogger und Trolle in unzähligen Kommentaren in den sozialen Medien an.

Über 400 Festnahmen bei Blumenniederlegungen zu Ehren Nawalnyjs

Dass Aleksej Nawalnyjs Frau, Julia Nawalnaja, kurz nach Bekanntwerden des Todes ihres Mannes eine Trauerrede auf der Münchner Sicherheitskonferenz hielt, soll als Beleg dafür herhalten, dass es sich bei seinem Tod um ein Komplott des Westens gegen Russland handele. Duma-Abgeordnete sind angehalten, sich zu Nawalnyjs Tod nicht zu äußern.

Das Monitoring-Onlineportal OVD-Info meldete über 400 Festnahmen bei Blumenniederlegungen zu Ehren Nawalnyjs in zahlreichen russischen Städten. Polizeikräfte sorgten dafür, dass sich keine Menschenansammlungen bildeten, die womöglich in politische Kundgebungen hätten übergehen können. Wenn aber behauptet wird, die russische Führungsriege treibe die Angst vor dem eigenen Volk um, liegt eine Fehleinschätzung vor. Die Grundlagen für eine organisierte Opposition wurden in den Jahren von Putins Präsidentschaft systematisch zerstört.

Putin und sein Umfeld agieren mit der Mentalität einer von ihrer Macht und Überlegenheit überzeugten skrupellosen Straßengang.

Die Regierung fördert gesellschaftliche Vereinzelung, politische Passivität und Resignation; renitente Widersacher werden bedroht und bekämpft bis zur physischen Vernichtung. Das heißt nicht, dass es keine Unzufriedenheit oder Protestbereitschaft gäbe, doch der Staat sorgt dafür, dass sich derlei nicht äußert. Putin und sein Umfeld agieren mit der Mentalität einer von ihrer Macht und Überlegenheit überzeugten skrupellosen Straßengang.

Da kann auch der Westen nicht viel ausrichten, zumindest lassen sich die Wortführer in der russischen Politik weder von Sanktionen noch sonstigen Drohgebärden geschweige denn internationaler Kritik noch beeindrucken. Je schlechter das Verhältnis zum Westen, desto ungehemmter und wahnhafter ihr Auftreten.

Ende des Kriegs nicht in Sicht

Ein Monat ist es noch bis zu den russischen Präsidentschaftswahlen, den ersten nach dem großangelegten militärischen Angriff auf die Ukraine. Dieser liegt nun zwei Jahre zurück und ein Ende des Kriegs ist nicht in Sicht. Unter Führung von Wladimir Putin, dem designierten Wahlsieger, der auch nur den Gedanken, er könnte abtreten, nicht aufkommen lässt, rüstet sich Russland für einen langen Krieg. Wie lange die Ukraine mithalten kann, hängt von der Unterstützung seitens ihrer westlicher Partnerstaaten ab, ­allen voran den USA. Deshalb könnte die US-amerikanischen Präsidentschaftswahl im November den weiteren Kriegsverlauf erheblich beeinflussen.

Am Wochenende kam die Meldung, dass russische Truppen die lange umkämpfte Stadt Awdijiwka eingenommen haben. Den ukrainischen Streitkräften fehlt es an Munition und Kampfeinheiten. Wieder ein Teilerfolg für Russlands Armee.

Im Gespräch mit Tucker Carlson signalisierte Putin unmissverständlich, dass er um jeden Preis die Kapitulation der Ukraine anstrebt, die er als russisches Einflussgebiet ansieht. Der Westen könne den Krieg beenden, indem er jegliche Unterstützung für die Ukraine einstelle. Am Wochenende kam dann die Meldung, dass russische Truppen die lange umkämpfte Stadt Awdijiwka eingenommen haben. Den ukrainischen Streitkräften fehlt es an Munition und Kampfeinheiten. Wieder ein Teilerfolg für Russlands Armee.

Im Rahmen seiner Wahlkampftour besuchte Putin vergangene Woche auch Uralwagonsawod, eines der größten Rüstungsunternehmen im Land. »Ihr produziert die besten Panzer der Welt«, sagte Putin vor laufender Kamera einer ausgewählten Gruppe von Beschäftigten. Die besten sind es nicht, aber die Produktionszahlen sind enorm angestiegen. Russlands Rüstungsindustrie kurbelt die Wirtschaft an. Deren Wachstum soll nach einer Prognose des Internationalen Währungsfonds in diesem Jahr 2,6 Prozent erreichen, was sogar noch über den Schätzungen des russischen Ministeriums für wirtschaftliche Entwicklung liegt.

Knapp 30 Prozent des Staatshaushalts sind für die Kriegsführung vorgesehen. Damit auch der Nachschub an Soldaten gewährleistet ist, will das Verteidigungsministerium die Altersgrenzen anheben: Soldaten solle bis zur Vollendung des 65. Lebensjahrs in der Armee dienen, Offiziere sogar bis zu der des 70. – kämpfen bis zur Rente also. Etwas anderes hat Putins Regime nicht zu bieten.