Ein Frankfurter Bube
Hoch im Norden beim Hamburger »Kiez-Club« St. Pauli ist die Identifikationsfigur der ehemalige Vereinspräsident Cornelius »Corny« Littmann. LGBT-Aktivist, Theatermacher, Grünen-Mitglied der ersten Stunde – mehr Regenbogen geht nicht beim Verein an der Reeperbahn.
Der »Stern des Südens«, der FC Bayern München, kann gleich mit einer ganzen Reihe solcher Figuren aufwarten: Der jüdische Präsident Kurt Landauer, der nach den Jahren des Schweizer Exils zurückkehrte und dafür sorgte, dass der Verein wieder seinen Spielbetrieb aufnehmen konnte. Franz Beckenbauer, der Münchner aus kleinen Verhältnissen, der wie kein anderer für den einst so erfolgreichen Deutschen Fußball steht und trotzdem den »kleinen Leuten« zugewandt blieb. Uli Hoeneß, der erfolgreiche mittelständische Kapitalist, der über Spenden sein großes Herz und soziale Verantwortung zeigt und dem man seine Ablehnung der AfD, die er mit dem nächtlichen Gucken von Fernsehdokus über den Holocaust auf N-TV begründete, wohl zu Recht abnimmt – sein Knastaufenthalt wegen Steuerhinterziehung fällt dagegen kaum ins Gewicht.
Was Helmut »Sonny« Sonneberg von Peter Fischer, der Bayern-Heldenriege oder Corny Littmann unterscheidet: Er war nie ein bedeutender Funktionär oder erfolgreicher Sportler für seine Eintracht, sondern »nur« ein fanatischer Anhänger, eben ein Fan, ein Vorläufer dessen, was heute als Ultra bezeichnet wird.
Der hessische Bundesligist Sportgemeinde Eintracht Frankfurt hat ebenfalls zwei solche Identifikationsfiguren. Der eine ist der vor kurzen abgetretene Vereinspräsident Peter Fischer, der verbal gerne hart gegen die AfD und andere Rechtsextreme austeilt, und der andere der Shoah-Überlebende Helmut »Sonny« Sonneberg, der am 10. Februar vergangenen Jahres im Alter von 91 Jahren verstorben ist.
Was ihn von Peter Fischer, der Bayern-Heldenriege oder Corny Littmann unterscheidet: Er war nie ein bedeutender Funktionär oder erfolgreicher Sportler für seine Eintracht, sondern »nur« ein fanatischer Anhänger, eben ein Fan, ein Vorläufer dessen, was heute als Ultra bezeichnet wird. Nun hat Matthias Thoma, der Leiter des Eintracht-Frankfurt-Museums, seinem Freund Sonny eine Biographie geschrieben.
Thoma hatte Sonneberg in den letzten Jahren geholfen, sein Schicksal als jüdischer Junge im Frankfurt der Nazi-Zeit publik zu machen und vor den Gefahren eines neuen Faschismus zu warnen. Dabei kam den beiden der sportliche Erfolg der Frankfurter Eintracht zugute. In den vergangenen zehn Jahren lief es gut für den Verein, das band die Frankfurter Stadtgesellschaft näher an ihn und sorgte auch jenseits der Stadtgrenzen für Aufmerksamkeit.
Ein Frankfurter Junge
1931 kam Helmut Sonneberg in Frankfurt am Main zur Welt. Die Stadt hatte damals schon über eine halbe Millionen Einwohner. Der Fußballverein Eintracht Frankfurt spielte zu der Zeit in seinem Heimatstadion am Riederwald und war 1931 in der Endrunde für die deutsche Meisterschaft, scheiterte aber im Viertelfinale. Es gab noch keine Bundesliga wie heute, deren Gründung wurde erst 31 Jahre später beschlossen.
Mit 2 500 Mitgliedern waren die »Riederwälder« der größte Sportverein in Frankfurt. Der damalige Star der Fußballmannschaft hieß Rudolf Gramlich. Er sollte für die spätere Geschichte der Eintracht bedeutend bleiben, unter anderem als Präsident im Meisterjahr 1959. Im Zuge der Aufarbeitung der NS-Geschichte des Vereins in den vergangenen Jahren trennte sich die Eintracht 2020 von der Ehrenpräsidentschaft des 1988 verstorbenen Gramlich. Denn er war nicht nur »Vereinsführer« von Eintracht Frankfurt während des Faschismus gewesen, sondern als Angehöriger des 8. SS-Totenkopfregiments mutmaßlich an Kriegsverbrechen beteiligt. Zudem profitierte Gramlich persönlich von der nationalsozialistischen »Arisierung« durch den Kauf eines jüdischen Lederwarengeschäfts.
Ab dem Novemberpogrom 1938 änderte sich für den sieben Jahre alten Helmut die Welt.
Sonnys Mutter Recha (Ria) Sonneberg, geboren am 4. September 1898, stammte aus einem strenggläubigen jüdischen Elternhaus in Somborn, heute ein Ortsteil der Gemeinde Freigericht im Main-Kinzig-Kreis. Nachdem die Stiefmutter Ester verstarb, ging Recha nach Frankfurt. Als Dienstmädchen arbeitete sie in verschiedenen Haushalten.
Helmut entstand aus einem »One Night Stand«, wie er öfter erzählte, mit einem Monteur. Spätere heiratete Recha Fritz Wessinger, der den jungen Helmut wie seinen eigenen Sohn annahm. Die Ehe der beiden brachte ein weiteres Kind hervor. Die Kinder wurden im November 1933 katholisch getauft, im folgenden Jahr nahm auch Recha den katholischen Glauben formal an.
Helmut fühlte sich in der Kirche wohl und wurde Messdiener – ein Amt, auf das er sehr stolz war. Ab dem Novemberpogrom 1938 änderte sich für den sieben Jahre alten Helmut die Welt. Er durfte nicht mehr Messdiener sein und nicht in die reguläre Schule gehen, und er hieß statt Wessinger wieder Sonneberg.
Als Kind im KZ
Es begann die Zeit der Ausgrenzung und Erniedrigungen. 1940 wurde er aus der Familie genommen und in ein Waisenhaus für jüdische Kinder gesteckt. Ab September 1941 musste der Zehnjährige einen Davidstern tragen. Als die Kinder des Waisenhauses deportiert wurden, konnte sein Stiefvater aufgrund seiner Verdienste als Soldat im Ersten Weltkrieg Helmuts Deportation bei der Gestapo verschieben.
Zeitweilig konnte er sogar wieder bei seiner Familie wohnen. Am 18. März 1944 wurde das Wohnhaus, in dem sie mit weiteren Familien mit »Mischehen« wohnten, bei einem alliierten Bombenangriff getroffen und brannte aus. Sie überlebten im Luftschutzkeller und kamen im Kriegschaos in anderen Wohnungen unter.
Am 15. Januar 1945 beschloss das Reichssicherheitshauptamt, alle »Mischehen« auseinanderzureißen und die im deutschen Reich noch übriggebliebene Juden zu deportieren. Am 14. Februar 1945 mussten sich Helmut und seine Mutter deshalb bei der Frankfurter Großmarkthalle einfinden. Helmut Sonneberg war 13 Jahre alt, als er in den Viehwagon zur Deportation steigen musste.
Der Transport aus Frankfurt erreichte das Ghetto Theresienstadt am 18. Februar 1945. Mutter und Sohn mussten Zwangsarbeit verrichten.
Der Transport aus Frankfurt erreichte das Ghetto Theresienstadt am 18. Februar 1945. Mutter und Sohn mussten Zwangsarbeit verrichten. Durch ihre Arbeit in der Küche konnte Recha mitunter Lebensmittelreste für Sonny beiseite schaffen, so dass beide überlebten. Ihm brannten sich die Bilder der Rücktransporte aus den östlich gelegenen Vernichtungslagern ein, die evakuiert wurden, um der vorrückenden Roten Armee zu entgehen. In den Güterwagons waren Menschen, die kaum noch mehr als Skelette waren. Jahrzehnte später sagt er hierzu in einem Interview: »Wenn mir einer sagt, das ist alles nicht wahr, dann haue ich ihm in die Fresse, auch als Pazifist. Ich habe das mit eigenen Augen gesehen, das ist nicht zu leugnen.«
Anfang Mai flohen die Wachen des Lagers vor der anrückenden sowjetischen Armee, noch im selben Monat machten sich Sonny und seine Mutter zu Fuß auf den Weg zurück nach Frankfurt. Die Familie war wieder vereint. Für ihn begann ein zweites Leben.
Die Eintracht-Jahre
In den vierziger und fünfziger Jahren erhielt Sonny ein bisschen finanzielle Entschädigung für das erlittene Unrecht. Er sparte das Geld und kaufte sich davon später einen VW-Käfer, mit dem er zum Meisterschaftsfinale von Eintracht Frankfurt im Jahr 1959 nach Berlin fuhr. Für diese Reise gestaltete er einen Zylinderhut in den Vereinsfarben schwarz und weiß, der ihn über Jahre auf verschiedenen Auswärtsfahrten begleitete.
Gleich in den ersten Jahren nach dem Krieg entwickelte er die Leidenschaft, welche ein Leben lang anhalten sollte: die für den Fußball seines Vereins SG Eintracht Frankfurt, seiner »Heißgeliebten im Waldstadion«. Für die Eintracht sprach neben sportlichen Aspekten auch, dass der Verein vor und nach dem Zweiten Weltkrieg als »Judenverein« galt, so der Biograph Thoma.
Sonnebergs Sportbegeisterung überstrahlte alles. Er wurde aktiver Fußballer in Jugend- und Seniorenmannschaften, besuchte die Spiele der ersten Mannschaft der Eintracht und ihre Trainings und fuhr immer wieder mit ihnen zu Auswärtsspielen, inklusive Platzsturm bei den großen Erfolgen.
Bevor Fußballer zu »Profis« wurden, gab es kaum soziale Distanz zwischen Fans und Sportlern. Zu Spielen fuhr man gemeinsam, nach dem Training tranken die Kicker der ersten Mannschaft mit den Fans Bier.
Wenn bei Eintracht Frankfurt kein Fußball anstand, schaute Sonny bei den anderen Sportabteilungen des Vereins vorbei. Er war auch sonst überall anzutreffen, wo in der Stadt etwas los war. Der »Fanatiker«, wie die wilden Fußballanhänger in den fünfziger Jahren genannt wurden, wurde in Frankfurt immer bekannter.
Bevor Fußballer zu »Profis« wurden, gab es kaum soziale Distanz zwischen Fans und Sportlern. Zu Spielen fuhr man gemeinsam, nach dem Training tranken die Kicker der ersten Mannschaft mit den Fans Bier.
Er genoss, dass er erkannt wurde. Dass Helmut unter den Fans akzeptiert und geachtet war, machte ihn stolz. Er, der acht Jahre lang ausgegrenzt worden war, gehörte jetzt dazu. Die Geschichte seiner Verfolgung erzählte er aber jahrzehntelang niemanden, nicht einmal seinen verschiedenen Partnerinnen.
Vor Spielen traf er sich regelmäßig mit 15 bis 20 Eintrachtlern mit selbstgebauten Fahnen, Hupen und Glocken, um zum Stadion zu ziehen. Fußball-Merchandise gab es damals nicht zu kaufen – umso mehr fiel diese Art der sich entwickelnden DIY-Fankultur in der Nachkriegszeit auf.
Gleichzeitig nahm die Fußballbegeisterung in diesen Jahren zu. Die durchschnittlichen Zuschauerzahlen der Eintracht verdoppelten sich im Vergleich zu den Vorkriegsjahren. Eines der »Fanatiker«-Lieder in den fünfziger Jahren ging folgendermaßen: »Mir sinn die Frankfurter Bube, mir habbe schon viel erlebt, mir warn mit 14 Jahrn schon in der Fremd. Mir habbe die Leut beschisse, uns habbe se rausgeschmisse, (…), bis dass der Sensemann uns einkassiert!«
Helmut »Sonny« Sonneberg blieb der Eintracht und dem Drumherum treu, bis ihn der Sensenmann einkassierte. Ein halbes Jahr vor seinem Tod war er noch Ehrengast, mit Gruppen-Shirt und bengalischer Fackel als Geschenk, bei der 25-Jahresfeier der Frankfurter Ultras im Februar 2023. Der 24 Jahre amtierende Präsident der Eintracht, Peter Fischer, erinnert sich im Nachwort der Sonny-Biographie an ihn als einen aus der Riederwald-Rentner-Runde, der jedes Training der ersten Mannschaft besuchte und anschließend mit der Runde gemeinsam Kaffee trinken ging, lange bevor er mit Peter Fischer zusammen gegen Antisemitismus und Faschismus aktiv wurde.
Matthias Thoma: Sonnys Geschichte – Von Ausgrenzung und Eintracht. Verlag Henrich Editionen, Frankfurt am Main 2023, 208 Seiten, 24 Euro