Wladimir Putin wurde in Russland mit großer Mehrheit »wiedergewählt«

Wahlfarce der Superlative

Nach offiziellen Angaben beteiligten sich 77 Prozent der Wahlberechtigten an der russischen Präsidentschaftswahl. Amtsinhaber Wladimir Putin soll sie mit 87 Prozent Zustimmung gewonnen haben.

Gut gelaunt gab Wladimir Putin am Sonntagabend vor versammelter Journalistenrunde sein erstes Interview als Sieger bei den Präsidentschaftswahlen. Zu dem Zeitpunkt war bereits klar, dass er – rechnerisch – das beste Ergebnis seiner Karriere erreicht hat. Nach Auszählen fast aller Stimmzettel darf er sich nach offiziellen Angaben 87,3 Prozent der abgegebenen Stimmen zuschreiben. Weit abgeschlagen fanden sich Nikolaj Charitonow von der Kommunistischen Partei der Russischen Föderation mit 4,3 Prozent, Wladislaw Dawankow von der Partei Neue Leute mit 3,85 Prozent und Leonid Sluzkij von der Liberal-Demokratischen Partei als Schlusslicht mit 3,2 Prozent wieder.

Die Oppositionszeitung Nowaja Gaseta Europa kam nach eigenen Berechnungen auf rund 22 Millionen gefälschte Stimmen, aber das beruht auf einem mathematischen Modell, das mit großer Vorsicht zu genießen ist. Eine Datenanalystin der Zeitung, Alesja Sokolowa, geht davon aus, dass die Wahlmanipulationen dieses Mal weitaus vielfältiger waren als zuvor; selbst aus den offen zugänglichen Angaben ließen sich eindeutige Unregelmäßigkeiten erkennen.

Es war auch in anderer Hinsicht eine Wahl der Superlative: Mit über 77 Prozent lag die Wahlbeteiligung so hoch wie niemals zuvor im postsowjetischen Russland; in den russischen Auslandsvertretungen übertraf der Andrang an Wählerinnen und Wählern im Vergleich zu vorangegangenen Wahlen ebenfalls alles bislang Dagewesene. Dort bildeten sich teils kilometerlange Schlangen. Vor der russischen Botschaft in Berlin versammelten sich so viele Menschen, dass etliche von ihnen vor Schließung des Wahllokals keinen Zugang zum Gebäude erhielten.

Die im Ausland erzielten Wahlergebnisse geben einen Einblick in die politischen Präferenzen der jeweiligen russischen Community. In London beispielsweise lag Dawankow mit mehr als der Hälfte der abgegebenen Stimmen deutlich vor Putin, der dort gerade mal 21 Prozent erhielt. An der Côte d’Azur, dem Rückzugsort etlicher Familienangehöriger der russischen ökonomischen und politischen Führungsschicht, siegte Putin. In Berlin erhielt Putin 44 Prozent, Dawankow 37, in Bonn waren es 65 beziehungsweise knapp 20 Prozent.

Linke Exilpolitiker wie Michail Lobanow und Jewgenij Stupin hatten mit ihrem »Manifest für einen gerechten Frieden« vor der Wahl versucht, den bloßen Gesten politischen Inhalt zu verleihen, aber der Raum für politische Manifestationen ist in Russland so gut wie nicht mehr vorhanden.

In den USA, Mexiko oder anderen Ländern, in denen schon vor Beginn des großangelegten Angriffskriegs gegen die Ukraine emigrierte russische Staatsangehörige in relevanter Zahl lebten, stimmten diese zuhauf für Putin. In Zielorten der jüngsten Emigrationswelle, wie Barcelona oder Hanoi, unterlag der derzeitige und zukünftige russische Präsident wiederum Dawankow, für dessen Unterstützung die liberale Opposition geworben hatte, um wenigstens einen Kandidaten benennen zu können. Und das, obwohl Dawankow die Einverleibung ukrainischer Gebiete ausdrücklich gutgeheißen hatte.

Um nicht ganz klein beizugeben, hatten weite Teile der russischen Opposition zur Aktion »Mittags gegen Putin« aufgerufen. Punkt zwölf Uhr sollten sich Gegnerinnen und Gegner der Putin’schen Kriegspolitik am Sonntag in ihren jeweiligen Wahllokalen einfinden und allein durch das plötzliche mittägliche Wähleraufkommen zu verstehen geben, dass die im Kreml krampfhaft demonstrierte Einheit der Bevölkerung so nicht besteht. Mancherorts in Russland gelang es tatsächlich, den gewünschten Eindruck zu erwecken, aber selbst in Moskau gab es viele Stadtteile, wo mittags genau so wenige Leute wählen gingen wie zu anderen Tageszeiten auch. Linke Exilpolitiker wie Michail Lobanow und Jewgenij Stupin hatten mit ihrem »Manifest für einen gerechten Frieden« vor der Wahl versucht, den bloßen Gesten politischen Inhalt zu verleihen, aber der Raum für politische Manifestationen ist in Russland so gut wie nicht mehr vorhanden.

Die Resultate der Auslandsabstimmungen kommen den realen politischen Proportionen jedenfalls insofern näher, als dass dort der Druck auf Wählerinnen und Wähler nur eine untergeordnete Rolle spielte. In Russland und den annektierten ukrainischen Gebieten war er indes enorm hoch. Die unabhängige Bewegung Golos (Stimme), die seit etlichen Jahren Wahlbeobachtung betreibt, kam zu dem Schluss, dass keine Präsidentschaftswahl zuvor so wenig verfassungsrechtlichen Normen entsprach wie diese. Selbst Belegschaften privater Firmen waren häufig angehalten, wählen zu gehen und einen Nachweis dafür zu erbringen. Vor und in Wahllokalen tummelte sich haufenweise Polizei, die teilweise sogar einen Blick in Wahlkabinen warf. Kontrollwahn bestimmte den Verlauf des gesamten dreitägigen Spektakels. Zwar gilt auf dem russischen Gebiet, wie es vor der Annexion der Krim bestand, offiziell kein Kriegsrecht, aber eine Kriegszensur herrscht faktisch dennoch. Über Politik, so Golos, werde nicht einmal mehr im engeren Kreis diskutiert.

Da eine Stimme für Putin automatisch eine für den Krieg gegen die Ukraine darstellt, ist vielleicht mancher versucht, die Wahlergebnisse als Indikator für eine breite Zustimmung zum Krieg zu interpretieren. Das dürfte vom Kreml so gewollt sein, mit der Realität stimmt das indes keineswegs überein. Selbst Umfragen staatlicher oder staatsnaher Meinungsforschungsinstitute zeugen von einer wachsenden Kriegsmüdigkeit.