Die Serie »The Gentlemen« ist ein Spin-off des gleichnamigen Films von Guy Ritchie

Adel und Business

Einen Kinofilm als Serien-Spin-off weiterführen? Das geht selten gut, doch Guy Ritchies Serie »The Gentlemen« über den friedliebenden Eddie, der sich plötzlich in einem Drogenkrieg wiederfindet, ist sogar um Längen besser als der Film.

Was fällt einem ein, wenn man an den britischen Regisseur Guy Ritchie denkt? Gangster, Drogen, gewalttä­tige Absurditäten, dreckige Deals, finsterster Sarkasmus und teilweise sehr, sehr lustige Pointen. Mit anderen Worten: Man denkt an sofort erkennbare Satiren auf gesellschaftliche Realität – nicht nur im Vereinigten Königreich.

2019 brachte Ritchie einen Film namens »The Gentlemen« in die Kinos, den man sich durchaus anschauen konnte. Es ging um einen müde gewordenen Drogen-Gangster, der sein Marihuana-Imperium loswerden will. Das Gras wurde bisher sehr profitträchtig auf den Landsitzen chronisch überschuldeter britischer Adliger angebaut. Aber weil der Drogenboss die Zeichen der Zeit erkennt und für die wahrscheinlich kommende Marihuana-Legalisierung zumindest einen seriösen Strohmann braucht, muss etwas passieren mit dem Business.

Wenn man sich Matthew McConaughey als Hauptdarsteller in der Serie vorstellt, wird einem erst klar, wie fehlbesetzt er im Kinofilm war.

Die folgenden Verwicklungen, Territorialkämpfe und wechselseitigen Betrügereien sorgen für die Menge an Leichen, Gags und Sarkasmus, die man aus typischen Guy-Ritchie-Filmen kennt, beispielsweise »Lock, Stock and Two Smoking Barrels« (1998), »Snatch« (2000) und »RocknRolla« (2008). Matthew McConaughey spielt den Drogenboss mit gewohnter Breitbeinigkeit, Colin Farrell überzeugt als Untergangster »Coach«. Ob die Geschichte am Schluss noch mit einem durchaus antisemitisch zu verstehenden Zitat aus Shakespeares »Kaufmann von Venedig« aufgepeppt werden musste? Eher nicht.

»Eher nicht« ist auch die spontane Antwort auf die Frage, ob man aus diesem Stoff noch eine achtteilige Fernsehserie hätte entwickeln sollen. Doch Ritchie und seine Mit­arbeit­er:in­nen schaffen es mit ihrer gleichnamigen Serienadaption des Films für Netflix, das zweifelnde »Eher nicht« in ein euphorisches »Aber unbedingt!« zu verwandeln.

Endlose Irrungen und Wirrungen in Gangland

Nur ein paar Kunstgriffe waren ­dafür notwendig: Erstens erzählt die Serie die Geschichte der endlosen Irrungen und Wirrungen in Gangland aus der Sicht eines der britischen Adligen, auf deren Anwesen das Gras angebaut wird. Zweitens macht er auch bei der Besetzung alles so britisch, wie es nur geht. Wenn man sich McConaughey als Hauptdarsteller in der Serie vorstellt, wird einem erst klar, wie fehlbesetzt er im Kinofilm war.

Die Hauptrolle übernimmt stattdessen mit großer Stilsicherheit Theo James. Man trifft seine Figur Edward »Eddie« Horniman zu Beginn an der Grenze zwischen der Türkei und Syrien an, wo er als Offizier der UN-Friedenstruppen einen fiktiven Checkpoint bewacht. In wenigen Interaktionen wird Horniman als kompetenter und durchsetzungsfähiger Krisenmanager vorgestellt. Leider muss er dieses Talent bald woanders unter Beweis stellen: Sein Vater ist schwer gestürzt, und husch geht es zurück nach Hause, zum 500 Jahre alten Stammsitz der Familie, dem Riesenschuppen mit Edelholz und großen Gemälden an den Wänden. Der alte Herr stirbt wirklich (seine Vorfahren verfluchend), aber vorher muss Eddie ihm noch versprechen, auf seinen erstgeborenen Bruder Freddy aufzupassen.

Die Testamentseröffnung hat es in sich. Denn der Verstorbene hat verfügt, dass nicht, wie es üblich wäre, Freddy Titel und Familiensitz erbt, sondern Eddie. Allein schon die Szene, in der Freddy wegen dieser Schmähung explodiert, ist unbedingt sehenswert: Daniel Ings legt als beleidigtes Adelswürstchen einen Ausraster hin, wie man ihn sich schöner nicht wünschen könnte, gleichzeitig komisch und bedrohlich, ein Slapstick-Kunststück an der Grenze zur totalen Katastrophe.

Mysteriöse junge Frau, gespielt von Kaya Scodelario

Freddy verhält sich aber nicht nur so, weil er ein dauerkoksender Dummschwätzer ist – er hat auch ein echtes Problem. Nach vergeigten Immobiliendeals steht er bei einem Drogendealer-Clan mit acht Millionen Pfund in der Kreide und die Zinskurve ist so steil wie der Mount Everest. Eddie, der weiß, dass sich sein nichtsnutziger Bruder aus dieser Falle auf sich gestellt niemals befreien kann, sieht keinen anderen Ausweg, als das Familienanwesen mit allem Drum und Dran zu verkaufen, um Freddys Schulden zu begleichen. Einen Interessenten gibt es auch schon.

Da tritt eine zunächst mysteriöse junge Frau namens Susie Glass auf (gespielt von Kaya Scodelario) und erklärt Eddie, warum die Idee mit dem Verkauf sehr schlecht ist: In den Kellern der Wirtschaftsgebäude verborgen betreibt Susies Organisation nämlich eine florierende Marihuana-Farm, die für die Familie Horniman pro Jahr fünf Millionen Pfund abwirft (und für die Organisation das Zehn­fache).

Zwar ist diese Farm nur eine von vielen, aber ein Umsatzeinbruch von 50 Millionen Pfund wäre eben ein herber Verlust. Eddie ist schockiert und empört, aber da Susie ihm verspricht, mit Freddys Gläubigern eine Lösung auszuhandeln, hält er zunächst die Füße still. Leider versaut Freddy auch Susies Lösungsansatz, und zwar unter Zuhilfenahme einer Schrotflinte.

Reichlich Kompetenzen für die neue Karriere als Gangster

Ab diesem Zeitpunkt ist in den Grundzügen klar, wohin die Reise geht. Dennoch will man mitbekommen, wie sie genau verläuft. Natürlich möchte Eddie der gute Mensch bleiben, der er als UN-Soldat einmal war. Aber erstens hat er zu der kühlen, schönen Teufelin Susie einmal ja gesagt (alles andere wäre ihm wahrscheinlich auch schlecht bekommen). Und zweitens stellt sich heraus, dass er für seine neue Karriere als Gangster reichlich Kompetenzen mitbringt.

Er verhält sich sogar mehr und mehr so, als habe er in dieser neuen Karriere seine wahre Berufung gefunden. Den ersten Unterwelt-Gegner tötet er eher noch zufällig und in Selbstverteidigung, aber Schritt für Schritt füllt er seine neue Rolle selbstsicherer und souveräner aus. War es vielleicht gar kein so weiter Weg von der bewaffneten Friedenssicherung zur bewaffneten Profitsicherung?

Auf jeden Fall wird immer klarer, dass sich das Adelsgesindel bestens mit dem Gangstergesindel versteht; da ist viel mehr common ground (im wahrsten Sinne des Wortes), als man auf den ersten Blick meinen sollte. Und wenn sich doch eine Chance eröffnet, wieder auf den Pfad der Tugend zurückzukehren, ist stets Freddy zur Stelle, der sie denkbar nachhaltig durchkreuzt. Eddie möchte noch bis zur sechsten Folge darauf beharren, dass die kriminelle ursprüngliche Akkumulation, die seine Vorfahren reich gemacht hat, historisch weit zurückliegt; dabei hat er seine ganz gegenwärtige kriminelle Energie längst unter Beweis gestellt.

Es zeigt sich, dass sich das Adelsgesindel bestens mit dem Gangster­gesindel versteht; da ist viel mehr »common ground«, als man auf den ersten Blick meinen sollte.

Das würde alles nicht funktionieren, wenn Ritchie und seine Leute das Geschehen nicht in ein wahres Panoptikum aus wunderbaren Figuren und jede Menge paralleler Handlungsstränge einbetteten: Man begegnet streng christlichen Koksdealern, belgischen Schnöselkriminellen, einer machetenschwingenden Luxusauto-Vercheckerin, adligen Nazi-Fans und einem weiteren korrumpierten ehemaligen Soldaten, der jetzt Box-Promoter ist und ein Riesengeschäft in den Vorgängen um Eddie und Susie wittert. Alles und alle helfen Eddie auf dem guten, schlechten Weg weiter.

Man könnte vermuten, dass diese ganze Menagerie irgendwann ermüdet, aber ganz im Gegenteil funktioniert sie so gut, weil man ihr genug Raum gelassen hat. Erzählerisch gesehen funktioniert das sogar besser als bei den Klassikern von Quentin Tarantino – wobei immer das seltsame Gefühl bleibt, dass die geschilderten Vorgänge im Vergleich mit den bescheuerten Skandalen der Gegenwart eher noch nicht dreckig und absurd genug sind.

Dass die Serie so gut ist, heißt aber auch, dass der Stoff jetzt auserzählt ist. Eine weitere Staffel, in der sich etwa Eddie und Susie als Neuauflage von Bonnie und Clyde durch die bri­tische Drogenszene fräsen, könnte nur ein zweites Mal aufgießen, was beim ersten Mal wunderbar war. In diesem Sinne muss man hoffen, dass diese erste Staffel von »The Gentlemen« auch die letzte bleibt.

»The Gentlemen« (UK/US 2024) kann bei Netflix gestreamt werden.