Emilio Silva Barrera, Vereinigung zur Wiedererlangung der historischen Erinnerung (ARMH), im Gespräch über Spaniens Umgang mit der Franco-Diktatur

»Es geht um die Deutungshoheit über die Vergangenheit«

Vor 88 Jahren, am 17. Juli 1936, begann der Spanische Bürgerkrieg. Ein Gespräch mit dem Soziologen Emilio Silva Barrera, Gründer der Vereinigung zur Wieder­erlangung der historischen Erinnerung (ARMH), über Spaniens Umgang mit dem Franco-Faschismus.

Die Verbrechen der Faschisten unter General Francisco Franco im Spanischen Bürgerkrieg (1936–1939) und unter der klerikalfaschistischen Diktatur (1939–1975) werden nur langsam aufgearbeitet. Es mangelte jahrzehntelang an zeitgeschichtlicher Bildung an den Schulen und Universitäten, auch die Medien und die Politiker schwiegen größtenteils über die Vergangenheit, Gedenkorte und Museen ent­­standen erst im vergangenen Jahrzehnt. Vor knapp 25 Jahren begannen Vereine von Angehörigen, nach den sterblichen Überresten von Opfern Francos in Massengräbern zu suchen. Seither wurden rund 14.000 Leichen von Demokraten, Anarcho­syndi­ka­lis­tin­nen, Linken und Gewerk­­schafterinnen exhumiert. Die Rechten und Ultrarechten wollen die 2007 mit dem »Gesetz der historischen Erinnerung« begonnene und 2022 durch das »Gesetz der demokratischen Erinnerung« vorangetriebene Aufarbeitung beenden. Beide Gesetze sorgen dafür, dass öffentliche Gelder für die Suche bereitgestellt werden. 

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In den Regionen Valencia, Aragonien sowie Kastilien und León, in denen der stramm konservative Partido Popular (PP) und die rechtsextreme Partei Vox regieren, wurden Gesetze vorgelegt, »Konkordanz«- oder »Eintracht«-Gesetze genannt, die die geltenden Gesetze zur »demo­kratischen Erinnerung« auf regionaler Ebene ablösen sollen. Was sind ihre Ziele?
Sie steuern damit der Aufarbeitung der Verbrechen der Faschisten im Spanischen Bürgerkrieg und der Franco-Diktatur entgegen. Ihnen geht es um die Deutungshoheit über die Vergangenheit. In Spanien wurde wenig für die Aufarbeitung der Verbrechen der Diktatur getan. Sie sollen in Vergessenheit geraten. Vox und PP haben Exhumierungen von unter Franco verscharrten Republikanern, also Demokratinnen, Linken, Anarchistinnen und Gewerkschaftern, zwar akzeptiert, aber nur ­solange sie privat durchgeführt werden.

In den Gesetzesvorhaben wird das Wort »Diktatur« gestrichen, genauso wie finanzielle Mittel für Organisa­tionen wie Ihre. Sie suchen Massengräber – über 114.000 namentlich bekannte Opfer des Bürgerkriegs liegen noch in über 2.500 Massengräbern – und versuchen, die Gebeine zu identifizieren und regi­strieren.
Landkarten und Register der Massengräber werden in besagten Regionen gar nicht erstellt oder nicht mehr aktualisiert. Das »Konkordanz«-Gesetzesvorhaben von Kastilien und León geht in der Verharmlosung der Zeit der Diktatur am weitesten und bezeichnet sie nur als »Franquismus« oder »autoritäres Regime«. Das geplante Gesetz sieht auch vor, dass wir bei unseren Exhumierungen nicht über die Identität der verscharrten Opfer und die Mörder sprechen dürfen, wohl damit sich keine Schadensersatzforderungen ergeben können.

»Der einzige Weg herauszufinden, wo die Opfer Francos verscharrt liegen, ist, Dorf für Dorf zu besuchen und die Älteren zu befragen sowie Archive und Bevölkerungsregister durchzuarbeiten.«

Erinnert das nicht an die Phase des Übergangs zur Demokratie ab 1977 und das damalige Amnestiegesetz?
Die »Konkordanz«-Gesetzesentwürfe orientieren sich daran, dass Spanien in dieser Phase der »Transición« allen ­Tätern lebenslange Straffreiheit einräumte. Man überließ denjenigen den erbeuteten Besitz, die zuvor geraubt und geplündert hatten. Es gibt geschichtsrevisionistische Muster: Eine Richterin verhindert, dass ein Monument auf Teneriffa abgerissen wird, das Franco verherrlicht, indem sie es zum schützenswerten Kulturgut erklärt; im öffentlich-rechtlichen Rundfunk TVE tritt die Enkelin von Franco auf und poliert zur prime time dessen Image auf.

Was ist in dieser Hinsicht im kommenden Jahr zu erwarten?
Francos Tod jährt sich zum 50. Mal, auch die Krönung des mittlerweile abgedankten Königs Juan Carlos I. auf Wunsch des Diktators im November 1975. Ich höre schon die gebetsmühlenartig wiederholten Phrasen, dass eben alle »für ihre Ideen gekämpft« hätten. Nein, die einen kämpften für die Demokratie, die anderen für den Faschismus. Diejenigen, die für den Faschismus gekämpft haben, verdienen keinen Respekt. Und Demokraten, ganz gleich ob linke oder rechte, sollten das auch so sehen. 2025 jährt sich auch unsere erste Exhumierung zum 25. Mal. Wir haben es geschafft, das Schweigen über die Diktatur zu brechen.

Wo liegen die Schwachstellen der ­offiziellen Suche nach Massengräbern?
Wo der PP länger an der Macht ist, hat sich wenig getan. Die Hauptstadtregion Madrid hat eine von der Zentralregierung bezahlte Landkarte der Massengräber, die sich auf Daten der »Causa General« beruft. Das war eine Propagandaaktion von Franco, die sofort nach Kriegsende begann. Sie diente dazu, seinen Militärputsch gegen die Spanische Republik, der den Bürgerkrieg anzettelte, aber auch Morde an Republikanern zu rechtfertigen. Gegen die angebliche »Dominanz der Roten« und ihre angeblichen Verbrechen, die in der »Causa General« dargestellt werden sollten, pries Franco sein Handeln als gottgegebenen Auftrag zur Rettung Spaniens.

Welche Rolle spielte die katholische Kirche?
Noch heute ist Franco für die Kirche der Retter Spaniens vorm Kommunismus. Erzbischöfe lesen alljährlich Gedenkgottesdienste an den Todes­tagen von Franco und José Antonio Primo de Rivera, dem Gründer der faschistischen ­Falange, die 1937 in Francos Staatspartei überging. Priester verrieten ­damals widerständige Linke, Republikanerinnen und Anarchosyndikalisten an Francos Anhänger, die sie kurzerhand hinrichteten, nicht we­nige Geistliche griffen selbst zur Waffe.

Welche Beitrag leisten Universitäten bei der Aufarbeitung?
In Madrid gibt es sechs große öffentliche Universitäten. Aber kein einziges Institut hat die Repression der Faschisten in der Region wissenschaftlich untersucht. Das kann nicht nur daran liegen, dass der PP hier regiert. Keiner traut sich an derartige Forschung.

Wie gestaltet sich die Suche nach Massengräbern?
Der einzige Weg herauszufinden, wo die Opfer der Repression verscharrt liegen, ist, Dorf für Dorf zu besuchen, die älteren noch lebenden Menschen zu befragen, wo die Verbrechen begangen worden sind, die Archive und Bevölkerungsregister durchzuarbeiten.

Was halten Sie von den Gesetzen zur »demokratischen Erinnerung«, die es auch auf regionaler Ebene gibt?
Der »Franquismus« hat enorm viel Macht – bis heute. Er schafft es, dass die linke, sozialdemokratisch geführte ­Regierung ein Gesetz »zur demokratischen Erinnerung« beschließt, in dem die katholische Kirche nicht erwähnt wird, genauso wenig wie der Begriff »Henker« oder »Scharfrichter«, wodurch den Opfer die Möglichkeit ­genommen wird, auf späte Reparation zu klagen.

Seit 2007 ist die öffentliche Huldigung des Franco-Faschismus untersagt, seit zwei Jahren streng verboten. Doch bisher gab es nur eine einzige Geldstrafe.
Die einzige Strafe gegen die weiterhin bestehende Falange wurde aufgrund eines Protests von uns verhängt. Seit 2007 ist es eigentlich verboten, faschistische Grüße und Flaggen zu zeigen, doch vor Francos Monumentalmausoleum habe ich sie zahllose Male gesehen. Wie viele Strafen wurden dort verhängt? Null.

Wie sieht die Aufarbeitung des Faschismus in den Regionen aus, die jahrzehntelang von der sozialdemokratischen Arbeiterpartei PSOE ­regiert wurden?
Der PSOE, wie auch die Kommunistische Partei (PCE), beteiligte sich am Pakt des Schweigens von 1977. Erst als wir Exhumierungen begonnen hatten und der PSOE seinerzeit die absolute Mehrheit in Andalusien verloren hatte und dadurch gezwungen war, mit linken Parteien zusammenzuarbeiten, setzte sich langsam etwas in Bewegung.

»Hinter der Art der Aufarbeitung der sozialdemokratischen Arbeiterpartei PSOE steckt wahltaktisches Kalkül.« 

Aber hinter seiner Art der Aufarbeitung steckt wahltaktisches Kalkül. Wenn der Staatssekretär für demokratische Erinnerung, Fernando Martínez López, ein Massengrab besucht, dann hat er in seiner Entourage nur Anhänger seines PSOE. Sie machen aus dem Gedenken eine Parteiveranstaltung. Dem PSOE geht es um Stimmen, die man mit der Erinnerungsarbeit gewinnen kann. Es gibt knapp eine Million Nichtwähler, darunter viele Anarchisten. Mir würde es gefallen, wenn zu ­einem Gedenkakt beim Massengrab Mitglieder aller Parteien eingeladen werden.

Kam es nicht kürzlich dazu?
Ja, die Präsidentin des spanischen Parlaments, Francina Armengol (PSOE), hatte Mitglieder aller Parteien zu einer Exhumierung auf Mallorca eingeladen, nachdem der Parlamentspräsident der Balearen, Gabriel Le Senne (Vox), im Juni ein Foto von Aurora Picornell zerrissen hatte. Die kommunistische ­Gewerkschafterin war 1937 auf Mallorca von Falangisten hingerichtet worden, ihre sterblichen Überreste wurden erst vor zwei Jahren identifiziert. Seither sind Diskussionen darüber verstummt, ob Nachkommen von Opfern des Franco-Faschismus die Gebeine ihrer Angehörigen exhumieren dürfen.
Wenn der PSOE indes die Erinnerungskultur als sein alleiniges kulturelles Erbe reklamieren will, dann leistet er der lange überfälligen Aufarbeitung einen Bärendienst. Im Übrigen hatte Ministerpräsident Pedro Sánchez (PSOE) 2018 gesagt, dass er eine Anlaufstelle für die Nachkommen und eine umfassende DNA-Datenbank der Opfer der Repression Francos einrichten werde. Beides gibt es bis heute nicht.

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Emilio Silva Barrera

Emilio Silva Barrera

Bild:
Jan Marot

Emilio Silva Barrera ist Gründer der Vereinigung zur Wiedererlangung der historischen Erinnerung (ARMH) in Spanien. Im Jahr 2000 war er der Erste, der eines der anonymen Massengräber aus der Zeit des Bürgerkriegs und der Franco-­Diktatur öffnen ließ. Darin lagen die Gebeine von 13 Republikanern, die 1936 von Faschisten ermordet und im Straßengraben verscharrt worden waren, darunter die von Emilio Silva Faba, Barreras Großvater. Er war das erste bislang als verschollen geltende Opfer der Falangisten, das anhand einer DNA-Probe identifiziert wurde.