Dienstag, 18.09.2018 / 11:59 Uhr

Wie der Hase in Chemnitz läuft

Von
Detlef zum Winkel
Chemnitz_Hass
Bild:
ddp/interTOPICS /Craig Stennett

Darf Hans-Georg Maaßen, seit 2012 Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz, sein Amt weiter ausüben? Nach einem Interview in der Bild-Zeitung am 7. September, in dem er behauptet hatte, den Sicherheitsbehörden lägen keine Erkenntnisse über Hetzjagden in Chemnitz vor, musste er am 12. vor zwei Bundestagsausschüssen antreten. Mit Hilfe seines Ministers, Horst Seehofer, überstand er die Befragungen. Dabei dementierte er seine zuvor geäußerten Zweifel an einem Video, das die Verfolgung zweier Migranten durch eine Gruppe von Schlägern am 26.August in Chemnitz dokumentiert. Gegenüber der Bild hatte Maaßen von der Möglichkeit einer „gezielten Falschinformation“ gesprochen. Ein „angeblicher Vorfall“ habe die Öffentlichkeit vom Mord an einem Deutsch-Kubaner in der Nacht zuvor ablenken sollen. Jetzt stört ihn nur noch die Überschrift „Menschenjagd“, unter der das Video von der bis dahin unbekannten Initiative Antifa Zeckenbiss ins Netz gestellt wurde.

Der Clip ist also keine Fälschung. Das hätte man schneller erkennen können, wenn man sich mehr mit seinem Inhalt beschäftigt hätte.

Das Video zeigt eine Gruppe von stämmigen Männern, die mit zwei jüngeren Burschen streitet, die sie aufgrund ihres Aussehens offenbar als Ausländer identifiziert. Die Szene trägt sich am Rand der wütenden Aufmärsche jenes Tages in Chemnitz zu. Die Gruppe rückt bedrohlich vor. Jemand brüllt „Haut ab, ihr Kanacken“. Plötzlich sprintet ein schwarz gekleideter Mann auf die beiden vermeintlichen Migranten zu. Zwei weitere Männer nehmen ebenfalls Tempo auf und folgen ihm nach. In diesem Moment sagt eine Frau außerhalb des Blickfelds der Kamera: „Hase, du bleibst hier!“ Und noch einmal energisch: „Du bleibst hier“. Derweil flüchten die „Kanacken“ quer über die Straße. Doch die Verfolger brechen die Verfolgung ab. „Ihr seid hier nicht willkommen“, schreit einer, als ob es noch einer Erklärung bedurft hätte. Das Video ist ein Hass-Video. Es dokumentiert einen alles andere als harmlosen rassistischen Vorfall, aber auch ein Anhalten und Ablassen.

Die Vorwürfe von Falschinformationen und einer Medienkampagne gegen Chemnitz fallen ungeschmälert auf diejenigen zurück, die sie erhoben haben. Dabei handelte es sich nicht einfach um eine weitere, diesmal durch den Verfassungsschutz vorgetragene Intrige des Innenministers gegen seine Bundeskanzlerin und ihren Sprecher. Tatsächlich war es der Eintritt Seehofers und Maaßens in den Feldzug der AfD gegen die „Lügenpresse“.

Leider hat die Häsin nicht „Hört auf“ oder „Seid ihr verrückt geworden?“ gerufen. Sie beschränkt sich auf die Ansage an ihren Partner. Wie so oft macht der Ton die Musik: Hase versteht, dass es sich um einen Befehl handelt. Sie hat vielleicht etwas weiter gedacht als er: Einer der Schläger wurde inzwischen als Angestellter des Sicherheitsdiensts Securitas identifiziert und verlor umgehend seinen Job. Das hat das ZDF-Magazin Frontal 21 herausgefunden. Hätte er für einen anderen Sicherheitsdienst gearbeitet, der sich Verfassungsschutz nennt, wäre der Mann wohl nicht entlassen worden.

Eine lesenswerte Zusammenstellung der Chemnitzer Vorfälle, ihrer Entstehungsgeschichte und ihrer Akteure liefert das Antifaschistische Infoblatt (AIB). Der Bericht zählt zunächst die bundesweiten Netzwerke und Personen auf, die in der letzten Augustwoche nach Chemnitz mobilisierten, um zu „zeigen, wer in der Stadt das Sagen hat“. AIB nennt eine Fülle von Namen einschlägig bekannter Neonazis, die vor Ort gesichtet worden seien. „Die Stimmung am 26. und 27. August (stand) unter dem Einfluss erfahrener Personen der extrem rechten Szene. Ein gewaltaffines Spektrum, welches seit Jahren rassistische Hetze betreibt und an Angriffen gegenüber Geflüchteten und Migrant_innen beteiligt war“.

Diesen Leuten und ihrem unmittelbaren Anhang fiel es nicht schwer, den Charakter der Demonstrationen zu bestimmen und mit hetzerischen Parolen die allgemeine Aggressivität anzuheizen – zumal sie auf keinen wahrnehmbaren Widerspruch innerhalb der Marschierenden stießen.

„Gruppen zwischen 20 und 30 Personen  konnten angesichts fehlender Einsatzkräfte immer wieder aus dem Aufmarsch ausscheren und Jagd auf Menschen machen. Parolen wie ‚Wir sind die Macht, wir sind die Fans, Adolf Hitler Hooligans’ oder ‚Haut den Roten die Schädeldecke ein’ hallten durch die Nacht, während Fahrradpoller heraus gerissen und Steine aufgenommen wurden.“

Die Zeit veröffentlichte am 7.September. einen weiteren Clip, unmittelbar vor dem „Hase“-Video aufgenommen und deutlich dramatischer als jenes.

Er zeigt das Entstehen eines Ereignisses, das der unbefangene Beobachter ohne weiteres als Hetzjagd bezeichnen würde, wüsste er nicht, dass diese Wortwahl von Mitarbeitern der Sicherheitsbehörden als gezielte Desinformation gebrandmarkt wird.

In diesem Clip protestiert eine Handvoll jugendlicher Personen lautstark am Straßenrand gegen den rassistischen Aufmarsch. Daneben sind zwei oder drei Polizeifahrzeuge zu erkennen. Erst gehen einige Rechte auf die Nazi-Gegner zu, dann verlassen mehr und mehr Leute den Demonstrationszug und bewegen sich in Richtung der Protestler. Für die wird die Situation unangenehm; sie weichen zurück. Plötzlich stürmen ein paar Schläger auf sie los, und in Sekundenschnelle sind es zwanzig, fünfzig oder noch mehr, die in vollem Tempo über die Straße rennen. Alle verschwinden in einer Seitenstraße. Kein Polizist hat sein Fahrzeug verlassen.

Für die entscheidenden Sekunden, in denen die Jagd startet und das Rudel zur Meute wird, ist die Übereinstimmung der Jagenden wesentlich. Je höher sie ist und je weniger sie gestört wird, desto leichter werden die Aggressionen enthemmt. Die Freisetzung der wölfischen Instinkte, die Entfesselung der Wildheit ist ein Kollektiv-Phänomen. Eine Meuthenbildung hat schon lange vorher stattgefunden. Die Wandlung zur Meute vollzieht sich wie eine Kettenreaktion, bei der man nur noch einen Buchstaben abstreifen muss...

Vollends erschüttert wurde die Behauptung einer Desinformationskampagne durch das Zeugnis eines jüdischen Lokalbesitzers, sein Restaurant „Schalom Chemnitz“ sei in der Nacht des 27. August von einer Gruppe vermummter Nazis angegriffen worden. Die Schläger riefen „Judenschwein, verschwinde aus Deutschland“ und verletzten ihn mit einem Steinwurf an der Schulter. Der Polizeibericht von Chemnitz vermerkt zum gleichen Zeitpunkt: „100 vermummte Personen (rechts) suchen Ausländer. 20 bis 30 vermummte Personen mit Steinen bewaffnet in Richtung Brühl, Gaststätte 'Schalom'." Schließlich sprechen die in Chemnitz gezeigten Hitler-Grüße eine deutliche Sprache.

Zurück zum „Hase“-Video. Hier hat die unbekannte Frau die Brisanz der Situation augenblicklich erfasst. Ihr Ordnungsruf hat die Kette der Reaktionen unterbrochen und dazu beigetragen, dass es nicht zum Äußersten kam, obwohl die Akteure dazu bereit waren. Das ist das Ungewöhnliche an diesem Clip und ein starkes Argument für seine Authentizität. Denn die Realität hat immer mehrere Facetten.

Die Vorwürfe von Falschinformationen und einer Medienkampagne gegen Chemnitz fallen ungeschmälert auf diejenigen zurück, die sie erhoben haben. Dabei handelte es sich nicht einfach um eine weitere, diesmal durch den Verfassungsschutz vorgetragene Intrige des Innenministers gegen seine Bundeskanzlerin und ihren Sprecher. Tatsächlich war es der Eintritt Seehofers und Maaßens in den Feldzug der AfD gegen die „Lügenpresse“. Ihre erste Kampfhandlung auf diesem Feld hat immerhin den Vorteil zu zeigen, wohin der Hase laufen soll: Der Verfassungsschutz möchte steuern, welche Clips den Weg in eine breitere Öffentlichkeit finden und welche nicht. Die AfD ist begeistert.