Samstag, 09.09.2023 / 16:55 Uhr

Priester, Puszcza und Piroggen: Unter die Haut

Von
Jörn Schulz

Hatte sie sich verschwommen? Fand sie es hier besonders schön? Die Warschauer Seejungfer

 

In Zeiten des bei uns weiterhin verbreiteten Home Office sehen wir unsere Kolleg:innen seltener, als es früher der Fall war. Deshalb sind wir auch schlechter über ihre verborgenen Talente und obskuren Interessen informiert. Eine Auslandsreise bietet die Gelegenheit, hier auf den aktuellen Stand zu kommen. So hat eine Kollegin einen neuen Anwendungsbereich für ihre gestalterischen Ambitionen gefunden: die edle Kunst des Tätowierens. Da sie neu in diesem Geschäft ist, bedarf es Freiwilliger, und es ist naheliegend, den Kolleg:innen auf die Pelle zu rücken.

Nun besteht zwar keinerlei Zweifel an ihrer künstlerischen Kompetenz, auch gibt es eine Auswahl schöner Motive, aber so eine Tätowierung – nun, das will wohl überlegt sein, denn so leicht wird man sie ja nicht wieder los. Im Kontext abendlicher Freizeitgestaltung kommt natürlich auch die Frage auf, ob es für das Tätowieren eine Promillegrenze gibt, und wenn ja, ob es sich um eine Ober- oder Untergrenze handelt. Auch der Platz muss sorgsam ausgewählt werden, wenn man sich irgendwann als Gesamtkunstwerk präsentieren will. Nach langem Zögern und zähen Verhandlungen sind nun erste Ergebnisse zu bewundern und es werden Wetten abgeschlossen, wie viele Tätowierwillige es wohl geben wird.

Unterdessen werden Kontakte geknüpft, es gibt erste Treffen, manche von uns gewünschten Gesprächspartner:innen sind allerdings schwer zu erreichen, weil gerade Wahlkampf ist. Von dem haben wir bei unseren Streifzügen bislang nichts bemerkt, auch Wahlplakate sind nicht zu sehen. Das, so hören wir, liegt daran, dass Plakate nur in den letzten zwei Wochen vor der Wahl aufgestellt werden dürfen. Was womöglich daran liegen könnte, dass die im Fernsehen, vorsichtig ausgedrückt, deutlich präsentere PiS sich einen Vorteil von einem kurzen Straßenwahlkampf verspricht.

Über die Wahl werden Sie am 22. September selbstverständlich viel mehr erfahren, an dieser Stelle kann, weil es ohnehin keine Überraschung sein dürfte, schon verraten werden, dass Rechte, Rechtsextreme, Autoritarismus und „illiberale Demokratie“ eine bedeutende Rolle in der Ausgabe spielen werden. Immerhin ist der Widerstand hier deutlich stärker ausgeprägt als in Ungarn, wo wir ja auch mal waren, aber weitgehend vergeblich nach Linken suchten. Hat sich womöglich so etwas wie eine Widerstandstradition erhalten? Im Realsozialismus dürfte Polen den Protestrekord gehalten haben, und das Land hat mit Solidarność die letzte bedeutende rätedemokratische Bewegung des Planeten hervorgebracht.

Wie bei Jungle-Reisen üblich, kommen auch Fragen von geringerer welthistorischer Bedeutung auf. Alkohol darf auf der Straße nicht getrunken werden. An Gewässer aber schon. Warum ist das so? Und ist der schöne Springbrunnen in unserer Näher vielleicht auch ein Gewässer?

Warum führt eine so weit vom Meer entfernte Stadt wie Warschau eine Meerjungfrau als Wappen? Die schönste Erklärung: Sie fand eine Sandbank nahe der Altstadt so reizvoll, dass sie sich dort niederlassen wollte. Aus Versehen wurde sie von Fischern im Netz gefangen, die sie aber, von ihrem Gesang betört, umgehend wieder freiließen. Ein reicher Kaufmann hingegen fing und sperrte sie ein, doch die Fischer hörten ihr Weinen und befreiten sie. Das war nett von den Fischern, überzeugender ist allerdings die Erklärung, dass sich das Wappen peu à peu aus früheren Schimären entwickelt hat. Aber wer weiß? Sollte sie auftauchen, während wir am Flussufer Bier trinken, werden wir sie fragen. Und sie natürlich auf ein Bier einladen.