Freitag, 08.05.2020 / 10:53 Uhr

Meinungsdiktatur und Polizeistaat

Von
Amed Sherwan

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Als ich neu in Deutschland war, hörte ich von den anderen Jugendlichen in meiner Erstaufnahme, dass sie viel lieber in Schweden als in Deutschland gelandet wären. Ich hatte nichts zu verlieren, hangelte mich mit einem Wochenendticket über viele Regionalbahnstrecken in den Norden und kam glücklich an der Grenze zu Dänemark an, nur um direkt am Bahnhof von der Bundespolizei abgegriffen und in eine weitere Erstaufnahmestelle für Jugendliche gesteckt zu werden.

Ich erinnere mich noch gut daran, dass die Polizisten sehr korrekt mit mir umgingen. Sie nahmen mich fest, ohne mir weh zu tun oder mich anzuschreien. Ich erinnere das so genau, weil es in großem Kontrast zu meiner Verhaftung in Erbil stand, wo die Polizei mich angebrüllt, getreten und geschlagen hatte, um mich im Anschluss auf der Wache zu foltern, bevor sie mich den Peinigern im Gefängnis auslieferten.

Es ging damals nur um eine eher kindliche Religionskritik auf Facebook. Hätte ich im Irak ein Schild mit »Allah is Gay« hochgehalten, hätte die Polizei mich dafür verprügelt und ins Gefängnis gesteckt, wenn ich nicht schon lange vor ihrem Eintreffen auf offener Straße ermordet worden wäre. Bei meiner »Allah is Gay«-Aktion auf dem CSD in Berlin wurde mein Recht auf freie Meinungsäußerung hingegen von der Polizei geschützt. 

An vielen Orten der Welt haben die Menschen keinen Zugang zu sauberem Wasser und schon gar nicht zu Seife. Sie haben keine Masken und können keinen Abstand zu anderen Menschen halten.

Ein Bekannter von mir war als Jugendlicher zur falschen Zeit am falschen Ort in Damaskus und wurde als mutmaßlicher Aufständischer von der Polizei aufgegriffen und in den Folterknast gesperrt, aus dem er viele Wochen später nur durch hohe Lösegeldzahlungen seiner Eltern entkommen konnte. Er erzählte mir nie die Details, aber wenn wir zusammen unterwegs waren, reagierte er heftig, wenn er überraschend Uniformierte sah. Selbst beim Anblick von Rettungssanitätern fiel er mal vor Angst in eine Starre.

Ich weiß, dass auch Menschen in Deutschland Opfer von Polizeigewalt werden können. Es gibt zahlreiche Beispiele für heftige und zum Teil auch für tödliche rassistische Übergriffe durch Beamte. Diese Tatsache will ich weder leugnen, noch verharmlosen. Aber, liebe Wutbürger, ihr fallt da durch das Raster, also entspannt euch, ihr lebt nicht in einem Polizeistaat und habt wirklich keine Ahnung, was Meinungsdiktatur bedeutet.

Irakisch-Kurdistan gilt als einer der sichersten Gegenden im Mittleren Osten. Und verglichen mit der Situation in allen Ländern rundherum, herrscht in meiner Herkunftsregion tatsächlich auch recht große Meinungsfreiheit. Aber wenn du einen falschen Witz über die Regierung, den Glauben oder sexuelle Vielfalt machst, bist du tot. Nicht unbedingt, weil der Staat dich tötet, sondern weil der Staat dich nicht vor Übergriffen schützt.

Überall auf der Welt werden Menschen inhaftiert, gefoltert oder getötet, weil sie ihre Meinung sagen. Ihr könnt »Merkel muss weg« fordern, die Lügenpresse beschimpfen und alternative Fakten verbreiten, ohne dass euch irgendwas passiert. Ihr könnt in der Regel sogar Polizisten anbrüllen und anspucken, ohne dass ihr dafür belangt werdet. Oh, ihr werdet als Verschwörungstheoretiker diffamiert und lächerlich gemacht? Ne, das ist natürlich total krasse Diktatur!

 

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(Moria, Bild: MCAT/ Muhannet al-Mandil)


An vielen Orten der Welt haben die Menschen keinen Zugang zu sauberem Wasser und schon gar nicht zu Seife. Sie haben keine Masken und können keinen Abstand zu anderen Menschen halten, und eine Wohnung für Quarantäne wäre für sie Luxus. In Moria stecken Menschen in Zelten fest, stehen in langen Schlangen für die Essensausgabe und müssen zu Hunderten auf dasselbe Klo. Oh, ihr müsst beim Einkaufen Masken tragen und manchmal warten, bevor ihr in einen Laden gehen könnt? Mir kommen die Tränen!

Die meisten meiner gleichaltrigen Freunde mit Fluchterfahrung haben ihre Eltern und Geschwister schon seit fünf Jahren nicht mehr in den Arm nehmen können. Sie können nicht da sein, wenn ihre Großeltern im Sterben liegen oder ihre Eltern krank sind. Einige meiner Freunde können nie die Grenze nach Dänemark kreuzen. Oh, ihr seid dazu aufgefordert, den Familienkontakt zu reduzieren und könnt nicht in eure Zweitwohnung? Das tut mir aufrichtig leid!

Ganz im Ernst. Man kann nicht ein Leid gegen das andere aufwiegen. Ich weiß, dass es Leute gibt, die durch die momentanen Maßnahmen in Existenzangst sind. Ich weiß auch, dass einige ernste psychische Probleme haben oder Gewalt ausgesetzt werden. Das ist ganz furchtbar. Aber was genau tut ihr für diese Menschen? Und geht es euch eigentlich um andere als euch selbst? Ach ja, ich vergaß. Euch ging es schon immer besser als anderen? Klar, da habt ihr natürlich ein Gewohnheitsrecht. 

Ach, was fällt mir eigentlich ein, euch hier mit der Welt da draußen zu belästigen. Schon scheiße mit den ganzen Flüchtlingsgesichtern, wenn sie auch noch anfangen euch ihre Meinung zu sagen. Da geht dann vielleicht doch die Grenze, nicht wahr?