Dienstag, 28.11.2023 / 23:36 Uhr

Israel: Die Schattenseiten des Geisel-Freikaufs

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Gastbeitrag von Antje C. Naujoks

Jubel bei Freilassung von Gefangenen, Bildquelle: Screenshot CBS

Um Geiseln aus dem Gazastreifen zu retten, stimmte Israel der Freilassung palästinensischer Häftlinge mit Terrorhintergrund zu. Nicht nur, dass sie wie Helden bejubelt in Ramallah begrüßt werden, ist ein weiterer Schlag ins Gesicht der israelischen Gesellschaft und erst recht ins Gesicht ihrer Opfer und deren Familien.

 

Israel hält das Credo hoch, keinen Staatsbürger hinter feindlichen Linien zurückzulassen. Das ist ein wichtiger Bestandteil des ungeschriebenen Vertrags zwischen den Israelischen Verteidigungsstreitkräften (IDF) und den Bürgern, die in Israels Armee dienen. Und doch blickt das Land unter anderem auf das Trauma rund um den 1986 mit seinem Flugzeug über der libanesischen Stadt Sidon abgestürzten Navigator Ron Arad. Der Pilot der Maschine konnte zwar in einer dramatischen Rettungsaktion in Sicherheit gebracht werden, doch Arad fiel in die Hände der schiitischen Amal-Miliz.

Die Verhandlungen um seine Freilassung blieben ergebnislos, sodass bis auf den heutigen Tag keine gesicherten Erkenntnisse über sein Schicksal vorliegen. Dieses nationale Trauma der israelischen Gesellschaft als auch der Politik des Landes spielte im Hinblick auf den 2006 von der Hamas in den Gazastreifen entführten Soldaten Gilad Schalit eine große Rolle. Schalit kam nach über fünf Jahren in Hamas-Geiselhaft frei, da Israel der Freilassung von 1.027 palästinensischen Häftlingen zustimmte, die wegen terroristischer Aktivitäten in israelischen Gefängnissen Haftstrafen absaßen; darunter Mörder, die zusammen das Leben von rund zweihundert Israelis ausgelöscht haben ebenso wie der heutige Hamas-Anführer im Gazastreifen Yahya Sinwar.

Präzedenzlose Konstellationen

Die Ereignisse vom 7. Oktober brachten Israel unzählige präzedenzlos Szenarien. Dazu gehört die Verschleppung mehrerer IDF-Angehöriger, doch vor allem die in der israelischen Geschichte beispiellose Entführung von rund zweihundert Zivilisten jedweden Alters, vom Kleinkind bis zum betagten Senioren. Der Lichtblick für Israels Nationalstolz, den die komplizierte Befreiungsaktion der Soldatin Ori Megidish brachte, war nur von kurzer Dauer, denn schon bald darauf fanden die IDF im Gazastreifen die Leichen von zwei israelischen Geiseln, einer Soldatin und einer Zivilistin, die erst dort ermordet worden waren.

Es dauerte lange, bis bei den zähen Verhandlungen mithilfe der USA und Katar Übereinkünfte zur Freilassung von mindestens fünfzig israelischen Geiseln ausgehandelt waren, wobei es eine schwierige, nie zuvor in der Geschichte des Landes anstehende Entscheidung, war, welche die Regierung zu fällen hatte. Doch die überwältigende Mehrheit der Kabinettsmitglieder sprach sich dafür aus, dass man alles versuchen müsse, um israelische Staatsbürger aus der Geiselhaft zu befreien. Dass Israel erneut einen hohen Preis zu zahlen hat, sehen nicht alle so – auch wenn sie dazu die Wahrheit verdrehen müssen.

Internationale Diffamierung

Dass sich Israel vom Internationalen Roten Kreuz (IRK) verraten fühlt, ist nicht neu. Das kennt man schon von Schalits fünfjähriger Geiselhaft, wo es vonseiten des IRK auch bloß lakonisch hieß, die Hamas lasse einen Besuch nicht zu. Anscheinend glänzt das IRK nur dann gerne mit seinen Autos und Fahnen im Rampenlicht der Kameralichter, wenn seine Mitarbeiter wie in den vergangenen Nächten Geiseln aus den Händen vermummter Hamas-Terroristen in Empfang nehmen.

Genauso wenig wie das erbärmliche Auftreten des Roten Kreuz Israel und die jüdische Welt wundert, genauso wenig nahm man eines der neuesten Postings des antiisraelischen Supermodels Bella Hadid als etwas Neues unter der Sonne wahr, in dem Hadid meinte: »Israel ist das einzige Land der Welt, das Kinder als Kriegsgefangene festhält.«

Kriegsgefangene? Von der Justiz einer Demokratie in gesetzlich festgelegten Gerichtsverfahren verurteilte Verbrecher, die wegen terroristischer Akte hinter Gitter wanderten, dürften wohl schwerlich in diese Kategorie fallen. Zum anderen scheint Hadid wohl entfallen zu sein, dass sich in den Klauen der Hamas nicht nur Dutzende israelische Kinder befinden, die in ihren eigenen Häusern überfallen und sozusagen aus ihren Betten heraus entführt wurden, sondern darunter sogar ein zehn Monate altes Baby ist.

Den Fass dem Boden schlug allerdings die von der Sky News-Moderatorin Kay Burley, basierend auf der Behauptung eines Geisel-Unterhändlers, gestellte Frage aus: Weil Israel drei palästinensische Häftlinge für die Rückführung einer israelischen Geisel freilasse, liege doch wohl auf der Hand, so Burleys verquere Logik, dass »Israel nicht denkt, dass palästinensische Leben gleich viel wert sind wie israelische Leben«. Israels Regierungssprecher Eylon Levy, der wegen seiner Augenbrauen-Bewegung Interview-Geschichte schrieb, parierte, dass Israel keine Geiseln genommen habe, sondern das Land Häftlinge freilasse, die Blut an den Händen haben, um eigene, unschuldige Kinder zu befreien. Er schloss seinen Kommentar deutlich: »Das ist eine wirklich widerwärtige Anschuldigung.«

Jubelnde Menge

Während in Israel wegen der emotionalen Familienwiedervereinigungen kaum ein Auge trocken blieb und sich ein ganzes Land Sorgen um die Verfassung der Geiseln macht, die teilweise erst jetzt erfahren, dass ihre Angehörigen ermordet wurden und sie nirgendwo hin zurückkehren können, weil ihre Wohnhäuser und Gemeinschaften zerstört sind, jubelte die palästinensische Gesellschaft.

Sowohl am ersten als auch zweiten Abend des vergangenen Wochenendes wurden mehrere Dutzende palästinensische Terroraktivisten, die in israelischen Gefängnissen Haftstrafen verbüßen, an einen Grenzübergang in Bethunia nahe Ramallah gebracht. Schon von Weitem konnten sie dort die hupenden Autos und die jubelnde Menge hören. Die am Wegesrand entfachten Freudenfeuer und das Feuerwerk waren ebenso wenig zu übersehen wie die palästinensischen Flaggen, die streckenweise allerdings im Grün der Hamas-Flaggen untergingen.

 

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Auf der anderen Seite der Demarkationslinie angekommen, wurden diese Ex-Häftlinge, die wegen diverser terroristischer Aktivitäten, darunter versuchter Mord, verurteilt worden waren, durch die Menschenmenge geschleust. Damit jeder einen Blick auf »die Helden« erhaschen konnte, wurden sie dabei auf Schultern getragen. Diese Menschen preisend, wurde zu weiteren Bluttaten aufgerufen. Der TV-Sender Sky News gab unkommentiert der Verherrlichung der Hamas und den Aufrufen zu weiteren Mordtaten eine Bühne. Die BBC titelte, dass sich durch die »Freilassung von palästinensischen Häftlingen für das Westjordanland ein Fenster der Hoffnung öffnet«.

Dabei waren gar nicht weit entfernt, in der autonomen palästinensischen Stadt Tulkarem, die direkt an Israels Kernland angrenzt, bereits weitere Bluttaten durch Palästinenser verübt worden, allerdings an eigenen Landsleuten. Mindestens zwei palästinensische Männer wurden wegen des Verdachts der Kollaboration mit Israel auf grausame Weise hingerichtet und ihre Leichen von einer breiten Öffentlichkeit geschändet.

Wir werden sie wiedersehen …

Israel hatte darauf bestanden, dass, anders als beim Gefangenenaustausch gegen Schalit, dieses Mal keine Mörder freikommen. Dennoch sind darunter Palästinenser, die wegen versuchten Mordes verurteilt wurden. Gerade sie genießen im Westjordanland VIP-Status, wie beispielsweise Israa Jaabis. Als sie im Herbst 2015 vor den Toren Jerusalems ihr Auto in die Luft jagte und einen israelischen Polizisten schwer verletzte, erlitt sie selbst Verbrennungen, wurde jedoch von Israel medizinisch versorgt und gerettet. Sie gilt als besonders schwer betroffene »Märtyrerin«, weil Israel ihr eine schönheitschirurgische Nasen-OP versagte; jetzt kann sie dafür ja das Geld verwenden, dass sie während der Haft von der Palästinensischen Autonomiebehörde monatlich als »Gehalt« bekommen hat.

Es ist eine bittere Erfahrung Israels, dass wegen Terrorakten verurteilte Palästinenser zu ihrem blutigen Handwerk zurückkehren, sobald sie aus der Haft entlassen werden. In weniger als drei Jahren nach ihrer Freilassung gegen Gilas Schalit waren – entgegen den Freilassungsauflagen – sechsundsiebzig Palästinenser wieder terroristisch aktiv geworden, und zusätzliche sechsundfünfzig hatten sich erneut für die Hamas engagiert. Innerhalb von weniger als vier Jahren bezahlten sechs Israelis die Freilassung dieser Terroristen mit ihrem Leben, weil sie von einem davon ermordet wurden; sehr viel mehr wurden verletzt und teilweise für den Rest ihres Lebens schwer gezeichnet.

Opfer und Täter Tür an Tür

In Israels Demokratie müssen die Namen von vorzeitig aus der Haft Freigepressten vom Justizministerium vorab veröffentlicht werden. Privatleute wie öffentliche Körperschaften haben das Recht, Widerspruch gegen ihre Freilassung beim Obersten Gerichtshof einzulegen. Diese Petitionen wurden vom Gerichtshof zurückgewiesen, auch zum Schrecken der Jerusalemerin Moria Cohen, stehen dieses Mal doch nicht weniger als vierundsiebzig mit Wohnsitz in Ost-Jerusalem und somit im Besitz eines israelischen Personalausweises auf der Liste der potenziell der Freilassung entgegenblickenden dreihundert palästinensischen Sicherheitshäftlinge.

Erst vor wenigen Wochen hatte Cohen aufgeatmet, weil die Täterin, die sie im Dezember 2021 mit einem Messer verwundet hatte, als sie mit ihren fünf Kindern auf dem Weg zum Kindergarten war, nach einem langwierigen Gerichtsverfahren endlich verurteilt worden war. Die bei ihrer Tat 14-Jährige hatte während des Prozesses keine Verantwortung für ihren Terrorakt übernommen, keine Reue gezeigt und schon gar nicht um Verzeihung gebeten. Nun steht sie auf der Liste der dreihundert Kandidaten für eine Freilassung.

In einem Interview meinte der Ehemann der 28-jährigen Cohen zur möglichen Freilassung der jungen Palästinenserin: »Die Kinder waren bei meiner Frau, als sie mit dem Messer attackiert wurde. Wir versprachen den Kindern, sie würden die (die Terroristin) nie wieder sehen (…). Ich weiß nicht, was passieren wird, wenn meine Frau auf die Straße geht und diesen Teufel vor sich sieht.« Dazu muss man wissen: Beide Frauen wohnen in unmittelbarerer Nachbarschaft in Jerusalem.

 

Beitrag zuerst erschienen auf Mena-Watch