Jospins Versprecher

Frankreichs Linksregierung und das System der sozialen "Konzertierung"

Nach anderthalb Monaten im Amt hat die französische rosa-rot-grüne Linksregierung bereits die ersten, vielbeachteten Rückzieher gemacht. So hält der Renault-Konzern an seinem Beschluß fest, sein Werk im belgischen Vilvoordebis Jahresende zu schließen. Noch im März hatte Lionel Jospin gemeinsam mit den Vilvoorde-Arbeitern in Brüssel demonstriert und ihnen kurz vor dem entscheidenden zweiten Wahlgang im Mai zugesagt, auf Alternativlösungen zu drängen. Schließlich ist der französische Staat mit Anteilen von 47 Prozent größter Renault-Aktionär.

Trotz dieser und anderer Enttäuschungen sind die Popularitätswerte der Regierung noch denkbar gut. Anfang Juni hatten 44 Prozent der Befragten eine positive Meinung über Jospin als Regierungschef, im Juli stieg dieser Wert auf 52 Prozent. Aber auch Präsident Chirac hat von der Cohabitation mit Jospin profitiert und kletterte auf 46 Prozent.

Den meisten Beobachtern zufolge verdankt Jospin diesen Zuspruch der Betonung der Moral in der Politik - etwa in seiner Regierungserklärung vom 19. Juni - sowie dem Bemühen seiner Regierung um "Konzertierung". Das bedeutet, daß die Ministerien zu den verschiedenen sozialen Interessengruppen Kontakt halten, um sie in einen Konsens über die "notwendigen Reformen" von Staat und Wirtschaft einzubinden.

Eine Ausnahme bildet Bildungsminister Claude Allègre, der von Anfang an mit feschen Sprüchen die "Entfettung des Mammuts Bildungswesen" forderte und ausrief: "Die Mitverwaltung des Ministeriums durch die Gewerkschaften hat jetzt ein Ende." Aber auch Allègre traf sich am 23. Juni mit Gewerkschaftern seines Bereichs - zwecks "Konzertierung". Dem konservativen Figaro fiel auf, daß die Gewerkschaften "keine Antwort auf ihre Hauptforderung erhielten, im Herbst die 5 000 Lehrerstellen wieder einzurichten, die die Juppé-Regierung (1996) abgebaut hat."

Mit ihren angekündigten Privatisierungen geht die neue Regierung weiter als ihre Amtsvorgänger von der Rechten unter Alain Juppé. Während diese zum Beispiel zunächst 25 bis 30 Prozent des Télécom-Kapitals privatisieren wollten, gehen ab Herbst 1997 voraussichtlich 49 Prozent der Anteile an die Börse. Am 17. Juli, drei Wochen nach Bekanntwerden dieser Pläne, wurde publik, daß der sozialistische Ex-Minister Michel Delebarre im Hinblick auf deren Börsengang mit einer Mission "vertiefter sozialer Konzertierung" bei France Télécom beauftragt worden war.

Der Zweck dieser Mission scheint klar: Delebarre soll die Beschäftigten für den bereits feststehenden Beschluß gewinnen, den ihre Mehrheitsgewerkschaften, die KP-nahe CGT und die links-unabhängige SUD, bisher bekämpfen. Im Wahlkampf hatte Jospin für den Fall von Privatisierungsabsichten noch die Befragung der Beschäftigten versprochen. Industriestaatssekretär Christian Pierret erklärte jedoch am 26. Juni: "Die Mitarbeiter werden konsultiert werden; das bedeutet jedoch nicht notwendigerweise, daß es eine Abstimmung gibt."

Privatisierungsplänen für den Bahnbetreiber SNCF und die Fluggesellschaft Air France erteilte indes der zuständige KP-Transportminister Jean-Claude Gayssot bereits eine Absage. Die SNCF hat sich - gegen die Übernahme von 20 Milliarden Franc ihrer Schulden durch den Staat - sogar zur Neueinstellung von 2 000 Beschäftigten verpflichtet. Die Bahngesellschaft ist damit das erste öffentliche Unternehmen, das der allgemeinen Tendenz zum Abbau von Arbeitsplätzen entgegenläuft; mittlerweile hat auch die Post ihre Absicht erklärt, 25 000 Neueinstellungen vorzunehmen.

Die neuen SNCF-Arbeitsplätze gleichen jedoch nur knapp die 1997 schon vernichteten 2 200 Stellen aus. Und: Im Gegenzug hat die KP die "Strukturreform" der SNCF geschluckt, die darin besteht, die Bahngesellschaft in zwei unabhängige Teile zu zerschlagen - die "unrentable" Verwaltung der Infrastruktur und den "rentablen" Transportbetrieb.

Die "Reform" folgt den EU-Vorgaben aus Brüssel, welche die Herstellung von Konkurrenz auf dem Eisenbahnsektor bezwecken. Unter dem Titel "Die SNCF und die Linie der KP" kommentiert die Zeitung Le Monde am 11. Juli: "Im Austausch (gegen die Stellenschaffungen) erhält Jospin von den Kommunisten die Fortführung der SNCF-Reform." Das Blatt fährt fort: "Ein Anzeichen für die künftige Position der KP, was die Öffnung des Kapitals von France Télécom betrifft?" Wenige Tage später äußerte sich die KP-Zeitung L'Humanité jedenfalls tendenziell positiv: "Der Staat bleibt Herr bei France Télécom", da er 51 Prozent des Kapitals behalte. Unter der Juppé-Regierung hätte das Blatt keine Minute gezögert, deren 49prozentige Privatisierung anzuprangern.

Die Wirtschaftzeitschrift Expansion hatte schon am 12. Juni geurteilt, die Zuständigkeit eines kommunistischen Ministers für ein Ressort, unter das auch die SNCF fällt, erinnere "stark an eine Falle". Die Zeitschrift hält dies jedenfalls für "ein geschicktes politisches Manöver von Lionel Jospin".

Durch die Erhöhung der staatlichen Mietbeihilfen sowie des gesetzlichen Mindestlohns SMIC - nur um magere vier Prozent, die Juppé-Regierung hatte im Vorjahr noch 4,5 Prozent versprochen - werden die Staatsausgaben um rund zehn Milliarden Franc steigen. Nachdem die Sozialisten sich bereits in ihrem Wahlprogramm auf kostenneutrale Reformen festgelegt hatten, kündigten sie im Juni an, die zehn Milliarden im Staatshaushalt andernorts wieder einzusparen. Ansonsten sollten zwei Experten durch eine "Sichtung" der Staatsfinanzen das Erbe der Vorgängerregierung bilanzieren und klarstellen, wieviel noch eingespart werden muß, um die vom Maastrichter Vertrag für Währungsunion-Kandidaten festgelegte Obergrenze eines dreiprozentigen Defizits einzuhalten.

Am 21. 7. veröffentlichten die Experten ihr Ergebnis, wonach das Defizit im Staatshaushalt derzeit 3,5 bis 3,7 Prozent beträgt und damit noch rund 32 Milliarden Franc (über neun Milliarden Mark) gefunden werden müssen. Die Jospin-Regierung beschloß daraufhin, wie angekündigt zehn Milliarden Franc aus den laufenden Staatsausgaben, die restlichen 22 Milliarden Franc durch höhere Besteuerung der Unternehmensgewinne zu beschaffen. Dazu soll die Unternehmenssteuer von 36,6 Prozent auf 41,6 Prozent angehoben werden. Während die Kapitalverbände und die bürgerliche Rechte grollten, kommentierte der größte Teil der Presse die Maßnahmen wohlwollend, da die privaten Haushalte auf diesem Wege nicht stärker belastet würden.

Von den zehn Milliarden Franc Einsparungen im Haushalt sollen zwei Milliarden Franc aus dem Rüstungsbudget entnommen werden. Die restliche Summe wird durch mehrere Sparmaßnahmen hereingeholt, deren meistbeachtete die Einführung einer Einkommensobergrenze für das Kindergeld ist. Künftig soll das Kindergeld nur noch an Haushalte mit einem Monatseinkommen bis zu 25 000 Franc (8 000 Mark) ausbezahlt werden. Etwa zehn Prozent der bisherigen Kindergeldempfänger werden künftig herausfallen. Nach bisherigem Recht fließt die Familienunterstützung in Frankreich einkommensunabhängig ab dem zweiten Kind, während Eltern mit nur einem Kind grundsätzlich keinen Anspruch haben. Die Motivation der Kindergeldzahlung ist offenkundig weniger ökonomischer denn vielmehr "natalistischer" (geburtenfördernder) Natur.

Die Proteste gegen die Einführung der Einkommensobergrenze werden denn auch aus unterschiedlichen Motivationen gespeist. Konservative Politiker und Familienverbände ziehen katholisch-familienpolitische oder "nationale" Argumente ("echte" französische Geburten statt Immigrantenkinder) hervor. Kommunisten und Gewerkschafter hingegen fürchten, die Neuregelung sei nur der Anfang, Sozialleistungen generell unter Einkommensvorbehalt zu stellen. An einer Protestdemonstration vor der Nationalversammlung im Juni nahmen daher bürgerliche Parlamentarier, unter ihnen die stockkonservative Anti-Abtreibungs-Vorkämpferin Christine Boutin (UDF), ebenso teil wie KP-Abgeordnete, unter ihnen der "orthodoxe" Hardliner und Koalitionsgegner Maxim Gremetz.

Zugleich ist mit der Vorgabe der Ausgaben-Reduzierung klar, daß auf Privatisierungseinnahmen, die bereits von der Vorgängerregierung in das Budget eingeplant wurden, nicht verzichtet werden kann, will man nicht die gesamte Rechnung durcheinanderwerfen. Die fest im Staatshaushalt eingeplanten 35 Milliarden Francs für die Privatisierung der Télécom spielen eine wichtige Rolle, will die Jospin-Regierung die Maastricht-Kriterien einhalten; daher der rasche Meinungswandel der Regierung bezüglich der France Télécom.

Der Rüstungskonzern Thomson soll aber in Staatsbesitz bleiben, während der Versicherungsriese GAN und sein Bank-Anhängsel, das Kreditinstitut CIC, ebenfalls privatisiert werden soll. Die 1981 gewählte Linksregierung hatte noch 46 Unternehmen (darunter 39 Banken und fünf Industriekonzerne) verstaatlicht.