Ein Nachruf auf Peter Hacks

Die Dialektik von Venus & Stalin

Peter Hacks hatte die Entwaffnung der Gesellschaft im Sinn. Zum Tod des Schriftstellers, der zum Klassiker wurde.

Am 28. August ist der Schriftsteller Peter Hacks gestorben. Es dauerte keinen Tag, da waren die Medien gesättigt mit dieser Nachricht. Nachdem Peter Hacks 1976 die Ausbürgerung von Wolf Biermann ausdrücklich begrüßt hatte, gab es keinen publikumswirksamen Platz mehr für seine Arbeiten. Kein großes Theater und kaum eine Seite im Feuilleton. Als wanderte er in Ovidscher Verbannung an der Schwarzmeerküste – und nicht im märkischen Sand –, so außerhalb von Gegenwart und Raum befand er sich. Dagegen lief die Nachricht von seinem Tod selbst über die Monitore des »Fahrgastfernsehens« in der Berliner U-Bahn, und der Provinzsender MDR gab die Losung aus: »Der sozialistische Klassiker ist tot.« Allgemeines Aufatmen. Biermanns Prophezeiung, der den Dichter schon vor langer Zeit eine »parfümierte Literatenleiche« nannte, hat sich endlich erfüllt. Mission accomplished.

Hacks, der gegen den Ratschlag Brechts aus der 1955 noch existenten Boheme München-Schwabings in die junge DDR übersiedelte, hätte auch in der BRD eine Zukunft haben können. Aber wie er dem jüngeren Schriftstellerkollegen und damaligen Studenten Ronald M. Schernikau noch 1987 mitteilen wird: »Falls Sie vorhaben, ein großer Dichter zu werden, müssen Sie in die DDR; sie allein stellt Ihnen – auf ihre entsetzliche Weise – die Fragen des Jahrhunderts. Sollte hingegen Ihr Talent darin liegen, Erfolg zu haben und Menschen zu erfreuen – in dem Fall freilich würde ich mir einen solchen Entschluss noch überlegen.«

»Die Sorgen und die Macht« und »Moritz Tassow«, die beiden Gegenwartsdramen der sechziger Jahre, die sich mit dem sozialistischen Alltag auseinandersetzen, führen zu massivem Ärger mit der Obrigkeit. Mehrmals muss er sie umarbeiten und sich in lästigen, weil unergiebigen Debatten rechtfertigen. Eine Konsequenz, die Hacks daraus zieht, ist die Hinwendung zu den erprobten Stoffen der Antike. Die Kunst im Sozialismus, in einer »postrevolutionären Gesellschaft«, als die er die DDR sah, habe nicht kritisch über die Negativität der Verhältnisse aufzuklären, sondern solle durch Darstellung positiver Möglichkeiten zur Humanisierung der Gesellschaft beitragen.

Die Beschreibung von Sinnlichkeit »in ihrem dreifachen Wesen als statthabendes Glück, Störung der Ordnung und Vorwegnahme der Utopie« ist eine Möglichkeit, das Verhältnis von Utopie und Realität zu gestalten und als Gegenstand einer sozialistischen Klassik zu behandeln.

Dabei bearbeitet Hacks die Vorlagen der griechischen Antike ausgesprochen behutsam. Er tilgt die Anachronismen, also konkrete Anspielungen auf die Gegenwart bei der Entstehung des Stücks, strafft die Handlung und konzentriert sich auf ein dialektisches Verhältnis von Genuss und Arbeit. Hacks’ Bearbeitung des Stücks »Der Frieden« von Aristophanes wird unter der Regie von Benno Besson 1962 zu einem epochemachenden Bühnenfest und einem der größten Erfolge des Theaters in der DDR.

Auch in der Operette »Die schöne Helena« (1964) nach Jacques Offenbach wird Venus, der Göttin der Liebe, das Vorrecht vor allen anderen eingeräumt. Die Liebe von Helena und Paris gelingt und setzt sich gegen die herrschende Klasse, vertreten von militaristischen »Helden« und borniert reaktionären Priestern, letztlich durch. Die Ehemänner »bekommen so viele Hörner aufgesetzt, dass sie nicht wissen, sind sie ein Hirsch oder ein Igel«. Die Konsequenz: »An Hellas’ unbescholtner Küste / brach Völlerei wie Pocken aus. / Venus Astarte zeigt die Brüste. / Priapus nimmt sich auch was raus. / Und keiner lebt mehr, wie er müsste.«

Dabei ist dieses Konzept, Entmilitarisierung der Gesellschaft durch Sinnenfreude, kein singuläres geblieben. Was Hacks in der DDR versuchte, probierte Arno Schmidt jenseits der Mauer. So belegt Klaus Theweleit ausführlich in seiner Studie »You give me fever« über Schmidts Nachkriegserzählung »Seelandschaft mit Pocahontas«, wie Schmidt um eine Zivilisierung der bundesrepublikanischen Nachkriegsgesellschaft ringt. Wie er versucht, den harschen Kommisston in freundliche, menschliche Worte zu wandeln. Entnazifizierung leistet er durch Sexualisierung.

Peter Hacks hat diese Parallele zu Schmidt selbst gesehen und einmal behauptet, dass »die zweite Hälfte (des Jahrhunderts; P.S.) Arno Schmidt und mir gehört. Arno Schmidt für Prosa, mir für Dramatik und die Lyrik. Das sage ich mit dem Vorbehalt eines Menschen, der wirklich weiß, dass dies eine Art von Urteilen ist, die eigentlich nicht fällbar sind. Aber ich kann ja nicht so tun, als hätte ich kein Urteil.«

Dabei hatten beide Schriftsteller dasselbe Problem, dass sie in ihrer Vereinzelung und Isolation keine akzeptablen Schüler, auch keine adäquaten Antipoden hervorbringen konnten. Ihre Leserschaft besteht entweder aus unkritischen Fans oder aus leidenschaftlich hassenden Renegaten, die sich aus der erstgenannten Gruppe rekrutieren. Kopiert wird lediglich die überlegene Pose. Ob diese Situation eine Folge von Schmidts und Hacks’ Eigenschaft als Opfer des Kulturbetriebs oder die Konsequenz ihrer Eigenschaft als Klassiker ist, bleibt offen. Vermutlich trifft ohnehin beides zu.

Der wiederholt von Kritikern, deren Kunstverständnis auf die unmittelbare Gegenwart beschränkt bleiben muss, konstatierte Eskapismus, der »Rückzug in den Elfenbeinturm« gründet auf Unverständnis. Hacks’ Neuinterpretation der Geschichte ist zwar eine andere als etwa die in Brechts Gedicht »Fragen eines lesenden Arbeiters«, jedoch mindestens so gründlich. Die alten Helden werden mitsamt ihrem Anspruch auf Herrschaft vernichtet. »Achilles, der edle Krieger. Er ist gut und teuer bewaffnet, ein Facharbeiter des Militarismus. Er hat die Stupidität eines deutschen Jagdfliegers mit Ritterkreuz«, heißt es erledigend im Begleittext zur »Schönen Helena«.

In der Zeit, als Honecker Generalsekretär war, hielt Hacks als einer der wenigen Schriftsteller noch dem Staat die Treue. Und wenn die SED, weil sie nicht mehr weiter wusste, sich auf deutschtümelnde, franzosenhassende Romantiker des 19. Jahrhunderts wie Friedrich Ludwig Jahn oder Ernst Moritz Arndt berief, um das fragwürdige Projekt eines »preußischen Sozialismus« durchzuführen, dann gesellte sich Hacks endgültig zu Goethe.

Sein letzter Auswahlband mit Gedichten, der erst im vergangenen Jahr erschienen ist, trägt den Titel »Tamerlan in Berlin« und erinnert nicht nur durch die Titelgebung an Goethes »Westöstlichen Diwan«. Es war Goethes Angriff auf die entstehende Nationalliteratur der Romantik. Während diese vom Dunkel des Mittelalters träumte und »Freiheit und Feudalismus« (Hacks) forderte, stellte der Bewunderer Napoleons Goethe seine sinnenfrohe orientalische Alternative vor. Der Mongolenherrscher Timur, auch Tamerlan genannt, steht für Napoleon.

Hacks’ Napoleon ist Stalin. Er, der zu Lebzeiten Stalins – im Gegensatz zu einigen seiner Schriftstellerkollegen – keine Lobeshymnen sang, lässt nach dem »endgültigen Sieg der Konterrevolution« sein Gedicht »Venus und Stalin« mit den Zeilen enden: »Die Liebe und die Sowjetmacht / sind nur mitsammen darstellbar.«

Goethe kommentierte vorausschauend seine Zeilen damals so: »Vielleicht müssten ein paar Jahre hingehen, damit uns die allzunah liegende Deutung ein erhöhtes Anschaun ungeheurer Weltereignisse nicht mehr verkümmerte.«