Der Zusammenhang zwischen Wirtschaftskrise und Migration

Should I stay or should I go?

Die Wirtschaftskrise wird dafür verantwortlich gemacht, dass weniger Mexikaner in den USA Arbeit suchen. Doch der Zusammenhang zwischen Krise und Mi­gration ist alles andere als eindeutig.

»Die Verlockung eines Jobs in den Vereinigten Staaten ist noch immer einer der wichtigsten Grün­de für illegale Einwanderung«, sagte Leigh Winchell, Beamter des Immigration and Customs En­forcement (ICE), nach der Razzia in Bellingham nahe Seattle. 28 überwiegend aus Mexiko stammende Arbeiter ohne gültige Papiere wurden am Dienstag der vergangenen Woche beim ersten der­artigen Einsatz seit dem Amtsantritt Barack Obamas verhaftet. Doch Janet Napolitano, die vom neuen US-Präsidenten ernannte Leiterin des Department of Homeland Security, dem der ICE zugeordnet ist, ordnete eine Untersuchung der Razzia an.
Bürgerrechtler und Migrantenorganisationen hoffen, Obama werde die Repression gegen Illegalisierte bremsen, aber auch eine Amnestie und eine Migrationsreform im Kongress durchsetzen. Doch auch wenn diese Hoffnungen sich erfüllen sollten, könnten für die Migranten härtere Zeiten anbrechen. Denn in einer Krise sinkt Karl Marx zufolge die »historisch-moralische Grenze für den Minimalwert der Arbeitskraft«. Gerade in Ländern, die kein gut ausgebautes Sozialsystem besitzen, sind in der Rezession auch einheimische Arbeitskräfte bereit, für weniger Lohn zu arbeiten. Migrantische Arbeiter spüren am frühesten und am stärksten die Auswirkungen einer ökonomischen Krise, sie sind in den Billiglohnsektoren überrepräsentiert, und gerade diese Sektoren sind von der Rezession besonders betroffen.
In den USA arbeiten Migranten, überwiegend Zentralamerikaner, vor allem in schlecht bezahlten Jobs im Dienstleistungs- und Bausektor. Doch auch die in Bellingham Festgenommenen hätten selbst ohne den ICE um ihren Job fürchten müssen. Die Razzia traf Yamato, einen Zulieferbetrieb der dem Bankrott nahen Autoindustrie.

Dies hat auch Auswirkungen für die Länder, aus denen die Arbeiter kamen. In allen Staaten Lateinamerikas sind die remesas, die Rücküberweisungen von emigrierten Arbeitern, ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. In El Salvador machen die Über­weisungen von meist etwa 200 Dollar monatlich von Verwandten aus den USA insgesamt 18 Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus. Nun hat die Interamerikanische Entwicklungsbank in einer Studie festgestellt, dass im vergangenen Jahr zum ersten Mal, seit 2001 begonnen worden war, die remesas statistisch zu erfassen, die Rücküberweisungen nicht gewachsen, sondern zurückgegangen sind. Nach Mexiko wurden 2008 statt 26 Milliarden wie im Vorjahr nur noch 25 Milliarden aus den USA überwiesen. Weit größer noch war der Rückgang bei den Familien, die von den remesas profitieren, ihre Zahl sank seit 2005 von 1,41 auf 1,16 Millionen.
Es scheint so, als sei die »Verlockung« geringer geworden. Tatsächlich sollte man annehmen, dass in Zeiten der Krise weniger Menschen aus armen Ländern versuchen, in reichere Länder einzuwandern. Die Zahlen, die das mexikanische Nationale Institut für Geografie, Statistik und Information jüngst vorlegte, scheinen diese These zu belegen. Aufgrund von Schätzungen, die auf vierteljährlichen Umfragen basieren, geht das Institut davon aus, dass die Migration in den Norden im vorigen Jahr um 50 Prozent gesunken ist.
Doch einer Studie des von der Uno finanzierten Think Tanks International Migration Policy (IMP) vom Januar zufolge sind die Zusammenhän­ge zwischen Migration und Konjunktur nicht so eindeutig. Die Autoren des Berichts weisen da­rauf hin, dass verschiedene Faktoren auf die Entscheidung von Migranten, im Land ihrer Wahl zu bleiben oder nicht, Einfluss haben. Wichtig ist zum Beispiel, wie leicht es für die Migranten ist, nach der Krise wieder zurückzukehren. Gerade für zentralamerikanische Migranten in den USA ist es alles andere als sicher, ob sie später so leicht wieder in den reicheren Norden zurück kom­men können. So entscheiden sich gerade Lateinamerikaner häufig, trotz der angespannteren wirtschaftlichen Situation lieber in den USA zu bleiben.

Die zahlreichen Migranten aus den Ländern, die vor wenigen Jahren der EU beigetreten sind, können hingegen ohne größere Probleme oder übermäßige Kosten zwischen Arbeitsplatz und Her­kunftsland pendeln. Der Vorsitzende der britischen Regierungskommission für Gleichheit und Menschenrechte, Trevor Philipps, geht davon aus, dass bis zu 400 000 der 1,2 Millionen Polen, die derzeit in Großbritannien und Irland arbeiten, während der gegenwärtigen Krise den Inseln den Rücken kehren werden. Für außereuropäische Migranten allerdings dürfte sich die Prophezeiung des UN Development Programme erfüllen: »Da einige Länder eine zunehmend protektionistische Haltung einnehmen, werden die Chancen für eine offizielle Migration schnell sinken.«
Die Studie der IMP verweist auch darauf, dass die Krise ebenfalls die Herkunftsländer der Arbeitsmigranten betrifft. Deshalb bleibt der Einkommensvorteil, der sich Auswanderern bietet, auch während der Krise erhalten, er kann sich so­gar verstärken. So geht das US-amerikanische, marxistische Onlinemagazin Political Affairs davon aus, dass während der ökonomischen Krise mehr Mexikaner gen Norden ziehen werden. Diese Argumentation wird mit einem Sprichwort illustriert: »Wenn die USA niesen, bekommt Mexiko eine Lungenentzündung.« Von einer Rezession in den USA wäre die mexikanische Wirtschaft enorm betroffen. Wenn in Mexiko die Arbeitslosigkeit steigt und die Löhne sinken, würde dies den ökonomischen Anreiz verstärken, im nördlichen Nachbarland einen besseren Job zu suchen.
Doch ist mit Political Affairs zu befürchten, dass sich mit der Rezession die Xenophobie verstärken wird. Auch die Analysten von IMP weisen auf die Gefahr hin, dass Migranten für die wachsende Arbeitslosigkeit in den USA und Europa verant­wortlich gemacht werden. Die Experten des UNDP erwarten ebenfalls eine stärkere Diskriminierung und Stigmatisierung, dies könne dazu führen, dass mehr Migranten sich für eine illegale Einreise entscheiden, selbst wenn die Risiken groß sind. Am deutlichsten bestätigte der italienische Innenminister Roberto Maroni solche Pro­gnosen, er sagte Anfang Februar, dass man in Zeiten der Krise »eklig zu den illegalen Migranten« sein müsse, um sie loszuwerden.

In den USA ist die Lage der Migranten etwas besser. Die in Bellingham Ertappten wurden in Abschiebehaft genommen, doch nicht jeder Mi­grant, der ohne gültige Papiere erwischt wird, muss mit einer Ausweisung rechnen. Janet Napo­litano will offenbar zumindest die Arbeitsweise des ICE ändern, die Behörde solle sich »auf Unter­nehmer konzentrieren, die wissentlich illegale Migranten einstellen«. An den Folgen der Krise wird das jedoch wenig ändern. Am Tag nach der Razzia versammelten sich mehrere hundert Arbeitssuchende vor dem Betrieb.