40 Jahre nach der Entführung und Ermordung Aldo Moros durch die Roten Brigaden in Italien sind Verschwörungstheorien über den Fall weiterhin verbreitet

Die unbequeme Geisel

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Am 18. April flog die Wohnung in der Via Gradoli auf. Am selben Tag tauchte ein Kommuniqué auf, in dem der Tod Aldo Moros verkündet wurde. Er sei hingerichtet worden, wie die Genossen in Stammheim. Seine Leiche befinde sich im Lago della Duchessa. Der erwähnte See, der nördlich von Rom im Apennin liegt, war aber zu diesem Zeitpunkt zugefroren. Es stellte sich ziemlich schnell heraus, dass das Kommuniqué gefälscht worden war. Wer steckte dahinter? Pieczenik erzählt, die Fälschung sei seine Idee gewesen: »Die Italiener mussten auf Moros Tod vorbereitet werden (…) und außerdem sollten die BR mit dem Rücken an die Wand gedrängt werden.« Pieczeniks Aussagen bleiben unbewiesen, fest steht, dass der Druck auf die BR, zu einer Entscheidung zu kommen, enorm stieg. »Wir haben das falsche Kommuniqué als eine Botschaft gedeutet, dass sie ihn fallen lassen, dass die Mehrheitsentscheidung innerhalb der Institutionen und insbesondere innerhalb der Christdemokratischen Partei gefallen war«, so beschreibt Adriana Faranda in einem ­Interview von 2008 die Reaktion der Entführer.

Eine einzige Partei versuchte, die vom gesamten politischen und institutionellen System vertretene Linie der Härte aufzubrechen – wenn auch aus politischem Kalkül, wie viele vermuten, um einen Keil zwischen Christdemokraten und Kommunisten zu treiben. Die Sozialistische Partei sprach sich für Verhandlungen aus.

Nicht aus humanitären Gründen, wie der da­malige Parteivorsitzende Bettino Craxi betonte. Er nannte es eine »verfassungsmäßige Pflicht« des Staats, das Leben der eigenen Bürger im Krieg zu schützen. Über Franco Piperno, Mitglied der Gruppe Potere Operaio, versuchte man, einen Kontakt zu den BR herzustellen; diese erklärten sich bereit, Moro im Austausch gegen einen Gefangenen freizulassen. In einem letzten Telefonat mit der Familie des Gefangenen sprach Mario Moretti, der Anführer des Kommandos, deutlich aus, dass den BR am Ende eine symbolische Geste gereicht hätte: Ein ranghohes Mitglied der Christdemokratie sollte öffentlich die Bereitschaft erklären, über die Forderungen der Roten Brigaden nachzudenken, sofern sich diese Forderungen im Bereich des Legalen bewegten. Das war die politische Anerkennung, welche die BR für Moros Herausgabe als Gegenleistung verlangten. Die Folgen dieser Anerkennung wären vermutlich auf vielen Ebenen so verheerend gewesen, dass die Eliminierung eines führenden Politikers im Vergleich als das »kleinere Übel« erschien.

 

»Weder mit dem Staat noch mit den Roten Brigaden«

Überhaupt spielen humanitäre Aspekte in dieser Geschichte eine viel kleinere Rolle, als man annehmen könnte. Alles spielte sich auf allen Seiten – der Christdemokraten, der Kommunisten, der Roten Brigaden – im Bereich des politischen Kalküls ab.

Hört man heute einige der damaligen Brigadisten sprechen, wirkt die Nüchternheit, mit der sie die Vorgänge jener Tage rekapitulieren und politisch erklären, unfassbar zynisch. Gallinari etwa erzählt vor laufender Kamera, wie sie sonntags die im Fernsehen übertragene Messe auf Kassette für Moro aufnahmen und einen Schnitt später vom obersten Ziel der Machtergreifung, das die Ausschaltung des Klassenfeinds vorsieht. Derlei macht deutlich, dass eine politische Auseinandersetzung mit den Ereignissen dieser Jahren nicht in Kategorien von moralischer oder ethischer Schuld geführt werden kann. In den Debatten zum 40. Jahrestag der Ermordung Aldo Moros herrscht dagegen viel Empörung darüber, dass einige der ehemaligen Ter­roristen in den Medien zu Wort kommen und Fragen zu ihren Taten be­antworten. Man möchte diese Menschen nur als gebrochene, reuige, wahnsinnige Männer und Frauen sehen. Daran zeigt sich, dass eine histo­rische und politische Aufarbeitung dieses Stücks italienischer Geschichte mit all den Konflikten, die sie kennzeichneten, noch in weiter Ferne liegt.

Nicht nur irrten sich die BR in ihrer Selbstwahrnehmung, denn der Staat behandelte sie nie als ebenbürtige Gegner. Auch die Unterstützung durch viele Tausende Genossinnen und Genossen draußen, derer sich die Brigadisten so sicher waren, endete in den Tagen zwischen dem Massaker in der Via Fani und der Erschießung Aldo Moros.

Die Roten Brigaden haben sich als bewaffneter Arm des Proletariats in einem Krieg gesehen und wollten – so unbegreiflich dies heutzutage erscheinen mag– vom Staat nicht als Verbrecher, sondern als gegnerische Macht anerkannt werden, militärisch und politisch.

Nicht nur irrten sich die BR in ihrer Selbstwahrnehmung, denn der Staat behandelte sie nie als ebenbürtige Gegner. Auch die Unterstützung durch viele Tausende Genossinnen und Genossen draußen, derer sich die Brigadisten so sicher waren, endete in den Tagen zwischen dem Massaker in der Via Fani und der Erschießung Aldo Moros.

Viele außerparlamentarische Linke verabschiedeten sich von dem Slogan »Weder mit dem Staat noch mit den Roten Brigaden«, also von der Ambivalenz, die ihr Verhältnis zu den BR in den Jahren zuvor gekennzeichnet hatte.

Gallinari konstatiert: »Wir konnten nur existieren, weil eine bestimmte Gesellschaftsschicht unsere Vorstellung teilte oder sie zumindest nicht ablehnte.« Damit liegt er richtig. Mit der Entführung Aldo Moros besiegelten die BR ihr eigenes Ende.

Ihr Terrorismus bleibt Teil der Geschichte einer radikalen Linken, die noch immer um den richtigen Umgang damit ringt.