Die Mordversuche an Kleinkindern in Annecy werden von der französischen Rechten instrumentalisiert

Politische Instrumentalisierung

Die versuchte Ermordung mehrerer Kleinkinder in Annecy gilt französischen Konservativen und Rechtsextremen als Argument dafür, die Migration noch stärker zu beschränken.

Manche Verbrechen sind kaum erklärlich, doch das hindert Interessierte nicht daran, sie politisch zu instrumentalisieren. Am Donnerstag voriger ­Woche gegen zehn Uhr vormittags attackierte der 31jährige syrische Staatsbürger Abdalmasih Hanoun in einem Park im ostfranzösischen Annecy mehrere Kleinkinder. Vier von ihnen im Alter von 22 Monaten bis drei Jahren wurden mit Messerstichen verletzt und in einem Krankenhaus in Grenoble notoperiert. Seit Sonntag schwebt keines der Kinder mehr in Lebensgefahr. Auch zwei ältere Spaziergänger verletzte der Angreifer mit dem Messer.

Schnell wurden politische Zusammenhänge hergestellt, die einer faktischen Grundlage entbehren: Flüchtlingszustrom, Islam, Terrorismus – die üblichen Assoziationen schienen naheliegend. Doch Abdalmasih Hanoun ist Christ, wie seine in den folgenden Stunden von Journalisten befragte ehemalige Ehefrau in Schweden und seine in den USA lebende Mutter bestätigten. Er hatte ein Jesus- und ein Marienbild bei sich und trug ein zum Turban gewickeltes Palästinensertuch um den Kopf, laut Augenzeugen soll er bei der Tat »In the name of Jesus Christ« gerufen haben. Hanoun lebte seit zehn Jahren in Europa. Er war 2012 in die syrische Armee eingezogen worden, dann desertierte er in die Türkei, von wo er im Sommer 2013 nach Schweden ging; dort wurde seinem Asylantrag stattgegeben.

Doch stellte beispielsweise der rechtsextreme Éric Zemmour, Präsidentschaftskandidat bei den Wahlen im vorigen Jahr und Vorsitzender der von ihm im Winter 2021/2022 gegründeten Partei Reconquête (Rückeroberung), ­öffentlich in Abrede, dass Hanoun wirklich Christ sei. Zahlreiche Websites wie die der Identitären Bewegung nahestehende muslimfeindliche Internet-­Publikation Riposte Laïque sekundierten. Dort hieß es: Nichtregierungsorganisationen brächten Zuwandernden bei, sie sollten sich als Christen oder Homosexuelle ausgeben, um bessere Chancen für die Gewährung von Asyl zu haben.

In der Woche vor der Tat wurde Hanoun wegen Nacktbadens im See von Annecy, in dessen Nähe er seit dem vergangenen Herbst als Obdachloser lebte, polizeilich verwarnt. Er trägt eine auffällige Tätowierung am Fußknöchel, die auch auf den Fernsehbildern sichtbar ist, da er während der Attacke Bermudashorts trug. Öffentliches Nacktbaden ist für Islamisten undenkbar, auch Tätowierungen gelten ihnen als unzulässiger Eingriff in die Art, wie Allah den menschlichen Körper geschaffen habe. Überdies kommt es zwar vor, dass Jihadisten sich verkleiden, um beispielsweise eine Polizeikontrolle leichter passieren zu können; bei ihren Taten lassen sie jedoch die Tarnung fallen.

Hinweise auf einen terroristischen Hintergrund gibt es nach Polizeiangaben nicht. Auch für ein christlich-fundamentalistisches Motiv liegen keine Anhaltspunkte vor, wenngleich es möglich ist, dass Hanoun in einem individuellen religiösen Wahn handelte. Er zeigte sich während des Polizeigewahrsams und der Vernehmung psychisch auffällig, rollte sich auf dem Boden ­herum, rief den Vernehmern »Kill me« zu und musste, da er das Gehen strikt verweigerte, im Rollstuhl beim Untersuchungsrichter vorgefahren werden.

Was ihn zu seiner Tat bewog, ist ungewiss. Festzustehen scheint, dass er Schweden verließ, nachdem sein Einbürgerungsantrag zweimal abgelehnt worden war, während seine ebenfalls aus Syrien stammende Ehefrau die schwedische Staatsbürgerschaft erhielt. Hanoun hatte seinen ersten Antrag zu früh gestellt, nämlich bereits nach vier Jahren legalen Aufenthalts in Schweden, obwohl gesetzlich fünf Jahre erforderlich wären; beim zweiten Mal erhielt er eine Ablehnung, weil ihm Sozialleistungsbetrug vorgeworfen wurde. Hanoun hatte, während er eine Ausbildung zum Krankenpfleger absolvierte, gleichzeitig Studienförderung und Arbeitslosengeld kassiert, was die Behörden als gesetzeswidrig einstuften.

Daraufhin reiste er durch halb Europa und stellte nacheinander Asylanträge in Italien, der Schweiz und Frankreich, wo er im Oktober 2022 angekommen war. Dieser Antrag war vier Tage vor der Tat vom französischen Asyl- und Staatenlosenamt OFPRA als unzulässig abgelehnt worden, da bereits in einem EU-Staat mit vergleichbarem Schutzniveau eine Anerkennung vorliege. Die Ablehnung könnte ein Auslöser gewesen sein.

Hinweise auf einen terroristischen Hintergrund des Messerangriffs in Annecy gibt es nach Polizeiangaben nicht. Der mutmaßliche Täter erwies sich während des Polizeigewahrsams als psychisch auffällig.

Der Tat folgte auf dem Fuße ihre In­strumentalisierung durch rechte Kräfte: So machte sich der 28jährige Parteivorsitzende des rechtsextremen Rassemblement national (RN), Jordan Bardella, mit Bezug auf Hanouns Messerattacke für »eine Volksabstimmung über die Masseneinwanderung« stark – ein Dauerbrenner seiner Partei. Der um die rechtsextreme Wählerschaft mit dem RN konkurrierende Éric Zemmour versuchte einmal mehr, seine Wortschöpfung vom »francozid« im öffentlichen Sprachgebrauch zu platzieren. Diese soll suggerieren, Ausländer verübten systematisch Tötungsdelikte an Einheimischen wegen deren Zugehörigkeit zum »französischen Volk«.

Aber auch Konservative zögerten nicht, Öl ins Feuer zu gießen. So tönte der Fraktionsvorsitzende der bürgerlich-konservativen Partei Les Républicains (LR) in der Nationalversammlung, Olivier Marleix, in einer ersten Reaktion auf die Attacke von Annecy: »Die unkontrollierte Einwanderung tötet. Statt bei jedem neuen Verbrechen zu lamentieren, beenden wir eher die Masseneinwanderung!« Der LR-Vorsitzende Éric Ciotti schrieb am Sonntag an Präsident Emmanuel Macron und verlangte, zu ihm vorgelassen zu werden, um über das angebliche Einwanderungsproblem zu diskutieren.

Die Parteiführung von LR hatte am 21. Mai einen eigenen Vorschlag für ein neues Ausländergesetz vorgelegt. Dadurch versuchte sie, Druck auf die Regierung auszuüben, hatte Innenminister Gérald Darmanin doch im Dezember vorigen Jahres selbst einen Entwurf für eine Gesetzesnovelle im Ausländerrecht vorgelegt – obwohl seit 1980 bereits 28 Änderungen der Ausländergesetze verabschiedet worden sind, wird immer wieder Handlungsbedarf entdeckt. Das Regierungslager stellt jedoch nur 250 der 577 Abgeordneten und ist auf die Unterstützung von LR angewiesen; aufgrund unklarer Aussichten, ob das Gesetz die notwendige Mehrheit in der Nationalversammlung bekommen würde, verschob es das Vorhaben.

Der Vorschlag von LR hat es inhaltlich in sich. So sieht er neben Quotenre­gelungen, die Obergrenzen etwa für die Zahl ausländischer Studierender fest­legen, und einer Einschränkung des Rechts auf Familiennachzug einen grundsätzlichen Vorrang nationalen Rechts vor supranationalem Recht im Bereich der Ausländergesetzgebung vor. Dabei geht es insbesondere darum, die bisherige Rechtsprechung zur Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) des Europarats zu entkräften, die ein Recht auf Zusammenleben mit Angehörigen der Kernfamilie garantiert. Seit Wochen also herrscht bereits ein Überbietungswettbewerb bei der Verschärfung des Ausländerrechts, der durch die Mordversuche von Annecy noch einmal verschärft wurde. In ihn traten auch militante rechtsextreme Gruppen ein.

In den vergangenen beiden Jahren wurden diese – in einer Art informeller Arbeitsteilung mit RN und Reconquête, die Demonstrationen veranstalteten – in Kleinstädten und im ländlichen Raum aktiv, wo Aufnahmezentren für Asylsuchende (CADA) eingerichtet wurden. So auch im bretonischen Callac, wo es zu teils gewalttätigen Demonstrationen kam und Kommunalpolitiker Todesdrohungen erhielten – das Projekt wurde aufgegeben.

Die nahe dem Atlantik gelegene Gemeinde Saint-Brevin-les-Pins geriet in den vergangenen Monaten frankreichweit in die Schlagzeilen. Ihr Bürgermeister Yannick Morez, ein gemäßigter Bürgerlicher, der die Einrichtung eines CADA in seiner 15 000 Einwohner zählenden Kleinstadt unterstützt hatte, reichte am 10. Mai seinen Rücktritt ein und kündigte an, die Gemeinde zu verlassen. Im März waren sein Wohnhaus und sein Auto bei einem Anschlag in Flammen aufgegangen. Morez beklagte sich in seiner Rücktrittserklärung, Regierung und Justiz hätten ihn im Stich gelassen, während fast im Wochenrhythmus gegen ihn gerichtete Demonstrationen auch mit überregionaler Beteiligung stattfanden. Kurz nach dem Bekanntwerden seines Rücktritts erhoben sich im Pariser Parlament zahlreiche Abgeordnete zu einer Ehrenbekundung für ihn, doch die RN-Fraktion blieb sitzen.

Am Freitag voriger Woche wurde ­seine Nachfolgerin, Dorothée Pacaud, in ihr Amt eingeführt. Während Gegner der Errichtung eines CADA sie am ­Ein- und Ausgang des Gemeinderats zur Rede stellten, demonstrierte ein Dutzend militanter Rechtsextremer zu Beginn ihrer Vereidigung mit Bengalo-Leuchtfackeln vor den Fenstern des Rathauses. Beide Gruppen behaupteten, heute sei Annecy an der Reihe und morgen dann Saint-Brevin.
Auch François Astorg, der grüne Bürgermeister von Annecy, wurde bedroht, weil er sich öffentlich gegen eine unzulässige Vermischung von Sach­verhalten verwahrt und für das Zusammenleben mit Migranten ausgesprochen hatte. Rechtsextreme brachten über die sozialen Medien Angaben über seinen Wohnsitz und über seine Gewohnheiten in Umlauf. Astorg hat am Samstag Strafanzeige erstattet.