Isabel Wilkerson schlägt eine neue Betrachtungsweise vor, um Ungleichheit zu verstehen

Caste-splaining und was dagegen hilft

Isabel Wilkerson hat ein gefeiertes Sachbuch über strukturelle Ungleichheit in den USA geschrieben. Darin vergleicht sie die US-amerikanische Gesellschaft mit dem indischen Kastensystem.

»Die Trennung der Kinder in den öffentlichen Schulen von Boston aufgrund ihrer Hautfarbe oder Ethnie liegt in der Natur der Kaste.« Diese kritische Bemerkung stammt von dem US-amerikanischen Politiker Charles Sumner, einem einflussreichen Gegner der Sklaverei. Sie findet sich in der vielbeachteten Studie »Kaste: Die Ursprünge unseres Unbehagens« (Originaltitel: Caste: The Origins of Our Discontents) der US-amerikanischen Autorin Isabel Wilkerson, die darin den Versuch unternimmt, den Begriff der Kaste als analytische Kategorie für die Gegenwart brauchbar zu machen. Die USA als ein Kastensystem zu beschreiben, wirkt zunächst befremdlich. Eine solche Werthierarchie, in die Menschen eingeteilt werden, kannte der europäische Feudalismus, in Indien ist das Kastensystem bis heute wirksam – aber in den USA?

Ein Kastensystem ist eine festgefügte gesellschaftliche Rangordnung, in die Menschen aufgrund ihrer Herkunft und/oder anderer Merkmale eingeordnet werden. Sozialer Aufstieg ist in dieser starren Hierarchie schwer möglich, weil von den Ranghöchsten ungewollt. »In unserem Alltag«, schreibt Wilkerson, »ist Kaste die wortlose Platzanweiserin in einem dunklen Theatersaal, die uns mit der Taschenlampe (…) zu den uns zugewiesenen Plätzen für die Aufführung bringt.«

Die Autorin verpackt ihre Analyse in eine lebendige Sprache, was das Buch sehr gut lesbar macht, manchmal aber etwas zu illustrativ ausfällt, etwa wenn die Einleitungen der verschiedenen Kapitel deutlich ins Literarische tendieren. Aber die Autorin überzeugt mit ihrem originellen Zugang und erreichte in den USA zudem ein Publikum, das für akademische Erörterungen eher nicht zugänglich ist. Ihre Untersuchung ergänzt sie durch die Schilderung eigener Erfahrungen als schwarze Frau, was das Buch so anschaulich macht. Vor allem in ihren Bezügen auf den Nationalsozialismus aber hätte die Pulitzer-Preisträgerin, die lange ein Regionalbüro der New York Times leitete, mehr Sorgfalt walten lassen sollen; die Vergleiche, die sie zwischen dem Kastensystem und dem eliminatorischen Rassen- und Judenhass der Nazi zieht, sind grob verzerrt und entsprechen keinen wissenschaftlichen Standards.

»Die Entscheidung gegen positive Maßnahmen stärkt eine wichtige Grundlage der Kaste: dass Rollen und Berufe durch die ursprüngliche Rassenhierarchie als vorherbestimmt gelten.« Isabel Wilkerson

Nach der jüngsten Entscheidung des US-amerikanischen Supreme Court zum Verbot von Affirmative Action ist Wilkerson zu einer wichtigen Verteidigerin der unter diesem Begriff unter anderem firmierenden Förderung afroamerikanischer Studierender geworden. Das Urteil ist für sie eine Tragödie. »Diese Entscheidung gegen positive Maßnahmen«, schrieb Wilkerson auf Twitter, »stärkt eine wichtige Grundlage der Kaste: dass Rollen und Berufe durch die ursprüngliche Rassenhierarchie als vorherbestimmt gelten.« Weiter kritisierte sie, dass das Gericht die Bevorzugung bei der Hochschulzulassung verbiete, nicht aber die »an Einrichtungen, die Bürger auf das Militär vorbereiten«. Dies zeige, dass man sich Schwarze noch immer eher als Soldaten denn als Gelehrte und Chirurgen vorstelle.

Das Wort »Kaste« verwendeten die portugiesischen Kolonialherren, um die für sie unbekannte starre gesellschaftliche Hierarchie in Indien zu benennen. Das dem System zugrundeliegende Denken habe im Zuge der Kolonialisierung des amerikanischen Kontinents und des Sklavenhandels die USA beeinflusst. Dort wirke es seit 500 Jahren fort, so Wilkerson. Der im 19. Jahrhundert entstandene moderne Rassismus überlagere das Kastensystem, so dass es weniger sichtbar sei, argumentiert die Autorin. »Kaste und race sind weder Synonyme, noch schließen sie sich gegenseitig aus. Kaste ist das Knochengerüst, Race ist die Haut. Race ist, was sichtbar ist, die körperlichen Merkmale, denen historisch eine willkürliche Bedeutung verliehen wurde, die rückwirkend veränderbar ist, wenn es den Bedürfnissen der herrschenden Kaste in den heutigen Vereinigten Staaten förderlich scheint.«

Was zunächst holzschnittartig erscheint, unterlegt Wilkerson mit Schilderungen persönlicher Erfahrungen. So habe ein Interviewpartner ein Gespräch mit ihr verweigert, weil er darauf bestand, einen Termin mit einer Journalistin der New York Times ausgemacht zu haben, und nicht davon zu überzeugen war, diese bereits vor sich zu haben. Ein anderes Mal beobachtet sie auf einer Konferenz, dass sich eine Frau über eine Rednerin erhebt und erklärt, was diese inhaltlich gemeint habe. Warum? Die Rednerin gehörte der untersten indischen Kaste an, ihr Beitrag musste von einer höherstehenden Person »weitervermittelt« werden. Caste-splaining nennt Wilkerson dies.

Das Buch überzeugt durch sein umfangreiches Quellenmaterial. Wilkerson zeigt, dass die Wissenschaft die US-amerikanische Gesellschaft immer wieder als Kastensystem beschreibt, das auf der Hierarchisierung und Bewertung nach Hautfarbe fußt. Zu erfahren ist auch, wie bewusst sich die White Supremacists dieses Systems waren, etwa wenn der Jurist und Rassentheoretiker Madison Grant im einflussreichen Buch »The Passing of the Great Race« 1916 feststellt, die oberste Kaste in Indien wolle »die Reinheit ihres Blutes bewahren« und Gleiches gelte für die Anhänger der Rassensegregation »in unseren Südstaaten«. Nach dem Zweiten Weltkrieg schwand der Einfluss von Grants Werk rapide, 2021 entfernte der Staat Kalifornien eine der letzten Tafeln, die an den sogenannten Naturforscher erinnerten.

Die Ordnung der Kaste wird Wilkerson zufolge durch Erbschaftsregelungen, Förderung gesellschaftlicher Hierarchien, Vorstellungen von Reinheit und angeborener Überlegenheit der Mitglieder, Entmenschlichung und Stigmatisierung der anderen sowie durch Gewalt und Terror stabilisiert. So gelte jemand mit »nordischen« Vorfahren mehr als der Nachkomme von Südeuropäern.

Wilkersons Versuch, das »Dritte Reich« als Kastenwesen zu beschreiben, ist kaum überzeugend.

Dass soziale Kämpfe in Indien von der schwarzen Bürgerrechtsbewegung in den USA inspiriert waren und die ganz unten stehenden sogenannten »Unberührbaren« (Dalits) diesen Kampf als ihren ansahen, ruft Wilkerson ins Gedächtnis. Sie weist darüber hinaus mit Verweis auf James Q. Whitmans Studie »Hitlers amerikanisches Vorbild« darauf hin, dass die rassistischen Gesetze der US-amerikanischen Südstaaten Vorbild für die »Nürnberger Gesetze« der Nationalsozialisten waren.

Ihr Versuch jedoch, das »Dritte Reich« als Kastenwesen zu beschreiben, ist kaum überzeugend. Zumal sie durch den Vergleich mit den USA den Terror des »Dritten Reichs« nicht nur nicht erfasst, sondern ihn unfreiwillig verharmlost. Wilkerson verkennt das eliminatorische Ziel des deutschen Antisemitismus. Beispielsweise begreift sie die Logik des Lagers und die planvolle Vernichtung durch Arbeit nicht, wenn sie die Konzentrationslager, die sie unzutreffend »Arbeitslager« nennt, mit der Sklavenarbeit auf Plantagen gleichsetzt. Natürlich waren Sklaven der absoluten Willkür ihrer »Besitzer« ausgesetzt und konnten jederzeit auch getötet werden. Ihre Ausrottung war aber nicht das Ziel.

Dennoch sind Wilkersons Ausführungen ein Gewinn. Kaste als Kategorie gesellschaftlicher Hierarchie zu verstehen, die Menschen einen Rang zuweist, ist ein interessanter Denkanstoß. Zumal, wenn man Wilkersons Kastenverständnis mit Studien zu Habitus und kulturellem Kapital, zu Geschlechter- und Altersdiskriminierung oder sozialer Schichtung wie der Klassenunterscheidung zusammenbringt. Diese Perspektive auf Unterschiede im Alltag, auf Diskriminierung, Ausbeutung und Entmenschlichung, ist besonders hinsichtlich der USA instruktiv, weil es den Mythos der sozialen Durchlässigkeit anschaulich widerlegt. Mit einer großen Ausnahme: »Selbst die privilegiertesten Menschen in der westlichen Welt werden eines Tages einer tragisch benachteiligten Kaste angehören, wenn sie nur lang genug am Leben sind«, mahnt Wilkerson. »Sie werden der letzten Kaste angehören, der Kaste der Alten, der Menschen, die zu den am meisten erniedrigten Bür­gerinnen und Bürgern der westlichen Welt gehören. (…) Ein Kastensystem verschont ­niemanden.«


Buchcover

Isabel Wilkerson: Kaste. Die Ursprünge unseres Unbehagens. Kjona-Verlag, München 2023, 576 Seite, 36 Euro. Aus dem amerikanischen Englisch von Jan Wilm.