AfD-Debatte: Die selbe Prozedur
Die Zustimmung für die AfD wächst. In jüngsten Umfragen zur Präferenz bei einer Bundestagswahl erscheint sie bundesweit als zweitstärkste Kraft. In ostdeutschen Bundesländern liegt die Partei bei Erhebungen zum Teil sogar auf dem ersten Platz. In Thüringen und Sachsen-Anhalt gelang es ihr jüngst, einen Landrat beziehungsweise einen hauptamtlichen Bürgermeister zu stellen. Seither wird wieder verstärkt über die Ursachen der Dominanz der extremen Rechten im Osten diskutiert.
Dabei stehen sich meist zwei Positionen gegenüber. Beide haben eine lange Tradition in der Diskussion über ostdeutschen Rechtsextremismus, die ab dem rassistischen Pogrom von Rostock-Lichtenhagen im Jahr 1992 Fahrt aufnahm. Spätestens damals wurde auch in Westdeutschland die auf dem Gebiet der ehemaligen DDR weitverbreitete rechtsextreme Gewalt zur Kenntnis genommen. Unter diesem Eindruck begannen Journalist:innen, Wissenschaftler:innen und Politiker:innen, sich mit der Frage nach deren Ursachen zu befassen.
Dass drei Jahrzehnte intensiver Forschung und Debatte zur gesellschaftlichen Verfasstheit in Ostdeutschland kaum zu neuen Erkenntnissen geführt haben, liegt auch an der nationalen Borniertheit der Debatte.
Dabei etablierten sich im Wesentlichen zwei Erklärungsansätze. Der eine betrachtet Rechtsextremismus und Gewalt als ein Erbe der DDR, als Resultat autoritärer Sozialisation in einer Diktatur, die zu obrigkeitsstaatlichem Denken erzogen habe. Der andere sah die Gewalt eher als Folge des Umbruchs im Osten an, als Wutreaktion einer Jugend, die vom Zusammenbruch der bekannten Strukturen überfordert sei. Als Beispiel wurde oft die Schließung von Jugendclubs genannt.
30 Jahre später ist die Diskussion trotz einer Unzahl von Studien, Umfragen und Veröffentlichungen nicht viel weiter. Nach der einen Ansicht sind es die krisenhaften Transformationserfahrungen der Nachwendezeit und der Frust über westdeutsche Arroganz und Armut, die die Ostdeutschen in die Arme der Rechtsextremen treiben. Dem werden von der anderen Seite Studien über die Verbreitung autoritärer Charakterdispositionen im Osten entgegengehalten. Diese wird zumeist als Spätfolge der autoritär strukturierten DDR-Gesellschaft gedeutet.
Dass drei Jahrzehnte intensiver Forschung und Debatte zur gesellschaftlichen Verfasstheit in Ostdeutschland kaum zu neuen Erkenntnissen geführt haben, liegt wohl auch an der nationalen Borniertheit der Debatte. Wie vor 30 Jahren liefert vor allem Westdeutschland den Vergleichsmaßstab für die Verhältnisse im Osten. Eine internationale Kontextualisierung findet kaum statt. Nicht einmal der Umstand, dass in den postsozialistischen Ländern Osteuropas zumeist rechte und extrem rechte Parteien regieren und es auch dort starke militante rechtsextreme Szenen gibt, spielt eine Rolle für die hiesige Debatte. Ganz zu schweigen von den politischen Erfolgen der extremen Rechten in Frankreich und Italien.
Ähnlich dürftig fällt die Auseinandersetzung mit den Forschungen zur Verbreitung rechtsextremen Gedankenguts in Ostdeutschland aus. Deren wissenschaftliche Protagonist:innen stellen sich in die Tradition der »Studien zum autoritären Charakter« von 1950. Diese eröffneten einst einen Zugang zur Frage, inwieweit die Zurichtung der Individuen unter kapitalistischen Verhältnissen die psychischen Bedingungen für das Entstehen faschistischer Bewegungen schafft.
Dass kapitalistische Krisenerfahrungen die antisemitische Regression stark begünstigen, wird nicht thematisiert.
Ähnliches gelingt der heutigen Sozialforschung nicht. Eine neue Untersuchung mit dem Titel »Autoritäre Dynamiken und die Unzufriedenheit mit der Demokratie« stammt beispielsweise vom Else-Frenkel-Brunswik-Institut an der Universität Leipzig, benannt nach einer maßgeblichen Mitwirkenden an den »Studien zum autoritären Charakter«. Der Leipziger Studie zufolge stieg »zum Beispiel der Antisemitismus bis 2012 massiv an, obwohl er noch zehn Jahre zuvor deutlich seltener in Ost- als in Westdeutschland anzutreffen war«. Hier ist also eine gesellschaftliche Entwicklung zu beobachten, nicht einfach die Entfaltung einer jahrzehntealten ostdeutschen Prägung. In der Studie finden sich zwar in diesem Zusammenhang einige Bemerkungen zu unterschiedlichen Ausformungen antisemitischer Ideologien. Dass aber kapitalistische Krisenerfahrungen die antisemitische Regression stark begünstigen, wird nicht thematisiert – und in der Medienberichterstattung über die Studie am allerwenigsten.
Es fehlt der Versuch, die Stärke der AfD gesellschaftstheoretisch zu erfassen. Stattdessen werden immer wieder dieselben moralistischen Geschichten erzählt: Entweder werden Entschuldigungen für die ostdeutschen Nazis formuliert – die schwere Wendezeit, die schlechte Busanbindung auf dem Land – oder es wird schon fast so etwas wie ein autoritäres Gen bei den Ossis gesucht, um auf diese Weise sowohl die Bundesrepublik als auch den Kapitalismus davon freizusprechen, zum Rechtsextremismus beigetragen zu haben.
So wenig die Erfahrungen der DDR-Bevölkerung in einen globalen krisenhaften Transformationsprozess eingeordnet werden, so wenig werden autoritärer Charakter und Krise unter aktuellen Bedingungen in Beziehung gesetzt. Beides wäre aber notwendig, um zu verstehen, was im Osten – und nicht nur dort – passiert.