Doch noch was Positives
Das Schlimmste an Theodor W. Adorno sind die Bücher, die über ihn geschrieben wurden. Seit einem halben Jahrhundert wird daran laboriert, dem ach so pessimistischen Genie doch noch hier und da ein Zugeständnis ans Bestehende abzuringen. Man kann es Adorno anscheinend nicht verzeihen, dass er die Philosophie einer Ideologiekritik unterzog, ohne dabei einen konstruktiven Vorschlag zu machen; oder eben eine falsche Welt anprangerte, ohne dabei das Gute und Richtige bestimmt zu haben.
Daher geistert das Problem des totalen Negativismus durch die Sozial- und Moralphilosophie. Wie soll man überhaupt den Anspruch erheben, eine Kritik der Gesellschaft zu formulieren, wenn man von einem falschen Ganzen ausgeht und sich folglich auch auf keinen Maßstab berufen kann, der nicht selbst schon Teil des Schlechten wäre? Am liebsten wird dazu das Bonmot aus der »Minima Moralia« zitiert, dass es ja »kein richtiges Leben im falschen« gebe.
Ergo, so etwa Jürgen Habermas’ einflussreiche Deutung der »Dialektik der Aufklärung«, verstrickt sich die Kritische Theorie in einen performativen Selbstwiderspruch: Das Urteil über die schlechte Welt fällt genauso totalisierend aus, wie diese selbst ist. Die Kritik könne sich angesichts ihrer totalen Vernunftskepsis selbst nicht mehr rechtfertigen. Ein schier unlösbares Paradoxon – und damit der Sozialphilosophie ein liebgewonnenes Problem.
Seit einem halben Jahrhundert wird daran laboriert, dem ach so pessimistischen Genie doch noch hier und da ein Zugeständnis ans Bestehende abzuringen.
Nun hat der US-amerikanische Philosophiehistoriker Peter E. Gordon das Ringen mit dem normativen Maßstab der Kritik noch einmal aufgenommen und versucht, das eine oder andere Missverständnis auszuräumen. Der Professor in Harvard ist im angelsächsischen Sprachraum mittlerweile eine Institution, wenn es um Adorno und die sogenannte Frankfurter Schule geht. Auf 450 Seiten breitet er seine Gedanken über »Adorno und die Quellen der Normativität« aus, die im Kern auf seine Adorno-Vorlesungen, gehalten 2019 in Frankfurt am Main, zurückgehen.
Das Hauptproblem in der Adorno-Deutung sieht Gordon in der Unterstellung, dieser sehe »die gesellschaftliche Wirklichkeit als ein geschlossenes und selbstidentisches System« an, als eine negative Totalität. Entweder werde Adorno damit irrtümlich an besagten Selbstwiderspruch verwiesen oder aber die Sozialtheorie verabschiede sich schlimmstenfalls gänzlich vom Anspruch eines richtigen Lebens und flüchte sich in die bloße Genealogie, also »die rein negative Aufgabe (…), die Art und Weise des Scheiterns unserer Normen zu dokumentieren«.
Suche nach den »moralischen Lehren Adornos«
Gordon möchte Adorno hingegen etwas Positives abgewinnen. Er sei eben nicht, wie die Denker der Linie von Nietzsche über Heidegger zu Foucault, ein Nihilist und Antihumanist gewesen. Vielmehr habe er, eher wie Aristoteles oder Kant, tatsächlich eine umfängliche Vorstellung des Guten und Richtigen, nämlich des menschlichen Glücks gehabt. Das alles sei, typisch Adorno, lediglich schwer zu finden in seinem widersprüchlichen und komplexen Werk. Gordon macht sich also auf die Suche nach diesen »moralischen Lehren Adornos«. Die hat dieser zwar nie vorgelegt, sondern sich eher dagegen verwehrt, wie auch Gordon eingestehen muss; sie sollen aber trotzdem das Rückgrat seiner Gesellschaftstheorie bilden.
Adorno sei eben ein durch und durch ambivalentes Genie gewesen: Nie war er ganz das eine oder das andere, »ein fest in der Tradition verwurzelter Radikaler«. Und so ist auch das Gute und Richtige, das er in seiner Gesellschaftskritik anpeilen musste, etwas Widersprüchliches und Brüchiges. »Prekäres Glück«, wie daher der Titel des Buches lautet, dessen Erfahrung eben gesellschaftlich beschädigt ist, aber auch »kritische Ressourcen in sich birgt«. Um diese banale Deutung interessanter zu machen, unterstellt Gordon Adornos Glücksbegriff »die maximalistische Forderung, dass die Welt letztendlich so werde, wie sie sein sollte«. Glück, das richtige Leben oder Emanzipation seien also Adornos »Begriffe im emphatischen Sinne« für »ein umfassendes Modell des menschlichen Gedeihens«.
Was an Gordons Deutung von Adorno so bahnbrechend daherkommt, ist eigentlich eine Nuance in der moralphilosophischen Diskussion.
Zur Plausibilisierung dieser These spannt Gordon einen großen Bogen und bestimmt Adorno zunächst als Vertreter der immanenten Kritik, die einen »entscheidenden Vorzug gegenüber der transzendenten Variante« biete. Sie ist eben nicht auf einen externen Maßstab angewiesen, sondern kritisiert das Bestehende aus sich heraus, nämlich, so Gordon, als die »immanente Forderung (…), dass wir an unserer diesseitigen Erfahrung interne Elemente ausmachen können, die als Basis für unsere Hoffnung dienen«.
Um diese Erfahrung gehe es Adorno, denn sie mache das menschliche Potential eigentlich aus, sei unter den herrschenden Bedingungen aber immer mehr verstellt. Das bestimmende Denken drückt im verallgemeinerten Warentausch schließlich der ganzen Welt den Identitätszwang und die Herrschaft der Abstraktion auf. Statt der Spezifik der Dinge gewahr werden zu können, ziehen die Menschen ihre Tickets stereotypen Denkens. Diesem Verhängnis sei scheinbar nur auf einem »falschen Ausweg« zu entkommen, durch die »Illusion von Transzendenz«, wie Gordon Ideologie beschreibt.
Adorno als Spurenleser des menschlichen Gedeihens in der verwalteten Welt
Folgt man Gordons Rekonstruktion von Adorno als dem Spurenleser des menschlichen Gedeihens in der verwalteten Welt, dann meint Glück wohl im besten Sinne so etwas wie die Fähigkeit, Erfahrungen zu machen. Adornos Ethik sei entsprechend auf diese Möglichkeit ausgerichtet. So deutet Gordon Adornos Postulat des »Vorrangs des Objekts« und seine Hinwendung zum »Nichtidentischen« als eine Öffnung des Subjekts für das, was im Bann des Identitätszwangs nicht begriffen werden kann. Gordon nennt dies Adornos »Ethik der Vulnerabilität«, eine »Pose der Offenheit«, und leitet daraus auch den »von mir so genannten Materialismus Adornos« ab. Adorno verstehe Menschen als diesseitige, leibliche Kreaturen, die ihr »Menschsein nur dann verwirklichen könnten, wenn sie ihre ›Fühlung mit der Wärme der Dinge‹ aufrechterhielten«. So sei auch Adornos Faible für die Musik und die Hinwendung zur Ästhetik nachvollziehbar, da die Kunst »uns die Erfahrung eines Glücks erlaubt, die jenseits der Schranken der Subjektivität liegt«.
Was an Gordons Deutung so bahnbrechend daherkommt, ist eigentlich eine Nuance in der moralphilosophischen Diskussion. Im Grunde pflichtet Gordon schließlich Axel Honneths Anerkennungstheorie bei und meint, Adornos Philosophie biete ein »Modell unserer grundlegenden Responsivität gegenüber anderen und der uns umgebenden Welt« und damit »die affektive Vorbedingung für Anerkennung«. Das Problem ist dabei weniger, dass Gordon einen Beitrag zu dieser Nischendiskussion vorlegt, sondern dass er Adorno auf Biegen und Brechen unter deren Ideen zwingt, denen sich dieser eigentlich widersetzt hatte.
Am wohlfeilen Habitus Gordons, der über Glück und Emanzipation mit dem Horizont eines philosophischen Bestandsverwalters spricht, muss einem etwas aufstoßen.
Spätestens hier muss einem etwas an dem wohlfeilen Habitus Gordons aufstoßen, der über Glück und Emanzipation mit dem Horizont eines philosophischen Bestandsverwalters spricht. Dialektik, Immanenz, Materialismus, alles gerinnt ihm zur bloßen theoretischen Prämisse eines Standpunktdenkens. Da hilft es auch nicht, dass Gordon Adorno zitiert, um »philosophische Standpunkte über sich und über die Willkür des Standpunktdenkens hinauszubringen«, oder immer wieder die Selbstkritik als Gütekriterium betont, um den Zwang des Bestehenden zu brechen. Diese Anforderungen auf sich selbst anzuwenden, das eigene Denken und die Theorie als gesellschaftliche Phänomene zu erklären, das ist die materialistische Einsicht Adornos, die Gordon aus Selbstschutz von sich fernhält. Stattdessen ist ihm die Theorie ein rein voluntaristischer Akt, bestimmt nach entscheidenden Vorteilen und besten Eignungen.
Die bürgerliche Vorstellung vom Leben ist in Ideologie übergegangen
Adorno sprach hingegen von der Dialektik als einem »Zwang in der Sache selbst«, als einem Moment jener schlechten Welt, das die Theorie als solches reflektieren müsse. Gordon jedoch begnügt sich mit Dialektik als einer produktiven Nutzbarmachung der Widersprüche. Und so kommt ihm keinen Moment lang in den Sinn, dass jenes Dilemma von Normativitätsfrage und theoretischer Erkenntnis selbst auf ein gesellschaftliches Problem hinweist, mit dessen Erkenntnis Adornos Kritik einsetzt. Denn Pessimismus und Kulturkritik aufs Ganze gab es seinerzeit zuhauf, es ist bei weitem kein Alleinstellungsmerkmal seiner Philosophie. Kritik diente Adorno als Modell einer Analyse, zur Umstellung derjenigen Dinge, die sich im systematischen Denken und im Begriff nicht mehr auffangen ließen.
Für Gordon hat sich Kritik allerdings schon vollumfänglich verselbständigt. Und die philosophische Reflexion dreht sich daher auch um sich selbst: Wie ist Kritik möglich? Welche Vorteile haben bestimmte Annahmen, wofür eigenen sie sich? Welche Drehung können wir noch hinlegen, damit aus dem Paradox wenigstens ein dialektischer Gedanke wird? Und so wird selbst aus einer falschen Deutung ein spannender neuer Gedanke.
Nehmen wir den liebgewonnenen Satz: »Es gibt kein richtiges Leben im falschen.« Statt einer moralischen Bankrotterklärung, die den Philosophen in einen performativen Widerspruch stürzt, von dem wiederum Gordons ganzes Unterfangen seinen Ausgang nimmt, stellt dieser bei Adorno eine recht nüchterne Bemerkung dar: Die bürgerliche Vorstellung vom Leben – und zwar von den vitalistischen Lebensphilosophen bis in das spontane Bewusstsein der Menschen, die sich gegen das gesellschaftliche Unbehagen und die Entfremdung in Einfachheit und Natürlichkeit flüchten wollen – ist unter den herrschenden gesellschaftlichen Bedingungen in Ideologie übergegangen. Diesem Umstand ist aber ganz anders Rechnung zu tragen, als indem man einen Moralbegriff erfindet, der sich der widersprüchlichen Welt anschmiegen kann, weil er genauso widersprüchlich ist.
Peter E. Gordon: Prekäres Glück. Adorno und die Quellen der Normativität. Suhrkamp, Berlin 2023, 470 Seiten, 38 Euro