Nachruf auf den Theatermacher René Pollesch

Überhaupt nichts ist okay

Am 26. Februar verstarb der Theatermacher und Volksbühnen-Intendant René Pollesch. Mit ihm verliert das deutschsprachige Theater seinen prägendsten und avantgardistischsten, aber auch warmherzigsten Autor und Regisseur.

Am Abend des 26. Februar versendete die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin eine Pressemitteilung, die die Theaterwelt erschütterte: »Mit Entsetzen und in tiefer Trauer geben wir bekannt, dass der Autor und Regisseur René Pollesch heute Morgen, am 26. Februar 2024, im Alter von 61 Jahren plötzlich und unerwartet gestorben ist.« Pollesch, seit 2021 Intendant der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz und dem Berliner Haus seit 2001 verbunden, war der prägendste Theatermacher Deutschlands der vergangenen 20 Jahre. Noch kurz vor seinem Tod feierte er am 11. Februar die Premiere eines seiner Stücke an der Volksbühne.

Pollesch schrieb und inszenierte seine Stücke stets selbst, anderen Regisseuren waren Inszenierungen seiner Texte in der Regel nicht erlaubt. Was wie ein Ausdruck von Hochmut wirken mag, war seiner spezifischen Arbeitsweise geschuldet.

Pollesch prägte das postdramatische Theater wie niemand sonst, und das, obwohl dieses Etikett gar nicht unbedingt so ganz auf sein eigenes Theater passte. Der auf Polleschs Werke gemünzte Begriff des »Diskurstheaters« vermag jedoch ebenso wenig zu greifen, was da auf der Bühne geschah. Ja, Polleschs Stücke waren große Diskursmaschinen, geradezu Theoriefleischwölfe. Dabei ging es jedoch weder um das Ausstellen eines Diskurses, gar um Agitprop, noch um postmoderne Spiegelfechterei, die sich nicht festlegen will. Pollesch machte politisches Theater, ohne die Politik auf die Bühne zu bringen.

Ein Pollesch-Stück zu sehen, hieß, dass die Synapsen im Gehirn ordentlich zu tun hatten. Die Pointen wurden so verdichtet abgefeuert, dass man als Zuschauer gar nicht hinterherkam. Theorie, Pop, Kunst, Bühnenbild, Musik, Körper und Sprache wurden in Polleschs Stücken zu einem gewaltigen und kompromisslosen Ganzen. Es war, wie eine Kritikerin schrieb, »Gegenwartsbewältigung«; ein Erlebnis, das elektrisierte und eine ganze Generation von Theatermachern und Kritikern geprägt hat.

»Ich schau dir in die Augen, gesellschaftlicher Verblendungszusammenhang«

Schon die Titel vieler seiner über 200 Stücke sind berühmt: »I love you, but I’ve chosen Entdramatisierung«, »Ich schau dir in die Augen, gesellschaftlicher Verblendungszusammenhang«, »Von einem der auszog, weil er sich die Miete nicht mehr leisten konnte«, »Der okkulte Charme der Bourgeoisie beim Er­zeugen von Reichtum« oder »Je t’adorno« sind nur einige davon. Die Titel einiger seiner letzten Stücke lesen sich nun fast wie Kommentare zu seinem Tod und der Katastrophe, die dieser bedeutet: »Geht es Dir gut?«, »Und jetzt?«, und, gerade einmal zwei Wochen vor seinem Tod: »Ja nichts ist ok«.

Pollesch schrieb und inszenierte seine Stücke stets selbst, anderen Regisseuren waren Inszenierungen seiner Texte in der Regel nicht erlaubt. Was wie ein Ausdruck von Hochmut wirken mag, war seiner spezifischen Arbeitsweise geschuldet. »Ich kann allein nicht denken«, schrieb er einmal. Und so entstanden viele seiner Stücke auch durch die enge Zusammenarbeit vor allem mit seinen Schauspielerinnen und Schauspielern. Sophie Rois oder Fabian Hinrichs konnten ihre ganz eigene Art zu spielen erst in der Symbiose mit Pollesch richtig entwickeln – genauso wie Pollesch in ihnen und anderen Stammdarstellern wie Martin Wuttke, Inga Busch und Milan Peschel die idealen Protagonisten für seine Stücke fand.

Fiel jemand aus der Besetzung zum Beispiel wegen Krankheit aus, wurde auch das Stück abgesagt, Umbesetzungen gab es nicht. Weil seine Arbeiten stets nicht nur von den Schauspielern abhingen, sondern auch stark kontext-, orts- und situationsabhängig waren, hätte eine erneute Inszenierung gar keinen Sinn ergeben. Oder wo, wenn nicht ganz besonders in Hamburg, ergab ein Stück wie »Die Welt zu Gast bei reichen Eltern« Sinn?

Dass auf den jungen Absolventen Pollesch erst einmal die Arbeitslosigkeit wartete, wurde zur Urszene seines Theaters. Vielleicht machte er nur aus der Not eine Tugend, als er Stücke entwickelte, die genau jene prekäre Arbeitswelt auf die Bühne brachten, in die er selbst geworfen worden war.

Konsequenterweise behauptete Pollesch zu Beginn seiner Intendanz an der Volksbühne, er wisse gar nicht, was ein Intendant tue. Das war natürlich kokett, sollte aber verdeutlichen, dass hier kein Theaterfürst antrat, sondern ein Kollektiv, dem René Pollesch lediglich seinen Namen lieh. Die Übernahme der Intendanz an der Volksbühne war für Pollesch auch eine Rückkehr, nicht nur nach der kurzen Pause, die die Volksbühnen-Intendanz von Chris Dercon von 2017 bis 2018 für ihn bedeutet hatte. Es war auch eine Rückkehr zu einer Aufgabe, die er bereits vor einigen Jahren übernommen hatte: Von 2001 bis 2007 leitete Pollesch den Prater, eine Nebenspielstätte der Volksbühne. Dort hatte er während der Ära des Volksbühne-Intendanten Frank Castorf seine spezifische Arbeitsweise ausgearbeitet.

Vorausgegangen war dem ein Studium in Gießen, im ersten Jahrgang des damals unerhört praktisch angelegten Studiengangs Angewandte Theaterwissenschaft. Unter anderem beim Vordenker der Postdramatik, Hans-Thies Lehmann, wurde hier Theater als avantgardistische Praxis statt als Sachwalter einer deutschtümelnden Tradition gelehrt. Gießen, das deswegen manchem als »größte Unglücksschmiede des deutschen Theaters« galt, bot eine Universitätsbühne, an der möglich war, was unter dem Druck zu erreichender Pu­blikumszahlen einen sonst den Job kosten konnte: Experimentierfreude.

Pollesch verschaffte Erweckungserlebnisse

Dass auf den jungen Absolventen Pollesch erst einmal die Arbeitslosigkeit wartete, wurde zur Urszene seines Theaters. Vielleicht machte er nur aus der Not eine Tugend, als er Stücke entwickelte, die genau jene prekäre Arbeitswelt auf die Bühne brachten, in die er selbst geworfen worden war. In jedem Fall traf er damit einen Nerv. Diesen allgegenwärtigen Zustand als Theorie-Pop-Splatter auf die Bühne zu bringen, wurde zu jenem originären Pollesch-Theater, das erst in den vergangenen paar Jahren hier und da begann, Ermüdungserscheinungen aufzuweisen.

Dass Polleschs Tod ungewöhnlich viel öffentliche Trauer hervorrief, mag auch seiner Plötzlichkeit geschuldet sein. Keine Krankheit und kein Rückzug aus der Öffentlichkeit gingen ihm voraus. Sein Tod war »wie eine Serie oder ein Podcast, die oder den alle lieben, die oder der aber plötzlich abgesetzt wird«, schrieb der Theatermacher Milo Rau in der österreichischen Zeitung Der Standard. Aber Pollesch war zudem jemand, der vielen, die heute durch den Kulturbetrieb taumeln, so etwas wie ein Erweckungserlebnis verschafft hat.

Pollesch war einer der wenigen, vielleicht der Einzige, der etwas völlig Neues zustande brachte; ästhetisch, politisch und in der Arbeitsweise avantgardistisch im besten Sinne. Um das Erlebnis seines Spätwerks gebracht worden zu sein, schmerzt.

In seinen Stücken entstand, bei aller gebotenen Zurückhaltung gegenüber diesem Begriff: Gemeinschaft. Da saß man im Dunkeln, umgeben von Fremden, und war plötzlich weniger allein, weil alle Teil dieser sich auf der Bühne entfaltenden, pulsierenden Kollektivintelligenz wurden. »Alles macht man für jemand anderen. Für jemanden, den man liebt zum Beispiel«, schrieb Pollesch vor wenigen Jahren. Er liebte das Theater und er liebte seine Schauspieler und er liebte das Publikum. Und das spürte man. Hier war, bei aller intellektuellen Dichte, nichts hochnäsig, belehrend oder kalt. Im Gegenteil, man konnte sich in diese Stücke quasi hineinlegen, sie waren eine Zumutung, der man sich mit Lust hingab.

Das deutschsprachige Theater hat seinen intellektuellen Herzschrittmacher verloren. Klar, es gibt viele gute Regisseure und Dramatiker. Aber Pollesch war einer der wenigen, vielleicht der Einzige, der etwas völlig Neues zustande brachte; ästhetisch, politisch und in der Arbeitsweise avantgardistisch im besten Sinne. Um das Erlebnis seines Spätwerks gebracht worden zu sein, schmerzt. Der Tod ist ohnehin eine himmelschreiende Ungerechtigkeit. Der Tod René Polleschs ist aber auch eine verdammte Unverschämtheit.