Ist die österreichische Sozialdemokratie noch zu retten?

Teil der Lösung oder Teil des Problems?

Am 9. Mai trat der österreichische Bundeskanzler und SPÖ-Vorsitzende Werner Faymann von allen Ämtern zurück. Seine Partei stehe nicht mehr hinter ihm, begründete er seine Entscheidung. Der Bahnmanager Christian Kern soll neuer Bundeskanzler und SPÖ-Vorsitzender werden. Ist die österreichische Sozialdemokratie noch zu retten? Und wenn nicht: Ist ihr Niedergang ein Grund zur Freude? Wir haben Autorinnen und Autoren in Wien und Berlin gefragt.

Keine Schadenfreude
Sandra Kreisler, Schauspielerin
Österreichs sozialdemokratische Partei hat ihren Namen immer noch etwas mehr verdient als die deutsche Schwesterpartei, deren Vorsitzender nicht nur fröhlich faschistoide Regime besuchen möchte, sondern auch sonst keine Ahnung vom wirklichen Leben der einfachen Leute hat. Überall in Europa verschwindet soziale, humanistische Haltung, gewinnen die Extremisten beider Seiten – die bekanntlich kaum was unterscheidet –, seit Jahren werden allerorts die Sozialdemokraten von den Populisten gejagt und verlieren durch Anpassung. Und wenn dann wieder wo ein Steinchen »Sozial« und »Demokratie« wegbröselt, tun alle ganz erstaunt.
Österreich hat nun ganz besonders und in allen Parteien politisches Personal, für das der Ausdruck »origineller Zugang zur Denktätigkeit« geradezu euphemistisch wäre. Die Innenminister Österreichs beispielsweise wurden in den vergangenen Jahren stets von der ÖVP gestellt, zuletzt waren es zwei Damen, gegen deren intellektuelle und empathische Fähigkeiten der scheidende Kanzler als synaptisches Feuerwerk zu bezeichnen wäre. Schadenfreude wäre aber ein Fehler: Im Osten hängt die Sonne der Kultur früher tief, und die geistigen Zwerge werfen lange Schatten. Aber die Sonne wandert.

Der Dritte Weg ist eine Sackgasse
Doron Rabinovici, Schriftsteller
Kein Grund zur Freude: Die österreichische Sozialdemokratie wird abgelöst von einem rechtsextremen Populismus, der mit Rassismus auftrumpft, die ­eigene Vergangenheit verharmlost und einen plebiszitären Autoritarismus anstrebt. Aber die Krise der So­zialdemokratie ist kein österreichisches Spezifikum, sondern ein Phänomen, das auf dem ganzen Kontinent die klassischen Fraktionen der Arbeiterbewegung erfasst. Die Sozialpartnerschaft wird abgewählt. Der parlamentarische Ausgleich zwischen Gewerkschaften und bürgerlichen Parteien ist desavouiert. Der Wohlfahrtsstaat wird eingespart. Gescheitert ist die Praxis, den Zugang zur Macht zu erhalten, indem die eigene Identität preisgegeben wird. Der sogenannte Dritte Weg führt nicht weiter. Aber es fehlt eine soziale Vision für ein gemeinsames Europa, denn eine starke politische Vertretung derer, die ihre Arbeitskraft verkaufen müssen, bleibt unabdingbar für alle modernen Demokratien und für jeden Rechtsstaat.

Selber schuld
Austrofred, Musiker
Niedergang? Ich bleibe einmal optimistisch und sage, das ist ein Zwischen-K.O., aber die Sozialdemokratie ist noch lange nicht obsolet, weil: Verteilungsgerechtigkeit wird in Österreich, in Europa und in der Welt in den nächsten Jahrzehnten ein immer noch entscheidenderes Thema werden, und genau das ist ja die Kernkompetenz der Sozialdemokraten, da haben sie über 100 Jahre Know-how, das ist nicht nichts. Vielleicht braucht’s weniger Apparat, vielleicht werden auch andere, linkere Gruppierungen diese Politik vertreten, aber der Bedarf ist da. Freilich muss man bezüglich der Faymann-SPÖ auch sagen: Selber schuld, weil zum Grenzen zusperren braucht’s echt keine Roten. Und wenn die Menschen wirklich glauben, der Strache und ähnliche, die kümmern sich besser um sie, naja, dann müssen sie sie halt mal wählen, vielleicht brauchen sie einfach einmal eine in die Goschen.
Unsere einzige Chance
Marlene Streeruwitz, Schriftstellerin
Ich bin nicht froh. Es gibt in Österreich keine Bewegung, die linke Politik übernehmen könnte. Die Sozialdemokratische Partei Österreichs, die bis 1991 Sozialistische Partei hieß, ist unsere einzige Möglichkeit. Links. Bis jetzt. Und vielleicht saniert der neue Vorsitzende und wahrscheinliche Bundeskanzler, Christian Kern, ja die Partei in eine ganz neue Bewegung hinüber. Der Mann ist Chef der Bundesbahn und müsste etwas von Zeit und Pünktlichkeit verstehen. Vielleicht stellt er dann fest, dass der Fahrplan seiner Partei sehr viel Verspätung aufweist. Die Sozialdemokratie hätte vor zehn Jahren die bedingungslose Grundsicherung einführen müssen. Dann wäre es nicht notwendig gewesen, in der Flüchtlingskrise die Flüchtlinge der Krise zu berauben und Krise als populistische Ressource auf die Rechte zu häufen. Grundgesichert hätten wir die Chance gehabt, Leben zu gestalten und nicht immer tiefer in die Selbstausbeutung gejagt zu werden. Und in die Unzufriedenheit. Auf allen Ebenen. Vielleicht erinnert man sich jetzt, dass die Politik die Gestaltung der Wirtschaft übernehmen muss, wenn es um die soziale Demokratie gehen soll, wie demokratischer Sozialismus sich das vorstellt. Oder vorstellen sollte. Na ja.

Die Kernschmelze der SPÖ
Thomas Schmidinger, Politikwissenschaftler
Es hätte schlimmer kommen können, aber auch ein Manager, der im Herbst 2015 bei der Ankunft Tausender Flüchtlinge per Bahn unzweifelhaft seine Management-Qualitäten unter Beweis gestellt hat, wird wohl kaum den Niedergang der SPÖ aufhalten können. Sich darüber freuen können allerdings nur jene, die auf eine Machtübernahme der FPÖ hoffen. Denn trotz aller durchaus auch vielversprechenden Versuche links der SPÖ und der Grünen ein neues, pluralistisches linkes Projekt zu beginnen, wird sich dieses nicht schnell genug eine Massenbasis erarbeiten, um damit einer Machtergreifung der Rechtsextremen noch etwas Wirksames entgegengesetzen zu können. Da der Richtungsstreit zwischen Antifaschistinnen und FPÖ-Affinen in der SPÖ mit dem Auswechseln eines unpolitischen Aparatschiks durch einen unpolitischen Manager nicht entschieden wurde, ist es durchaus möglich, dass nach einer Wahl von Hofer zum Präsidenten die Kernschmelze der SPÖ weitergeht und nach Neuwahlen gar die Rest-SPÖ der FPÖ zur Macht verhelfen wird.

Rotgetünchte Gewohnheiten
Susannah Winter, Journalistin
Der Niedergang der Sozialdemokratie in Österreich, Deutschland und anderen Ländern Europas, er ist verdient und selbstverschuldet. Froh sein lässt sich darüber kaum. Wer heute SPÖ wählt, tut dies aus Gewohnheit oder Tradition oder vertraut auf rotgetünchte Rhetorik, die mit der Realpolitik nicht viel gemein hat. Vormals sozialdemokratische Parteien waren sich in den letzten Jahren für wenig zu schade. Abbau von Arbeitnehmerrechten, Ausbau der Leiharbeit, steigende Altersarmut, Eingriffe in die Invalidenrente, Sanktionen gegen Arbeitslose.
Diese offene Abkehr von sozialdemokratischen Werten und die dadurch aufkeimende Existenzangst und Perspektivlosigkeit in den Köpfen derer, die traditionell rot wählen, macht den Weg frei für Populisten und Radikale von FPÖ bis AfD. Die Schwäche der Sozialdemokraten ist die Stärke der Rechten. Beantwortet wird dies bisher nicht mit sozialdemokratischer Politik, sondern mit Wetteifern um radikale Stimmen, mehr Nationalismus, Entsolidarisierung. Wollten wir den Menschenfeinden etwas entgegensetzen, wir bräuchten eine Rückbesinnung auf echte sozialdemokratische Inhalte. So wie es ist, hat Österreich schlicht keine Sozialdemokratie mehr anzubieten.

Die Kern-Frage
Von Kurto Wendt, Schriftsteller
Die Kommunistischen Parteien Westeuropas standen nach dem Zusammenbruch des Sozialismus 1989 vor der Auflösung, Umbenennung oder radikalen Veränderung. Die Sozialdemokratischen Parteien sahen sich auf der Seite der Sieger und keinen Grund, ihre ebenfalls stalinistischen Strukturen zu hinterfragen. Das führte zwangsläufig zur Ausgrenzung von kreativem Entwicklungspotential, zu subtiler Verachtung des eigenen Klientels sowie Misstrauen unter den Parteimitgliedern. Zu guter Letzt kommt noch die totale Realitätsverweigerung dazu. »Werner, der Kurs stimmt«, stand in Honecker-Style auf Taferln zur Unterstützung des Kanzlers Faymann am 1. Mai, während er von der Menge gnadenlos ausgepfiffen wurde. Eine Woche später war er weg. Noch dreht die SPÖ eine Runde, dann vielleicht noch eine gemeinsam mit der rechtsextremen FPÖ und dann bleibt ein folkloristischer Rest. Wie die griechische Pasok. Leid tut sie mir nicht und fehlen wird sie auch nicht. Sehr wohl fehlt eine formierte Linke in Österreich; das steht jetzt an, vielleicht schon mit »Aufbruch« am 3./4. Juni. Bereits 750 Menschen haben sich angemeldet, obwohl es nichts zu verteilen gibt. Das lässt hoffen.