29.04.2021
Plädoyer für ein Zusammenwirken von Theorie und Praxis im Mieterkampf

Falsche Gegensätze

Wer die miserable Situation aufheben will, in der viele Mieterinnen und Mieter sich befinden, sollte sich um ein genaues Verständnis ihrer Ursachen bemühen.

In großen Städten wird Wohnraum immer teurer. Mieter mit erschwinglichen Bestandsmieten leiden oft unter defekten Heizungen, Wasserschäden, verwahrlosten Treppenhäusern und dergleichen, weil Wohnungsgesellschaften notwendige Instandhaltungsmaßnahmen verweigern. Oftmals überflüssige Modernisierungen, die auf die Mieten aufgeschlagen werden können, haben zur Folge, dass sich der Wohnraum weiter verteuert. Dass der Sozialwohnungsbestand schwindet, verschlimmert die Situation.

Diese Entwicklung begann, als viele große Städte in den nuller Jahren ihren Wohnungsbestand an Finanzinvestoren verkauften. Darunter war auch das Land Berlin, das 2004 rund 65 000 Wohnungen an einen Finanzinvestor verscherbelte. Federführend war damals ein Finanzsenator namens Thilo Sarrazin unter einer rot-roten Regierung. Insgesamt verkaufte das Land Berlin seit dem Ende der DDR bis Mitte der nuller Jahre an die 200 000 Wohnungen.

Um den rasanten Anstieg der Mietpreise aufzuhalten, ließ der 2016 gebildete rot-rot-grüne Senat im Januar vorigen Jahres das »Gesetz zur Mietenbegrenzung im Wohnungswesen in Berlin« beschließen, kurz »Mietendeckel« genannt. Mit diesem wurden die Mieten für 1,5 Millionen Wohnungen in Berlin auf den Stand von Juni 2019 eingefroren. Bestandsmieten, die mehr als 20 Prozent über Mietobergrenzen lagen, die abhängig von Alter und Ausstattung der Wohnung festgelegt worden waren, mussten gesenkt werden. Mieterhöhungen sollten erst ab 2022 und nur zum Inflationsausgleich wieder möglich sein. In vielen anderen Bundesländern wurde bereits gefordert, es Berlin gleichzutun.

Das ist nun aussichtslos. Am 15. April erklärte das Bundesverfassungsgericht den Berliner Mietendeckel für nichtig. Mit dem Inhalt des Berliner Gesetzes hatte sich der Zweite Senat des Gerichts allerdings nicht befasst. Vielmehr besagt das Urteil, dass das Land Berlin nicht zuständig sei, weil der Bund diesen Bereich bereits abschließend geregelt habe – vor allem mit der seit 2015 geltenden »Mietpreisbremse«, die allerdings kaum etwas dazu beigetragen hat, Mieten bezahlbar zu halten. Das heißt aber nicht, dass weitergehende Regulierungen nicht mehr möglich wären, sie fallen jedoch allein unter die Gesetzgebung des Bundes.

Noch immer gilt, was Karl Marx im dritten Band von »Das Kapital« festgestellt hat: Der Bodenwert bewegt sich umgekehrt proportional zur Höhe der Kapitalmarktrenditen.

Der Aktienkurs der beiden im Deutschen Aktienindex (Dax) notierten Immobilienkonzerne Vonovia und Deutsche Wohnen ist unmittelbar nach der Bekanntgabe des Urteils deutlich gestiegen. Für viele Berliner Mieter war das Urteil hingegen ein herber Schlag. Auf einige von ihnen kommen empfindliche Nachzahlungen zu. Vonovia hat immerhin verkündet, für ihre 42 000 Berliner Wohnungen keine Mietnachzahlungen zu fordern – einer Pressemitteilung des Konzerns zufolge, um ein »Signal« zu setzen, »dass es keine weitere Eskalation rund um bezahlbares Wohnen in der Hauptstadt geben darf«. Die Deutsche Wohnen mit ihren 110 000 Wohnungen in Berlin ist weniger kulant: Sie besteht, wo sie Ansprüche geltend machen kann, auf Nachzahlungen und bietet dafür lediglich Stundungsmöglichkeiten sowie Einmal- und Ratenzahlungen an.

Sozialverbände, Gewerkschaften und der Deutsche Mieterbund forderten nach Bekanntgabe des Urteils, auf Bundesebene gegen überteuerte Mieten vorzugehen – genauso wie Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD), die nach der Abgeordnetenhauswahl im September Regierende Bürgermeisterin von Berlin werden will. Vor der gleichzeitig stattfindenden Bundestagswahl wird der Bundestag wohl keine Regeln zur Mietenbegrenzung mehr beschließen. Nicht ausgeschlossen, dass ein bundesweiter »Mietendeckel« zu einem wichtigen Thema im Wahlkampf wird.

Wie Peter Nowak schreibt, ist Berlin ein Zentrum der Mieterbewegung in Europa. In kaum einer anderen Stadt ist das Thema so virulent wie dort: 84,7 Prozent des Wohnungsbestands sind Mietobjekte, bundesweit sind es 53,5 Prozent. In ländlichen Gebieten ist hingegen die Wohneigentumsquote besonders hoch, ferner sind die Mieten dort relativ niedrig. Eine bundesweite Regelung des Themas droht daher, dessen Dringlichkeit in großen Städten nicht gerecht zu werden.

Wie kommt es überhaupt dazu, dass die Mieten in Städten wie Berlin so stark steigen? Ernst Lohoff hat deutlich gemacht, dass massenhaft Kapital in den Immobiliensektor fließt, weil attraktive anderweitige Anlagemöglichkeiten Mangelware sind. Mit diesem Kapitalzufluss kommen auch die großen Immobilienkonzerne, die sich durch besonders rücksichtsloses Verhalten auszeichnen. Sie verfügen über erhebliche finanzielle Mittel, weil die Zentralbanken seit der Wirtschafts­krise von 2008 die Menge des umlaufenden Geldes erhöht haben, um einen Zusammenbruch der Weltwirtschaft zu verhindern.

Das Finanzkapital verfügt also über exorbitante Geldmengen, für die es verzweifelt nach Anlagemöglichkeiten sucht. Schuldpapiere bringen praktisch keine Zinsen mehr; Aktien, Gold und Co. reichen nicht aus, um die Geldflut zu absorbieren. Deshalb kaufen Investoren vermehrt Immobilien und treiben deren Preise in die Höhe. Die Verteuerung anderer Anlageformen stört kaum jemanden, aber Immo­bilien sind lebenswichtige Gebrauchsgüter. Sie sind praktisch die einzigen Dinge, die sowohl den Güter- wie auch den Anlagemärkten ange­hören.

Noch immer gilt, was Karl Marx im dritten Band von »Das Kapital« festgestellt hat: Der Bodenwert bewegt sich umgekehrt proportional zur Höhe der Kapitalmarktrenditen. Sprich, weil diese in den Keller gehen, gehen die Bodenpreise durch die Decke. Die Höhe der Mieten folgt dieser Entwicklung mit zeitlicher Verzögerung. Angesichts weiterer Geldmassen, die in der EU, den USA und anderswo zur Pandemiebekämpfung in die Welt gesetzt werden, lässt das eine weitere Verschlechterung der Lage befürchten.

Wenn man die Böden – und mit ihnen die Immobilien – in privater Hand lässt, werden sie sich weiterhin exorbitant verteuern. Um die entsprechenden Profite zu machen, müssen die darauf stehenden Gebäude so viel Ren­dite einbringen wie nur irgend möglich. Dazu ist günstiger Wohnraum nicht geeignet und wird daher auch nicht gebaut. Um diese Situation zu beheben, sollte man die Böden dem Markt entziehen.

Die Berliner Kampagne »Deutsche Wohnen und Co. enteignen« geht in die richtige Richtung, indem sie dafür plädiert, Immobilienunternehmen mit mehr als 3 00 Wohnungen in Berlin nach Artikel 14 des Grundgesetzes gegen eine Entschädigung zu vergesellschaften. Wie Christopher Wimmer schreibt, gehören Enteignungen zum bundesdeutschen Alltag, bisher allerdings fast ausschließlich zum Zweck des Straßenbaus. Sie müssen aber nicht darauf beschränkt bleiben. Die Kam­pagne zur Enteignung großer Wohngesellschaften findet weit über das linke Milieu hinaus Unterstützung. Allerdings dürften die Entschädigungen, die den Konzernen nach dem Grundgesetz zustehen, recht hoch ausfallen.

Was soll anschließend mit den Immobilien geschehen? Wie kann man erschwinglichen Wohnraum erhalten, neuen schaffen und eine soziale Entmischung in bestimmten Wohngebieten verhindern? Wie kann man ferner die Wohnungslosenhilfe aus der paternalistischen Elendsverwaltung holen, die Marie Gogoll eindrücklich beschreibt?

Lohoff hat in der Broschüre »Wa­rum das Wohnen unbezahlbar wird und was dagegen zu tun ist«, die von der wertkritischen Gruppe Krisis veröffentlicht wurde, vorgeschlagen, die Verwaltung der Immobilien per Erbpachtvertrag vorzugsweise an Genossenschaften zu vergeben. Bei Fabian Kunow ist er damit auf Kritik gestoßen. Kunow gesteht zwar zu, dass Genossenschaften keiner Profitlogik unterworfen sind, kritisiert aber, dass sie nur ihren Mitgliedern verpflichtet seien und teils den Erwerb teurer Genossenschaftsanteile sowie hohe Mieten forderten. Aus Gaston Kirsches Beitrag erfährt man allerdings, dass in Hamburg Wohnungen auf Sozialmietniveau sehr häufig von Genossenschaften vergeben werden. Ferner kann man von Kirsche lernen, dass es dort bereits eine Initiative gibt, die erreichen will, dass landeseigene Grundstücke nicht mehr verkauft, sondern nur noch in Erbpacht vergeben werden dürfen.

Einige Diskutanten haben einen Gegensatz zwischen Theorie und Praxis aufgemacht, so etwa Christopher Wimmer. Aber ist es tatsächlich ein Gegensatz, die verhängnisvolle Sonderstellung, die Immobilien in der Warenwelt innehaben, zu beschreiben und soli­darisch an Ort und Stelle konkret gegen die unsägliche Entwicklung zu kämpfen? Es sind lediglich verschiedene Herangehensweisen an das Problem, aus denen nicht künstlich ein Widerspruch konstruiert werden sollte. Theoretische Überlegungen ohne politische Praxis sind wirkungslos, aber praktisches Engagement ohne theoretische Reflexion ist blind. Erst beides zusammen ergibt eine schlagkräftige Kombination.