Jelena Kostjutschenko, russische Journalistin, im Gespräch über ihre mutmaßliche Vergiftung

»Es ist dumm und sinnlos, Journalisten zu töten«

Auch im Ausland sind russische Oppositionelle vor Verfolgung nicht sicher. Bei mehreren Morden und Mordversuchen führen Spuren zur russischen Regierung, so auch im Fall von Jelena Kostjutschenko. Die Berliner Staatsanwaltschaft hat die bereits eingestellten Ermittlungen wegen versuchten Mordes wieder aufgenommen, da neues Beweis­material aufgetaucht sei. Kostjutschenko sprach mit der »Jungle World« über ihre mutmaßliche Vergiftung in Deutschland.
Interview Von

Wann haben Sie erstmals bemerkt, dass Sie unter Beobachtung stehen?
Ich habe seit langem Schwierigkeiten mit den russischen Geheimdiensten und den Strafverfolgungsbehörden, aber nie ist das so weit gegangen wie jetzt.

Was genau ist passiert?
Im Auftrag der Nowaja Gaseta bin ich direkt nach Kriegsausbruch in die ­Ukraine gefahren. Fünf Wochen lang habe ich dort gearbeitet und mehrere Artikel verfasst, einen davon aus dem besetzten Cherson. Um dorthin zu gelangen, musste ich die Frontlinie auf dem Hin- und Rückweg überqueren, wobei mir Einwohner geholfen haben. Ich habe in Erfahrung gebracht, dass russische Militärangehörige in Cherson Menschen entführen und foltern. Mir gelang es, 44 Namen entführter Personen und die Begleitumstände ihrer Entführung herauszufinden; mit Hilfe jener, die freigelassen worden waren, konnte ich den Ort identifizieren, der als Gefängnis diente.

Was geschah dann?
Danach hatte ich vor, nach Mariupol zu fahren. Die Stadt war noch nicht besetzt, dort fanden Kämpfe statt. Eine Straße über Saporischschja war noch befahrbar, also ging ich dorthin. Ein Mann, der nach Mariupol fahren wollte, um seine Angehörigen herauszuholen, war einverstanden, mich mitzunehmen. Am Vorabend der Fahrt hat mich meine Kollegin angerufen. Ihr war mitgeteilt worden, dass tschetschenische Einheiten der Rosgwardija (der russischen Nationalgarde, Anm. d. Red.), die die Zugänge nach Mariupol kontrollierten, den Befehl hätten, mich zu töten. Meine Kollegin wollte das nicht glauben, daraufhin wurde ihr eine Audioaufnahme vorgespielt, auf der ich Details der Fahrt erläutere, und sie hat meine Stimme erkannt.

»Etliche Ärzte befassten sich mit mir, aber niemand hatte eine Ahnung, was mit mir los ist. Weitere Symptome kamen hinzu, am Schluss blieb nur noch eine Version – dass ich vergiftet worden war.«

Kurz darauf hat mir mein Kontakt bei der ukrainischen Militäraufklärung bestätigt, dass in der Ukraine die Ermordung einer Journalistin der Nowaja Gaseta geplant sei. An jeder russischen Straßensperre werde nach mir gefahndet. Dmitrij Muratow, mein Chefredakteur, hat mir dann klipp und klar gesagt, dass ich nicht nach Mariupol fahren kann und die Ukraine verlassen muss. Was ich auch getan habe.

Was haben Sie damals gedacht?
In dem Augenblick habe ich gedacht – auch wenn mir jetzt klar ist, wie naiv das war –, dass der geplante Anschlag auf mich eine Ad-hoc-Entscheidung war. Sie waren wahrscheinlich erbost darüber, dass ich nach Cherson gefahren bin, meine Erkenntnisse darüber veröffentlicht habe und jetzt auch noch nach Mariupol wollte, das dem Erd­boden gleichgemacht wurde.

Und wie ging es dann weiter?
Ich war in schlechter Verfassung, wollte mich erholen und nach Russland zurückkehren. Nach drei Wochen hat Muratow mir mitgeteilt, dass ich nicht nach Russland zurück kann, weil man mich dort umbringen würde. An der Situation hat sich in den folgenden Monaten nichts geändert. Am 29. September habe ich dann angefangen, für das Internetportal Meduza zu arbeiten, und bin nach Berlin gezogen. Meine erste Reise hätte in den Iran führen sollen, die zweite in die Ukraine. Dafür sollte ich zuerst ein Visum beim Konsulat in München beantragen. Am 17. Oktober bin ich mit dem Nachtzug gefahren, aufgrund von technischen Schwierigkeiten scheiterte die Visabeantragung.

Ich habe dann mit einer Freundin zu Mittag gegessen und mich wieder in den Zug gesetzt. Dort ist mir ein unangenehmer Geruch an meinem Körper aufgefallen, mein Schweiß roch nach verfaultem Obst. Nach der Ankunft in Berlin war ich nicht in der Lage, mich zu orientieren. Am nächsten Tag weckten mich merkwürdige, heftige Schmerzen im Oberbauch; es wurde immer schlimmer. In der Arztpraxis hieß es zunächst, das könnte an einer früheren Covid-Erkrankung liegen, aber das Blutbild war extrem schlecht. Hepatitis konnte ausgeschlossen werden, etliche Ärzte befassten sich mit mir, aber niemand hatte eine Ahnung, was mit mir los ist. Weitere Symptome kamen hinzu, am Schluss blieb nur noch eine Version – dass ich vergiftet worden war.

Wussten Sie damals schon von den mutmaßlichen Vergiftungen der Aktivistin Natalja Arno und der Journalistin Irina Bablojan, weiteren Kreml-Kritikerinnen, von denen die Öffentlichkeit inzwischen ebenfalls erfahren hat?
Nein, davon wusste ich nichts. Soweit mir bekannt, drangen erst im Frühjahr erste Details durch. Ich selber konnte mir nicht vorstellen, in so eine Situation zu geraten, obwohl schon Journalisten der Zeitung, für die ich gearbeitet habe, umgebracht worden waren. Allein zu meiner Zeit wurden vier meiner Kollegen getötet und einer vergiftet. Ich dachte, so gefährlich bin ich doch gar nicht. Für mich war es unvorstellbar, dass jemand auf die Idee kommen könnte, mich auf deutschem Gebiet zu töten.

Ist dieser Gedanke jetzt für Sie real geworden?
Ich musste mich mit diesem Gedanken abfinden. Wo es bereits einen Versuch gab, konnte es auch einen zweiten geben. Alle Toxikologen, mit denen die investigativen Teams von The Insider und Bellingcat, die in meinem Fall ­recherchieren, gesprochen haben, halten eine exogene Intoxikation für die wahrscheinlichste Erklärung – also eine durch Fremdstoffe verursachte Vergiftung. Inzwischen halte ich diese Version für die nächstliegende. Aber ich warte ungeduldig auf die Ergebnisse der polizeilichen Ermittlungen und die Fortsetzung der journalistischen ­Recherche.

»Nach einer meiner Vernehmungen im Rahmen der Ermittlungen hat ein Polizist meine Sorglosigkeit und die meiner Kollegen kritisiert: Wir verhielten uns, als ob wir uns in Deutschland im Urlaubsparadies befänden.«

Trotzdem bin ich der Ansicht, es ist wichtig, über den ganzen Vorgang schon jetzt offen zu sprechen, weil ich an mir sehe, wie sicher ich mich in Deutschland gefühlt und elementare Sicherheitsvorkehrungen, anders als in Russland, komplett außer Acht gelassen habe. Nach einer meiner Vernehmungen im Rahmen der Ermittlungen hat ein Polizist meine Sorglosigkeit und die meiner Kollegen kritisiert: Wir verhielten uns, als ob wir uns in Deutschland im Urlaubsparadies befänden. Das sei schockierend, wo doch die russischen Geheimdienste in Deutschland äußerst aktiv seien.

Was halten Sie von dieser Einschätzung?
Sie ist richtig. Die Polizisten waren verärgert, weil ich mich so spät bei ihnen gemeldet habe – erst nach zweieinhalb Monaten! Dabei hätte ich noch während der Zugfahrt die Polizei informieren müssen. Ich hoffe, dass meine und die anderen offengelegten Geschichten dazu führen, dass sich andere Journalisten, Menschenrechtler und Politiker außerhalb Russlands nicht in falscher Sicherheit wiegen. Bei Verdacht sollten sie sich bei The Insider und Bellingcat melden. Je mehr Informationen dem Rechercheteam vorliegen, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie diejenigen aufstöbern, die versuchen, uns zu töten.

Sie halten sich in der Öffentlichkeit nicht mit Liebesbezeugungen für Russland zurück. Dabei ist Ihnen der Weg dorthin versperrt, vielleicht für viele Jahre. Hat sich Ihre Einstellung zu Russland in den vergangenen anderthalb Jahren ver­ändert?
Nein. Ich liebe mein Land, ich möchte dort leben und arbeiten. Für mich sind Russland und diejenigen, die versucht haben, mich zu töten, nicht ein und dasselbe. Es ist dumm und sinnlos, Journalisten zu töten. Der Journalismus bildet nur die Realität ab, und die verändert sich nicht durch die Ermordung von Journalisten. Außerdem treten an die Stelle ermordeter Journalisten immer wieder neue, die deren Arbeit fortführen, weil sie ihre Arbeit ehrlich betreiben, ihre Leser wertschätzen und ihr Land lieben.

Heißt das, Abschreckungsmechanismen sind unwirksam? Welche Absicht steckt hinter dem mutmaßlichen Versuch, Sie zu töten? Rache?
Das werden wir erfahren, wenn die Täter gefunden sind. Ich tue mich schwer, mir ihre Motive vorzustellen. Das Streben nach Wahrheit lässt sich nicht aus der Welt schaffen. Wir arbeiten für dieses Ansinnen und machen weiter, egal was passiert. In Russland wurde der Journalismus faktisch seiner Rechtsgrundlage beraubt, Berichterstattung über den Krieg, die sich von der Version des Verteidigungsministeriums unterscheidet, ist ein Strafdelikt, wie auch die Zusammenarbeit mit der Nowaja Gaseta Europa und Meduza, die zu sogenannten unerwünschten ausländischen Organisationen erklärt worden sind.

Meine Texte über die Ukraine mussten von der Website der immer noch in Russland tätigen Nowaja Gaseta unter Drohung des Lizenzentzugs entfernt werden, andere Medien haben sie dann bei sich veröffentlicht. Man ­sollte meinen, der Nachwuchs an den russischen Journalistenschulen bleibe aus, aber dem ist nicht so. Als Journalisten wollen sie die Wirklichkeit beschreiben, und die sieht so aus, dass in unserem Land Faschismus herrscht und dass unser Land einen ungeheuerlichen Angriffskrieg gegen die Ukraine führt, wo viele russische Staatsangehörige Freunde und Familie haben.

Sind Sie trotz allem weiter in der Lage, Ihrer Arbeit nachzugehen?
Im Moment fällt mir das schwer. Länger als drei Stunden pro Tag kann ich nicht arbeiten. Meine Gesundheit erlaubt es mir nicht, Reportagereisen zu unternehmen, also das zu tun, worin ich richtig gut bin.

Dafür habe ich ein Buch geschrieben, das Mitte Oktober auch auf Deutsch erscheinen wird. Darin geht es um die Liebe zum eigenen Land, wie sie sich verändert, wie diese Liebe uns verändert – nicht immer zum Besseren. Darin beschreibe ich, wie der Faschismus in Russland Einzug gehalten hat, während wir die Augen verschlossen hielten. Die Polizei ist der Ansicht, dass die geplante Veröffentlichung einen wei­teren Anschlag auf mich provozieren könnte. Genau aus diesem Grunde habe ich beschlossen, meine Geschichte jetzt zu erzählen – ich will die Kosten in die Höhe treiben, denn das Buch erscheint auf jedem Fall.

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Jelena Kostjutschenko ist eine russische Investigativjournalistin. Seit 2005 arbeitet sie als Reporterin und Sonderkorrespondentin für die russische oppositionelle Zeitung »Nowaja Gaseta«. Sie hat mehrere russische journalistische Preise erhalten, unter anderem für ihre Recherchen über die Verfolgung und Ermordung von Schwulen in Tschetschenien (zusammen mit Irina Gordienko und Jelena Milaschina). Im vergangenen Jahr recherchierte und schrieb sie über den Krieg in der Ukraine. Am 18. Oktober erscheint im ­Penguin-Verlag ihr Buch »Das Land, das ich liebe«.