Keine Puppe wie alle anderen
Es ist Pieter Bruegel dem Älteren zu verdanken, dass wir ziemlich genau wissen, womit europäische Kinder Mitte des 16. Jahrhunderts spielten. Sein 1560 entstandenes Bild »Khinderspill« zeigt mehr als 220 Kinder und Jugendliche in über 90 Spielsituationen sowie eine eindeutig erwachsene Person. Die Kinder stellen verkleidet in Rollenspielen Hochzeiten oder religiöse Feste nach, laufen auf Stelzen, reiten auf Steckenpferden, spielen Tauziehen, schlagen einen Purzelbaum, machen Bocksprünge oder Handstand und turnen an einer Art Reck. Auch aggressivere Beschäftigungen wie Raufen und Haareziehen werden gezeigt – die einzige Erwachsene im Bild ist eine Frau, die einen Eimer Wasser über zwei am Boden miteinander kämpfende Jungen ausleert.
Bruegel war weitgereist, hatte sich länger in Frankreich und Italien aufgehalten und unterwegs mutmaßlich viele Eindrücke von Kinderspielen gesammelt. Auf dem 1,61 Meter breiten und 1,18 Meter hohen Gemälde, das seinen Namen erst im Jahr 1594 durch eine Inventarisierung des Kunstbesitzes von Ernst III. von Habsburg, damals Statthalter der spanischen Niederlande, erhielt, ist auch dokumentiert, welche Spielzeuge im 16. Jahrhundert schon gebräuchlich waren: Bälle, Murmeln, Schaukeln, Trommeln und Flöten beispielsweise.
Und Puppen: Im Eingang eines Gebäudes am Bildrand links unten sitzen zwei Mädchen, die mit ihren genau wie sie angezogenen Puppen spielen, auf einer Truhe daneben ist eine von Kunsthistorikern als Puppenhaus bezeichnete Szenerie aufgebaut, die ein Miniaturpüppchen sowie eine Wiege und diverse kleine Haushaltsgegenstände zeigt. Lumpen- oder Strohpuppen waren schon lange gebräuchlich, sie dienten natürlich nicht nur als Zeitvertreib, sondern sollten kleine Mädchen, wie die späteren Puppenversionen aus Porzellan, Zelluloid und Weichplastik auch, auf das Leben als umsorgende Frauen und Mütter vorbereiten.
Die weite Welt hielt Einzug im Kinderzimmer
Mit welcher Heftigkeit dann 1959 plötzlich die glamouröse Barbie, die obendrein erkennbare Brüste besaß, in diese heile Puppenwelt einschlug, kann man sich heutzutage vermutlich nur noch unzureichend vorstellen. Plötzlich hielt die weite Welt Einzug im Kinderzimmer, denn Barbie war eindeutig US-Amerikanerin. Sie flog nach Miami in den Urlaub, ging in die High School, fuhr als erstes Auto einen extrem angesagten Austin-Healey (gut, das war ein englisches Auto, aber es gehört zu den Designklassikern), fuhr mit Ken ins Autokino, speiste in Diners, landete vier Jahre vor Neil Armstrong als Astronautin auf dem Mond und erwies sich bis heute als Anhängerin des Konzepts lebenslangen Lernens.
Plötzlich hielt die weite Welt Einzug im Kinderzimmer, denn Barbie war eindeutig US-Amerikanerin. Sie flog nach Miami in den Urlaub, ging in die High School.
Und war immer wieder Mobbing und Vorurteilen ausgesetzt, die im Großen und Ganzen darin bestanden, ihr mangelnden Realismus vorzuwerfen. Konkret: Die Puppe sehe nicht aus wie die verkleinerte Version einer echten Frau. Natürlich waren ein wesentlicher Problempunkt neben viel zu schmaler Taille und zu langen Beinen Barbies Brüste, aber interessanterweise störte es die Forderer von Lebensechtheit null, dass ihre nippellosen Brüste absolut nicht realistisch aussahen und ihr überdies die Vulva mitsamt Schamlippen fehlte. Ebenso großzügig gingen sie darüber hinweg, dass auch die Abmessungen anderer Kinderpuppen nicht den tatsächlichen Größenverhältnissen entsprachen.
Immerhin, in den fünfziger und sechziger Jahren hatte es durchaus einige Versuche gegeben, solche Puppen realistischer zu machen. Es gab zum Beispiel Sprechpuppen, in denen bunte kleine Schallplatten abgespielt werden konnten. Mittels eines Aufziehmechanismus konnten von mäßig begabten Kinderstimmendarstellerinnen eingesprochene Sätzchen zu Gehör gebracht werden, die die Spielmöglichkeiten allerdings naturgemäß nur sehr begrenzt erweiterten.
Herkömmliche Puppen blieben für immer auf dem gleichen Entwicklungsstand
Außerdem gab es Babypuppen, die weinen konnten, wenn man ihren im Rücken angebrachten Tränenbehälter mit Wasser füllte; ähnlich dürften auch die nicht sehr erfolgreichen Babymodelle funktioniert haben, die ihre Windeln nässen konnten. Dazu kamen spezielle Milchfläschchen, die die Illusion weckten, die Puppe habe tatsächlich alles ausgetrunken, jedenfalls bis neugierige Kinder die Flasche auseinandernahmen und hinter ihr Geheimnis kamen.
Am Grundproblem des Spiels mit Nichtbarbies änderten alle diese Versuche jedoch kaum etwas: Die Puppen blieben, einmal angeschafft, für immer auf dem gleichen Entwicklungsstand. Sehr viel konnte man ohnehin nicht mit ihnen anfangen: Anziehen, ausziehen, umziehen, sie in einen Puppenwagen setzen oder in ein Bettchen legen. Oder ihnen auf einem speziellen Puppenservice Essen servieren, das nie angerührt wurde.
Alternativ ging natürlich auch Schule spielen, eine weitere der wenigen Berufssimulationen, die für Jungen und Mädchen gleichermaßen angeboten wurden. Im Großen und Ganzen bestand sie aus bunter Kreide, einem Zeigestock und einer Tafel, vor der Puppen, kleine Geschwister sowie – in aller Regel allerdings sehr unwillige – Haustiere platziert wurden. Mit anderen Worten: Niemand lernte in der Spielschule jemals irgendwas.
Schon in Bruegels Gemälde wird spielerisch verkauft, oberhalb der Signatur des Malers sieht man ein Mädchen, das Ziegelsteine abkratzt, um Farbstoff zu gewinnen und anschließend anzubieten. Ein paar Jahrhunderte später hatte das Spielen als Vorbereitung auf das spätere Arbeitsleben dann wirklich Fahrt aufgenommen.
Für Jungen und Mädchen gleichermaßen gab es Kaufläden mit kleinen Kassen, Waagen und Warenminiaturen und die so genannte Kinderpost, eine insgesamt eher trostlose Zusammenstellung der Dienstleistungen, die in Postämtern angeboten wurden. Kleine Postkarten, Telegrammvordrucke, Briefumschläge, bunte Briefmarken, Stempel, ein Telefon und ein Briefkasten gehörten dazu, und natürlich ein Schalter, passend zu Kurt Tucholskys Bonmot, wonach es das deutsche Schicksal sei, vor einem Schalter zu stehen, und hinter einem zu sitzen, das deutsche Ideal.
Barbie wurde lieber Feuerwehrfrau, Skifahrerin, Pilotin, Rockstar, Soldatin und Präsidentin.
Wie anders war dagegen das post office, in das Barbie 1995 eintrat: Durch und durch in verschiedenen Rosatönen gehalten, gab es dort Luftpostumschläge, einen Briefmarkenautomaten, diverse Hilfsmittel zum Verpacken von Päckchen und Paketen, schickes anderes Postzeugs und außerdem konnte mit Karte bezahlt werden. Wobei nie geklärt wurde, ob Barbie wirklich dort arbeitete, denn auf der Verpackung des Postamt-Sets ist bloß Ken hinter dem Schalter zu sehen, während Barbie wohl nur Kundin ist.
Ein weiterer deutscher Klassiker der fünfziger und sechziger Jahre für Jungen und Mädchen hat dagegen keine Entsprechung als Barbie-Set, nämlich die Schaffnersimulation. Die war von offenkundig begrenztem Spielvergnügen, da es für die Kinder, angetan mit Dienstmütze und einer Art quer über der Brust getragener Tasche, kaum etwas zu tun gab, außer Minifahrkarten aus dicker Pappe zu verkaufen, zu kontrollieren und mittels einer kleinen, ungefährlichen Zange zu lochen. Und mit Trillerpfeife und in der Hand zu tragendem Signalschild das Zeichen zur Abfahrt nicht existierender Züge zu geben, natürlich.
Barbie wurde lieber Feuerwehrfrau, Skifahrerin, Pilotin, Rockstar, Soldatin und Präsidentin, unter anderem. Was genau kleine Mädchen dazu brachte, ihre herkömmlichen Puppen wegzulegen und lieber mit Barbie zu spielen, ist nie umfassend geklärt worden. Ein Grund war sicher, dass Barbie sie zu Träumen vom späteren Leben anregte, das voller aufregender Möglichkeiten sein und mehr umfassen würde als ein Reihenhaus mit Blumenkästen voller Geranien, drei Wochen Ostsee- oder Österreich-Urlaub im Jahr, Sonntagsbraten und praktisch-solide Kleidung in deprimierenden Farben. Bei manchen von uns hat es jedenfalls geholfen.