Debatte über Gewalt in Fußballstadien

Fußball und Bambule

Es mehren sich Berichte über Gewalt beim Fußball. Ob es aber wirklich einen Anstieg gibt, ist unklar. Zudem wäre es zu einfach, das Problem ausschließlich bei den Fans zu suchen.

Die Bilder der vergangenen Wochen scheinen eine eindeutige Sprache zu sprechen. Anhänger von Union Berlin randalieren in Neapel. Fans von Eintracht Braunschweig montieren in Hannover ganze Sitzreihen ab und werfen sie Richtung Spielfeld. Bei der TSG Hoffenheim erleidet mehr als ein Dutzend Zuschauer:innen Verletzungen, nachdem Fans des Vereins einen Ka­nonenschlag in den Sitzplatzbereich geworfen hatten. Irgendetwas scheint aus dem Ruder gelaufen zu sein im deutschen Fußball.

Das ist jedoch bestenfalls die halbe Geschichte. In Bochum ging die Polizei am 11. November rabiat gegen Kölner Gästefans vor. Die Fanhilfe Köln spricht von »massiven Übergriffen der anwesenden Polizeibeamten«, die zu »teils massiven Verletzungen« geführt hätten. Stuttgarter Fans wurden am selben Tag beim Heimspiel gegen den Borussia Dortmund an einem Treffpunkt der aktiven Fanszene ohne erkennbaren Anlass eingekesselt und mit Platzverweisen belegt. Stuttgarter Ultragruppen sprechen in einem Statement von einem »massiven Bedrohungsszenario durch enorme Polizeipräsenz inklu­sive Wasserwerfern«.

Beim FC St. Pauli war es nach Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und Gästefans aus Hannover zu einer Spielunterbrechung gekommen. Hier hatte die Polizei nach eigenen Angaben »Schlimmeres verhindern« wollen, nachdem zwei kleinere Gruppen von Hannoveraner Fans im Gästeblock in Streit geraten waren. Laut Fanhilfe Hannover war die Situation jedoch längst bereinigt gewesen, als die Polizei versuchte, sich Zutritt zum Block zu verschaffen. Als diese auf Gegenwehr stieß und gleichzeitig Menschen versuchten, dem Gedränge zu entkommen und den Block über den Zaun in Richtung Spielfeld zu verlassen, kam von dort ein weiterer Trupp und begann, den Gästeblock großflächig mit Reizgas einzusprühen. Die Fanhilfe Hannover sprach tags darauf von einem »maximal unverhältnismäßigen Einsatz«, einer »Gewaltorgie« und »panischen, blutüberströmten Menschen«.

Im Amateurfußball wurden in der vergangenen Saison fast 1.000 Spiele wegen Gewalt oder Diskriminierung abgebrochen.

Fernab der Fernsehkameras wehrt sich derweil das Fanprojekt Karlsruhe gegen Vorladungen der Staatsanwaltschaft zu Zeug:innenaussagen. In den Ermittlungen handelt es sich um einen Fall vom November 2022. Ultras des Karlsruher SC hatten das 20jährige Bestehen ihrer Gruppe mit Pyrotechnik gefeiert. Durch die starke Rauchentwicklung verletzten sich der Polizei zufolge mehr als zehn Personen. Die Bundesarbeitsgemeinschaft Fanprojekte nennt das »ein trauriges Novum« und fordert ein Zeugnisverweigerungsrecht für die Soziale Arbeit. Denn wenn die Fans den Mitarbeitenden der Fanprojekte nicht mehr vertrauen können, wäre das das Ende der Sozialen Arbeit mit Fußballfans, die vielerorts aufgrund chronischer Unterfinanzierung ohnehin schon einen schweren Stand hat.

Es scheint fast so, als wollten die Strafverfolgungsbehörden knapp sieben Monate vor der in Deutschland stattfindenden Europameisterschaft im Männerfußball bereits den Ernstfall üben – im Zweifelsfall auch, indem sie den Ernstfall selbst erst hervorbringen. »Mehr Polizei sorgt nicht für mehr Sicherheit. Im Gegenteil: Mehr Polizei provoziert auch mehr Gewalt«, erklärte der Sportsoziologe Gunter Pilz der Braunschweiger Zeitung. Tatsächlich wäre es wohl zumindest in Stuttgart und Hamburg ohne Eingreifen der Polizei weitgehend ruhig geblieben.

Das heißt selbstverständlich nicht, dass der deutsche Fußball nicht auch unabhängig von der Polizei ein Gewaltproblem hätte. Fußball ist noch immer ein von hegemonialer Männlichkeit geprägter sozialer Raum. Im Amateurfußball wurden in der vergangenen Saison fast 1.000 Spiele wegen Gewalt oder Diskriminierung abgebrochen.

Es gibt jedoch schlicht keine belastbaren Zahlen, die belegen könnten, dass Fangewalt heute schlimmer wäre als in der Vergangenheit. Sicher ist, dass während der pandemiebedingten Einschränkungen die Zahl der Straf- und Gewalttaten im Fußball genauso zurückging wie die Zahl der Zu­schaue­r:in­nen. Das spiegelt sich auch in der Zahl der Einträge in der Kartei »Gewalttäter Sport« wieder, die in den vergangenen Jahren stark zurückgegangen sind.

Doch in der Datei landen nicht etwa verurteilte Gewalttäter:innen, sondern so ziemlich alle, gegen die im Umfeld eines Fußballspiels ein Ermittlungsverfahren eingeleitet wird. Diese Praxis, die das Gefahrenpotential systematisch überschätzt, wird seit langem kritisiert. Sogar die Bundesregierung hat eine Reform der Datei in den Koalitionsvertrag aufgenommen. Geschehen ist bislang jedoch wenig bis nichts. Das sich daran vor der EM etwas ändert, ist nahezu ausgeschlossen.

Zudem spiegeln die Zahlen der Polizei vor allem das Verhalten der Polizei wider. Das gilt nicht nur für die Zahl der Ermittlungsverfahren, sondern auch für die der verletzten Beamt:innen, von denen oft ein Gutteil nicht von etwaigen Gewalttäter:innen, sondern vom Reizgas der eigenen Kolleg:innen verletzt worden ist.

Als DFB und DFL vor rund fünf Jahren den Fans Bereitschaft zum Dialog signalisierten und sogar über das Reizthema Pyrotechnik gesprochen werden sollte, wurde es in den Kurven und um die Stadien herum deutlich ruhiger. Der Dialog scheiterte jedoch.

Dass die Zahl der Gewalttätigkeiten seit Ende der pandemiebedingten Einschränkungen zugenommen hat, steht allerdings außer Frage. Gut möglich, dass es hier ähnlich wie in anderen Bereichen einen gewissen Nachholeffekt gibt. Vor allem aber ist es in Zeiten von Handykameras und ­flächendeckender Kameraüberwachung in Stadien viel wahrscheinlicher, dass es von etwaigen Vorfällen bewegte Bilder gibt, die dann über soziale Medien rasend schnell Verbreitung finden.

Auch der Deutsche Fußball-Bund und die Deutsche Fußball-Liga spielen eine wichtige Rolle. Als sie vor rund fünf Jahren den Fans Bereitschaft zum Dialog signalisierten und sogar über das Reizthema Pyrotechnik gesprochen werden sollte, wurde es in den Kurven und um die Stadien herum deutlich ruhiger. Der Dialog scheiterte jedoch. Die Fanszene warf den Dachorgani­sationen des deutschen Fußballs vor, nicht auf die Interessen der Fans ein­zugehen. Eher erlebnisorientierte Fans – wie es in der Szenesprache heißt – ­sehen seitdem keinen Grund mehr, sich zurückzuhalten.

Selbst wenn man sich nichts zuschulden kommen lässt und einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort ist, kann man Reizgas oder Faustschläge ins Gesicht bekommen, und die uni­formierten Täter:innen werden mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht dafür zur Rechenschaft gezogen werden. Viele Fußballfans wissen das aus eigener Erfahrung – und zwar nicht erst seit den jüngsten Vorfällen in Bochum, Stuttgart und St. Pauli.