Teile der feministischen Bewegung interessieren sich nicht für israelische Opfer

Feminismus auf Abwegen

Das Massaker am 7. Oktober ist zur Zerreißprobe für feministische Bewegungen geworden. Einige feministische Gruppen in Deutschland bewerten die antisemitischen Grausamkeiten der Hamas als Akte legitimen Widerstands.

Stetig erscheinen neue Berichte über die sexualisierte Gewalt der Hamas an israelischen Zivilist:innen. Jüngst wurde bekannt, dass mindestens zehn der Geiseln, die von der Hamas freigelassen wurden, sexuell missbraucht worden waren. Das teilte Associated Press am 6. Dezember unter Berufung auf einen Arzt mit, der einige der 110 aus der Gefangenschaft freigelassenen Geiseln behandelte. Einige der Freigelassenen haben selbst über den sexuellen Missbrauch während der Geiselhaft berichtet.

Die Berliner Gruppe Alliance of Internationalist Feminists (AIF) scheint darin nichts als Propaganda zu sehen. Nur einen Tag später veröffentlichte sie auf Instagram eine Stellungnahme, in der sie die Berichte über sexualisierte Übergriffe auf weibliche israelische Geiseln im Gaza-Streifen als »von der israelischen Besatzungspropaganda« verbreitete »Behauptungen« diffamierte. Sie dienten »offensichtlich« dazu, »die von der israelischen Besatzungsmaschinerie begangenen Massaker zu verschleiern«, weswegen der »legitime Widerstand« des »palästinensischen Volkes« verzerrt dargestellt würde. Damit nicht genug: »Alle früheren falschen Behauptungen, wie die Tötung von Kindern und die Verbrennung von Zivilisten«, seien später von »den Einrichtungen, die sie aufgestellt haben«, zurückgenommen worden.

Die israelische Rechtswissenschaftlerin und Frauenrechtlerin Ruth Halperin-Kaddari war zwölf Jahre lang im UN-Ausschuss zur Beseitigung aller Formen der Diskriminierung von Frauen tätig. Der israelischen Zeitung Haaretz sagte sie bereits Mitte November, sie habe sofort gewusst, dass sexualisierte Gewalt Teil der Gräueltaten vom 7. Oktober war. »Aber offensichtlich konnte ich das Ausmaß der Grausamkeiten der Hamas nicht kennen.«

Das antisemitische Massaker am 7. Oktober scheint der Berliner Gruppe Alliance of Internationalist Feminists als Teil des Kampfs gegen den »zionistischen Siedlerkolonialismus« zu gelten – und damit offenbar als legitimer Widerstand.

In einem Interview mit der BBC Ende November sagte sie, sie habe an mehreren Orten entstandene Aufnahmen von Frauen gesehen, deren Zustand »keinen Zweifel« daran gelassen habe, dass sie vergewaltigt worden waren. Zudem kenne sie eine Reihe von Augenzeugenaussagen. In einem berichtete ein Überlebender, der sich beim Angriff auf das Psytrance-Festival am 7. Oktober in einem Gebüsch versteckt hatte, wie eine Frau neben ihm von mehreren Männern vergewaltigt wurde. Die Aussagen Halperin-Kaddaris resultieren aus der Sichtung von Videomaterial, der Untersuchung von Opfern durch Ärzt:in­nen und Zeugenaussagen – Beweise, die die AIF als »reine Propaganda« diffamiert.

Ausgerechnet in ihrem Aufruf zur Demonstration am 25. November, dem ­Internationalen Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen, forderte die AIF Solidarität mit dem »palästinensischen Widerstand gegen Vertreibung, Landraub und ethnische Säuberung«. Gleichzeitig verurteilte die Gruppe in ihrem Aufruf »weißen Feminismus« als Komplizen im System der Unterdrückung – die einzige Bezugnahme auf Feminismus im gesamten Aufruf. Das antisemitische Massaker am 7. Oktober scheint der Gruppe als Teil des Kampfs gegen den »zionistischen Siedlerkolonialismus« zu gelten – und damit offenbar als legitimer Widerstand. Das kommt auch in der in dem Aufruf beschworenen Losung »Free Palestine ist ein ­Versprechen für uns alle« zum Ausdruck. Ihr feministisches Anliegen ist nicht etwa die Möglichkeit aller Frauen, in Würde und ohne Gewalt zu leben, sondern die Befreiung Palästinas von dem angeblichen Kolonialstaat Israel.

Die Berliner Frauenorganisation Zora scheint die Gräueltaten der Hamas zumindest noch zur Kenntnis zu nehmen. Am 7. Oktober ging als eines der ersten Videos vom Hamas-Überfall das der Verschleppung der 19jährigen Naama Levy um die Welt. Auf dem Video ist unter anderem ein Blutfleck zwischen ihren Beinen zu sehen, der eindeutig darauf hinweist, dass sie Opfer schwerer sexualisierter Gewalt geworden ist. Die Gruppierung meldete sich wenige Tage später zu Wort und leugnete zwar nicht, dass die Hamas auf »patriarchal-geprägte Kriegspraktiken« zurückgegriffen habe. Doch verliere der »Angriff auf die Besatzungsmacht dadurch nicht an Legitimität«. Des Weiteren wies Zora darauf hin, dass auch Soldaten der Israelischen Verteidigungskräfte (IDF) und Siedler gezielt sexualisierte Gewalt gegen palästinensische Frauen einsetzen würden – Belege dafür lieferte Zora nicht.

Auch auf Trauer und Solidarität mit den israelischen Frauen verzichtet Zora. Vielmehr hängte die Gruppe in Berlin-Neukölln Plakate auf, die zeigen, was sie unter feministischen Kämpfen versteht. Diese Plakate porträtieren Frauen, die der Gruppe als Vorbilder »für junge Frauen weltweit« gelten. Eine davon ist Shadia Abu Ghazaleh, eine der ersten Frauen, die sich der terroristischen Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP) anschloss. Sie starb 1968, als eine Bombe, die sie vorbereitete, in ihren Händen explodierte. Ein weiteres Plakat zeigt Ahed Tamimi, eine Ikone des »palästinensischen Widerstands«. Zuletzt wurde die heute 22jährige wegen einer Instagram-Story verhaftet, in der sie israelischen Medienberichten zufolge zum Mord an israelischen Sied­ler:innen aufgerufen hatte. Ihre Mutter bestritt die Anschuldigung, es handle sich um einen Fake-Account, nicht um den ihrer Tochter.

Lange Zeit schwieg eine Vielzahl feministischer Gruppen, Organisationen, Politiker:innen und Aktivist:innen in Deutschland zur brachialen Gewalt der Hamas.

Lange Zeit schwieg eine Vielzahl feministischer Gruppen, Organisationen, Politiker:innen und Aktivist:innen in Deutschland zur brachialen Gewalt der Hamas – obwohl schon bald nach dem Terrorangriff zahlreiche Zeug:innen von Misshandlungen und Gruppenvergewaltigungen berichteten, forensische Untersuchungen das Ausmaß dieser Angriffe auf Mädchen und Frauen verdeutlichten und die Terroristen ihre Taten sogar selbst gefilmt und zugänglich gemacht hatten.

Diese ausbleibende Solidarität wird in Israel registriert. Das Schweigen feministischer Organisationen und Akti­vist:in­nen thematisierte Ende November die Gruppe »Slutwalk Jerusalem« in einem offenen Brief auf Instagram, in dem sie sich an feministische Mitstrei­ter:innen weltweit richtete. Seit mehr als zehn Jahren organisiert die Gruppe Demonstrationen für die Rechte von Frauen und Queers und gegen patriarchale Gewalt. In ihrem Brief betont sie den Universalismus ihrer politischen Praxis: Von Beginn an hätten sie sich für alle eingesetzt, die Opfer patriarchaler Gewalt werden – unabhängig von Alter oder Religion. »Seit jeher war es unser Ziel, jeder Frau und jedem Opfer von sexualisierter Gewalt auch unabhängig vom Geschlecht Raum zu geben.«

Nach dem Horror des 7. Oktober nehmen die Feminist:innen der Jerusalemer Gruppe allerdings nur wenig internationale Solidarität wahr. Dem ist es wohl geschuldet, dass die Forderung, die sie an ihre feministischen Mitstrei­ter:innen weltweit richten, sehr grundlegend ausfällt. In dem Brief rufen sie diese auf, sexualisierte Gewalt als Kriegsverbrechen zu verurteilen. Denn noch nicht einmal diesem Minimalkonsens, der selbst im Internationalen Recht in dieser Form formuliert ist, scheinen sich weite Teile der Szene anzuschließen, wenn es um Verbrechen an Jüdinnen und israelischen Frauen geht.

Auch Ruth Halperin-Kaddari sagte in einem Podcast der israelischen Tageszeitung Haaretz, sie fühle sich von feministischen Organisationen weltweit »komplett verraten«, weil diese es versäumt hätten, die Vergewaltigungen, Entführungen und andere Gräueltaten der Hamas zu verurteilen.

Mittlerweile gibt es zumindest vereinzelt vernünftige Stellungnahmen in der feministischen Szene. So betonte das Kasseler »Bündnis für Vielstimmigkeit im Feminismus« am 25. November auf Instagram eindeutig, dass es keinen Frieden mit Bewegungen und Organisationen geben könne, die Mädchen und Frauen als minderwertig ansähen und sexualisierte Gewalt anwendeten. Ebenso eindeutig wandte sich das Bündnis gegen diejenigen politischen Gruppen, die den Terror der Hamas in Deutschland verteidigten.

Es ist eine Zerreißprobe. Derzeit zeigt sich, wer feministische Grundsätze tatsächlich als universalistisches Versprechen versteht.

Auch in Berlin regte sich Widerspruch. Am 25. November fand eine Demons­tration statt, die in erster Linie auf das Leid der israelischen Frauen aufmerksam machte. Dass diese Demonstration jedoch von israelischen Berliner:inn­en organisiert wurde, ist ein weiterer Beleg der isolierten Position, aus der heraus Jüdinnen und Israelis derzeit auf die Anerkennung der Verbrechen der Hamas dringen müssen.

Das wochenlange Schweigen und erst recht die Legitimationen und Rechtfertigungen der sexualisierten Gewalt offenbaren die Doppelmoral: Für jüdische und israelische Opfer sexualisierter Gewalt gelten andere Maßstäbe. Die Gewalt, die ihnen angetan wurde, wird relativierend in einen größeren Kontext eingeordnet, ihre Aussagen werden angezweifelt und ihr Leid wird gegen das Leiden palästinensischer Frauen in Gaza aufgerechnet.

Es ist eine Zerreißprobe. Derzeit zeigt sich, wer feministische Grundsätze tatsächlich als universalistisches Versprechen versteht. Der Satz, mit dem feministische Gruppen aus Israel auf die Wahrnehmung der sexuellen Gewalt der Hamas aufmerksam machen möchten, scheint traurigerweise für Deutschland zu stimmen: »Me too, unless you’re a Jew.«