In postsozialistischen Gesellschaften schaut man skeptisch auf das Freiheitsversprechen

Looking for Freedom

Über die Geschichte des Freiheitsbegriffs in den postrealsozialistischen Gesellschaften.

Hunderttausende Menschen feierten am 31. Dezember 1989 rund ums Brandenburger Tor in Berlin, das während des Kalten Kriegs zum Symbol der Teilung Deutschlands geworden war, Silvester. Keine zwei Monate vorher, am 9. November, war die Staatsgrenze der DDR für deren Bürger:innen geöffnet worden – der berühmte Mauerfall. Und am 1. Dezember hatte die Volkskammer, das Parlament der DDR, die führende Rolle der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) aus der Verfassung gestrichen. Vor diesem Hintergrund geriet die Silvesterparty zur Feier des Endes der DDR und zum Zeichen dafür, dass sich in der Bevölkerung eine Mehrheit für einen Beitritt der DDR zur BRD herausbildete.

Zum offiziellen Bühnenprogramm der Veranstaltung gehörte der Auftritt David Hasselhoffs, eines mittelmäßigen US-amerikanischen Schauspielers, der vor allem mit seiner Rolle als Rettungsschwimmer in der Serie »Baywatch« bekannt geworden war. Hasselhoff verdingte sich auch als Sänger und hatte 1989 einen Nummer-eins-Hit im deutschen Sprachraum mit der Interpretation eines Popsongs, den der deutsche Produzent Jack White 1978 geschrieben hatte: »Looking for Freedom«. Dieser, so behauptete der Moderator der Feier, sei zum »Lied dieses Jahres 1989« geworden sei.

Nun hatte der Text des Songs – es ging um einen reichen jungen Mann, der sich von seinem Vater eingeengt fühlte und zum Aussteiger wurde – wenig mit der Situation im gerade zusammenbrechenden Ostblock zu tun. Doch der Refrain »I’ve been looking for freedom« reichte aus, um Hasselhoff diesen Auftritt in Berlin zu verschaffen. Denn nicht nur in der DDR, sondern in sämtlichen realsozialistischen Staaten Osteuropas und in der Sowjetunion wurde »Freiheit« zur Chiffre der neuen Ära, die um 1990 anbrach.

Über Demokratie und Marktwirtschaft wurde in den zu dieser Zeit sehr politisierten Gesellschaften viel diskutiert und gestritten – in Zeitungen und auf Parteitagen, auf Versammlungen und Familientreffen, an Arbeitsplätzen und bei zufälligen Begegnungen im öffentlichen Raum. Aber als Bezeichnung für die neuen Verhältnisse etablierte sich »die Freiheit«.

Dass dem so war, dürfte unter anderem an den Protagonisten der gesellschaftlichen Veränderungen in den realsozialistischen Ländern und den Bedingungen liegen, unter denen jene das Ende der jeweiligen Parteidiktatur herbeiführten. Ende der achtziger Jahre lag die repressivste Phase der realsozialistischen Regime in der Regel mehrere Jahrzehnte zurück. Ebenso deren Gründungsphase und die deren Protagonisten prägende Erfahrung ökonomischer, politischer und militärischer Kämpfe.

Der Begriff »Freiheit« bekam einen ironischen Unterton, um schließlich von einem Teil der Bevöl­kerung im ehemaligen Real­sozialismus mit einer eher abwer­ten­den Konnotation verwendet zu werden.

Aus stark agrarisch geprägten Ländern waren Industriestaaten mit einer relativ breiten Mittelschicht geworden, deren Angehörige höhere Schulbildung oder akademische Bildung durchlaufen hatten. Gleichzeitig waren ihre Gesellschaften zu Konsumgesellschaften geworden, wenn auch auf niedrigerem Niveau als in kapitalistisch-westeuropäischen Staaten. Trotz aller Abschottung gen Westen ermöglichten die Teilnahme der realsozialistischen Staaten am Weltmarkt, an Medien, vor allem Radio und Fernsehen, und ­gelegentliche Zugeständnisse der Regierenden an die Bevölkerung – wie zum Beispiel ab 1964 die Möglichkeit für DDR-Rentnerinnen und Rentner, Verwandte im Westen zu besuchen – Kontakte, Ideentransfers und einen Vergleich der Lebensbedingungen in Ost und West.

In den achtziger Jahren gerieten die realsozialistischen Regime in eine ökonomische Krise, die den Anstieg des Konsumniveaus beendete oder gar die Lebensbedingungen verschlechterte. Unter diesen Bedingungen wurden die administrative Kontrolle ökonomischer Prozesse, die politische Überwachung und die Lenkung politischer, kultureller und wissenschaftlicher Debatten auch von Bevölkerungsschichten, die bis dahin die Regime getragen hatten, immer stärker als lähmend und erdrückend empfunden. Hinzu kamen die eingeschränkten Konsummöglichkeiten, die nicht so weit wie im Westen vorangeschrittene Pluralisierung der Lebensstile und repressive staatliche Reaktionen auf das Entstehen von Jugend- und Subkulturen.

David Hasselhoff singt Silvester 1989 an der Berliner Mauer

»Looking for Freedom«. David Hasselhoff singt Silvester 1989 an der Berliner Mauer

Bild:
picture-alliance / dpa | Wöstmann

Der Versuch, Struktur und Funktionsweise westlicher Gesellschaften zu übernehmen, erschien vor diesem Hintergrund als Weg in die Freiheit. Zuerst meist emphatisch verwendet, oft als Begründung dafür, dass nun die Dinge anders laufen würden, wurde der Begriff »Freiheit« jedoch bald zur trockenen Bezeichnung eines Zeitabschnitts, bekam einen ironischen Unterton, um schließlich von einem nicht kleinen Teil der Bevölkerung dieser Länder mit einer eher abwertenden Konnotation verwendet zu werden. Dieser Bedeutungswandel ging damit einher, dass sich nostalgische Sentiments für die vergangene realsozialistische Epoche als po­litischer Faktor etablierten.

Interessanterweise sind es zumeist in den achtziger und neunziger Jahren entstandene konservativ-antikommunistische oder später gegründete rechtspopulistische Parteien, die mit dem Versprechen der Wahrung sozialer Sicherheit und hergebrachter gesellschaftlicher Ordnung diese Gefühle bedienen und zur Gewinnung von Wählerinnen und Wählern nutzen.

Dieser Prozess ist bisher, zumal im Westen, wenig verstanden worden. Einen der interessantesten Beiträge zur Analyse dieser Entwicklung stellen die 2021 auf Englisch und 2022 auf Deutsch erschienenen autobiographischen Erinnerungen »Frei – Erwachsenwerden am Ende der Geschichte« der aus Albanien stammenden Londoner Politologieprofessorin Lea Ypi dar. Sie beschreibt darin ihre Kindheit im Albanien der achtziger Jahre, in der sie den Tod des langjährigen Diktators Enver Hoxha im Kindergarten erlebt, und ihre Jugend, die irgendwann zwischen den Studentendemonstrationen 1990 und dem Ende der Herrschaft der Partei der Arbeit Albaniens 1992 beginnt und von den Umbrüchen der neunziger Jahre geprägt ist.

Obwohl Albanien bis zum Schluss ­eines der repressivsten realsozialistischen Regime war, erinnert sich Ypi an ihre Kindheit als eine Zeit voller Freiheiten. Das liegt nicht nur daran, dass ihre Eltern die Repressionsgeschichte ihrer Familie vor ihr verheimlichen – so wird von Angehörigen und Bekannten in Straflagern und Gefängnissen gesagt, diese studierten an einem entfernten Ort. Die Repression ist eine Drohung, die Familien, Freundeskreisen und Nachbarschaften feindlich gegenübersteht, aber in gewisser Hinsicht von außen kommt.

Die Entwicklungen in den postsozialistischen Gesellschaften lassen sich nicht verstehen, ohne sich mit der Repression der stalinistischen Vergangenheit sowie mit den Verheerungen der Zeit nach 1990 zu befassen und die spezifische Qualität dieser Verhältnisse zu untersuchen.

Mit dem Ende des realsozialistischen Regimes ändert sich das. Zwar kommt Ypis Familie, auch aufgrund des Umstands, dass sie vor dem Zweiten Weltkrieg zur Oberschicht des feudalen Albanien gehörte, schnell wieder auf die Füße.

Ihre Mutter wird Politikerin der konservativen Demokratischen Partei, ihr Vater Direktor des größten Hafens des Landes in Durrës. Als solcher muss er, Anhänger eines diffusen humanistischen Sozialismus, jedoch überflüssig gewordene Hafenarbeiter, zumeist Roma, entlassen.

Doch es bleibt nicht dabei, die neuen Zwänge fressen sich in die privatesten Beziehungen. Ypis beste Freundin geht mit ihrem Freund nach Italien und wird dort von ihm prostituiert. Als die Kämpfe um die Konkursmasse des sozialistischen Albanien und neue Möglichkeiten, reich zu werden, nach dem Zusammenbruch betrügerischer Finanzsysteme 1997 in einem Bürgerkrieg ­eskalieren, flieht Ypis Mutter mit ihrem Bruder nach Italien und lässt Vater und Tochter zurück. Die Ehe der Eltern geht in die Brüche.

Bei Ypi erscheinen die Zwänge und die Gewalt, die sich aus der Notwendigkeit ergeben, sich in der allgemeinen kapitalistischen Konkurrenz zu behaupten, für Individuen und Gesellschaft zerstörerischer als die Drohung mit dem Sicherheitsapparat des spätstalinistischen Albanien. Die Entwicklungen in den postsozialistischen Gesellschaften lassen sich nicht verstehen, ohne sich mit der Repression der stalinistischen Vergangenheit sowie mit den Verheerungen der Zeit nach 1990 zu befassen und die spezifische Qualität dieser Verhältnisse, ihre historische und alltägliche Genese und ihre Auswirkungen auf einzelne Menschen und auf soziale Beziehungen zu untersuchen. Am Ende ihres Buchs beschreibt Ypi, wie ihre linken Kommiliton:innen in Italien, wohin sie zum Studieren gegangen ist, sich für diese Aufgabe nicht einmal interessieren. Damit ist angedeutet, was den linken Blick auf die postsozialistischen Gesellschaften, auch hierzulande, noch immer trübt.