Die Kunstschau in der nigerianischen Metropole

Biennale im Chaos von Lagos

Kaum eine Metropole hat einen so schlechten Ruf wie die nigerianische Megastadt Lagos. Ungebändigter Verkehr, bittere Armut und Kriminalität befeuern das Klischee vom städtischen Moloch. Im Februar fand hier die vierte Ausgabe der Lagos Biennale unter dem Titel »Refuge« statt. Wie bei den etablierten Biennalen ging es um zeitgenössische Kunst – und doch war hier alles ein wenig anders.
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Es sind die letzten Tage des Harmattan. Der Harmattan ist ein Wind, der jedes Frühjahr trockene Luft, Sand und Staub aus der Sahara an die afrikanische Westküste bläst. Obwohl die Wetter-App wolkenlosen Himmel anzeigt, schimmert die Sonne nur als diffuses Licht hinter der milchgelben Dunstglocke, unter der Lagos, die größte Stadt Nigerias, und seine Bewohner zu dieser Jahreszeit ausharren. Die Luftfeuchtigkeit liegt bei 85 Prozent, das Thermometer klettert auf 36 Grad Celsius.

Nur der Naira – die nigerianische Landeswährung – befindet sich im Sturzflug. Weil die Preise für Lebensmittel inflationsbedingt schnell steigen, verzichten viele Geschäfte kurzerhand auf Preisschilder. Einfach gleich an der Kasse fragen, bitte! Kein Bankautomat spuckt mehr als umgerechnet sieben Euro aus. Dollarscheine sind begehrt wie Goldbarren. Dass auch jene immer mehr um ihre Existenz bangen, die einer überdurchschnittlich gut entlohnten Arbeit nachgehen, ist überall spürbar. Das Abwasser staut sich in offenen Kanalschächten am Straßenrand, und ohne Generator sitzt man abends im Dunkeln.

Das Publikum, das sich hier Anfang Februar zur Eröffnung einfand, würde am Rosenthaler Platz in Berlin-Mitte nicht groß auffallen: jung, divers, gutaussehend.

»Nenn es nicht Lagos Biennale! ­Benutze nicht das Wort Lagos und auch nicht das Wort Biennale. Beides schwierig.« Als Folakunle Oshun, Gründer und neben Kathryn Weir Direktor der Lagos Biennale, erstmals überlegte, eine internationale Plattform für zeitgenössische Kunst in seiner Heimatstadt zu etablieren, meldet selbst seine größte Unterstützerin, die 2019 verstorbene nigerianische Kuratorin Bisi Silva, Bedenken an. Lagos und Biennale – das wolle einfach nicht zusammengehen. Hier eine planlos wuchernde Agglomeration, die regelmäßig als Archetyp urbanen Scheiterns herhalten muss, dort die champagnergetränkte Glorie staatlich subventionierter Kunstweltmeisterschaften wie im Arsenale von Venedig.

2017 feierte die Lagos Biennale dennoch Premiere. »Eine Biennale ist nur ein Format, eine Plattform, ein Raster«, erläuterte Oshun einmal. Es sei zwar nicht der nächstliegende Schritt, solch ein Format in einer Stadt wie Lagos zu erproben, aber gerade darin, vermeintlich Widersprüchliches zusammenzubringen, sehe man Chancen. Der größte Erfolg der Lagos Biennale sei ohnehin, dass sie überhaupt stattfindet.

Der Tafawa Balewa Square

Der Tafawa Balewa Square auf Lagos Island ist so etwas wie der Kristallisationspunkt der Geschichte des modernen Nigeria. Vor Ewigkeiten soll hier ein Schrein gestanden haben. Als Großbritannien Mitte des 19. Jahrhunderts auf der noch spärlich bewohnten Insel einen Marinestützpunkt errichtete und in den folgenden Jahrzehnten expandierte, süffelten Kolonialbeamte hier Palmwein zu Pferderennen und Cricket-Partien.

1960 verkündete der Namensgeber Abubakar Tafawa Balewa als erster Premierminister die Unabhängigkeit von Großbritannien, die auf dem Platz gefeiert wurde. Und 17 Jahre später fand das von Tausenden Menschen besuchte Second World Black and African Festival Arts and Culture (kurz: Festac ’77) auf dem inzwischen zum militärischen Paradeplatz ausgebauten Areal statt – die bis zu dem Zeitpunkt größte kulturelle Veranstaltung auf dem gesamten afrikanischen Kontinent. Dazwischen liegen ein blutiger Bürgerkrieg, wechselnde Militärregierungen und der verhängnisvolle Schritt in die wirtschaftliche Abhängigkeit von den Ölvorkommen im Nigerdelta.

Der Tafawa Balewa Square galt als wichtiger Ort des noch jungen Nigeria. In unmittelbarer Nachbarschaft befinden sich eine Gedenkstätte für die Gefallenen der zwei Weltkriege, das Independence Building, das Nationalmuseum und die Stadthalle. Doch spätestens mit dem Umzug der Hauptstadt von Lagos nach Abuja 1991 verschwanden die modernistischen Prachtbauten der Unabhängigkeitszeit aus dem Gedächtnis.

Noch immer prägen sie das Stadtbild im Zentrum von Lagos Island, doch hat sich eine dicke Staubschicht über sie gelegt. Meist leerstehend, zeugen sie von der einst mit ihnen verbundenen Hoffnung auf politische Selbständigkeit und gesellschaftliche Modernisierung nur noch durch ihren Verfall. Auf dem Tafawa Balewa Square finden heute Automessen oder Firmenveranstaltungen statt. Manchmal dient er den in Nigeria allgegenwärtigen Pfingstkirchen als Versammlungsort für ihre Abertausenden Mitglieder.

80 Künstler aus 30 Ländern

Das Publikum, das sich hier Anfang Februar zur Eröffnung der vierten Lagos Biennale einfand, würde am Rosenthaler Platz in Berlin-Mitte nicht groß auffallen: jung, divers, gutaussehend. Mit einem Bein hier, mit dem anderen schon in der nächsten Artist Residency in London, Paris oder Los Angeles. An einem kleinen Essensstand werden vegane Tellergerichte verkauft, der kaltgebrühte Kaffee nebenan kostet vier Euro. Über 80 Künstler aus 30 Ländern hat das Kuratoren-Team gebeten, künst­lerische Positionen zum diesjährigen Leitthema »Refuge« – in etwa: Zuflucht, Schutz – zu entwickeln. In kritischer Absicht sollen die »Verheißungen, Enttäuschungen und anhaltenden Konsequenzen des nationalstaatlichen Modells mit seinen vielfältigen Formen der Governance unter der Ägide des globalen Kapitals« reflektiert werden.

Die Konflikte des 21. Jahrhunderts seien zwar meist von globalem Ausmaß, ihre konkrete Materialisierung erfolge jedoch beeinflusst von lokalen, regionalen und nationalen Spezifika. Das schon 2022 bei der Documenta 15 formulierte Diktum »einer Welt, die aus vielen Welten besteht, ohne Hierarchie oder Universalismus« scheint auch in Lagos zu fruchten. Doch anders als bei der Kasseler Kunstschau wird die Auseinandersetzung mit den Zerfallsprodukten der Moderne (hier im Kontext des afrikanischen nation building) tatsächlich gesucht – und zwar lokal, an Ort und Stelle. Die Künstler stellten vom 3. bis 10. Februar ihre Arbeiten aus.

Mit dem Schwerpunkt auf offenen Formen soll hier auch der Tendenz entgegengewirkt werden, die qualitative Bestimmung afrikanischer Gegenwartskunst an die Integration in den globalen Markt zu knüpfen. Lange genug wurde produziert, was europäische und US-amerikanische Sammler nachfragten: gut transportable Malerei und Skulpturen, die einen Hauch subsaharischer Exotik in den Galerien und Foyers der westlichen Hemisphäre verströmen sollten.

Rund gegen eckig

Der Tafawa Balewa Square, der Ort der Ausstellung, ist so groß wie fünf Fußballfelder. Eingefasst von doppelrangigen Tribünen und mit zwei wuchtigen Türmen am Kopfende bietet er der Biennale eine spektakuläre Bühne. Dutzende Installationen, Skulpturen und Architekturen verteilen sich über die brutalistische Anlage. Der Publikumsandrang fällt trotz freien Eintritts bescheiden aus, was schon ein wenig paradox anmutet: Draußen treten Millionen Menschen einander auf die Füße und drinnen herrscht gähnende Leere. Träge wandern vereinzelte Grüppchen auf dem riesigen Platz zwischen den Stationen hin und her. Die Luft ist zum Schneiden. »Also, einfach genießen kann man die Kunst hier nicht«, sagt eine Besucherin und nippt an der Wasserflasche, »man muss sich das schon richtig erarbeiten.«

Wenige Meter hinter dem Eingang versperren die überlebensgroßen Skulpturen von Bruce Onobrakpeya den Weg Richtung Platzmitte. Zusammengesetzt aus alten Karosserieteilen, Armaturenbrettern und dem Innenleben ausgeschlachteter Autos plustern sich die roboterähnlichen Gebilde vor einem auf wie mahnende Wächter.

Erst bei genauerem Hinsehen erkennt man, dass der nigerianische Künstler in ihnen diverse Dinge verbaut hat. Bunte Perlenketten, Palmwedel, tierische Skelettfragmente und geschnitzte Reliefplatten fusionieren mit dem Autoschrott zu enigmatischen Denkmälern, in denen ästhetisch zusammengebracht ist, was zunächst inkompatibel erscheint: die althergebrachte Mythologie ethnischer Subgruppen und ihre Insignien und die informelle Recycling-Ökonomie von Ladipo, dem wohl größten Umschlagplatz für Autoersatzteile auf dem afrikanischen Kontinent.

Man wolle die »utopischen Versprechungen und dystopischen Erfahrungen der Moderne« analysieren, heißt es im Begleittext. Ono­brakpeyas Skulpturen speisen sich aus der Ikonographie vormoderner Kultpraktiken und postmodernen Tagelöhnertums. Doch weder huldigen sie dem Ritus noch der aus der Not geborenen Arbeit – als Kunstwerke autonomen Rangs weisen sie vielmehr über diese Gegenüberstellung hinaus.

Über 80 Künstler aus 30 Ländern hat das Kuratoren-Team gebeten, künstlerische Positionen zum diesjährigen Leitthema »Refuge« – in etwa: Zuflucht, Schutz – zu entwickeln.

Ein paar Schritte weiter steht ein Pavillon mit dem klingenden Namen »Traces of Ecstasy«. Der kreisrunde Bau aus Holzträgern, zwischen denen Betonziegel geschichtet sind, soll die rechtwinklige Herrschaftsarchitektur des Tafawa Balewa Square gleichzeitig spiegeln und kontern. Rund gegen eckig lautet die Devise. Traditionelle afrikanische Bauweisen seien leitend für die Gestaltung gewesen, erzählt der Kurator des Pavillons, KJ Abudu. Man spiele hier mit Ideen von Transparenz und Opazität im Kontext von Schutz und Zuflucht. In der Tat dringen Luft und Licht durch die Fassadenstruktur und mildern die strenge Trennung von innen und außen. »Doch wir bieten im wahrsten Sinne des Wortes auch Schutz vor den Augen des Staats«, so Abudu, »hier gegenüber saßen zu offiziellen Anlässen stets die obersten Machthaber.«

Am seidenen Faden. »Levitate« von Iván Argotes

Am seidenen Faden. »Levitate« von Iván Argotes

Bild:
Marius Bolduan

Im Innern des Pavillons lädt ein Bildschirm mit Joystick dazu ein, spielerisch durch ein Bild-, Text-, und Videoarchiv zu navigieren, das laut Kurator Abudu »afrikanischer Kollektivität und Erfahrung« zeige. Man sehe die Digitalisierung zwar nicht als Allheilmittel, heißt es weiter dazu, besonders in Afrika aber seien die mit ihr verbundenen Möglichkeiten, Erinnerung jenseits nationalstaatlicher Narrative hinweg zu organisieren, von subversiver Bedeutung.
Um Iván Argotes Installation »Levitate« als Bestandteil der Biennale auszumachen, muss man zumindest zweimal hinschauen. Am äußersten Ende des Tafawa Balewa Square, zwischen zwei Großzelten, in denen Podiumsdiskussionen und Künstlergespräche stattfinden, steht ein mobiler Kranwagen, als wäre er bei den letzten Sanierungsarbeiten vergessen worden. Direkt daneben ein monumentaler Sockel wie jene, auf denen für gewöhnlich Statuen von Herrschern platziert sind. Der Sockel ist in der Mitte gebrochen: Das Fußteil steht zwar fest am Boden, aber das obere Bruchstück baumelt an den Tragseilen des Krans, meterhoch über der Erde.

»Levitate« erzählt jedoch nicht von der ikonoklastischen Entsorgung verhasster Despoten oder skrupelloser Kolonialherren. Das konkrete Bildnis ist hier nämlich schon lange weg. Es ist der Sockel als Fundament herrschaftlicher Repräsentation selbst, der abgetragen wird – und damit unter anderem über die Spuren des Nationalstaats im öffentlichen Raum nachdenken lässt. So ruhig und unbewegt die schwere Last des Sockelfragments da vom Kran hängt, so bedrohlich wirkt sie auf den Betrachter, wenn dieser unter ihr steht. Gerade ist die Zeit angehalten und die Seile scheinen zu halten. Der im Titel angesprochene Schwebezustand aber erinnert daran, dass dies nicht für immer so bleiben muss.

Einige der Äußerungen von Künstlern zeugen tatsächlich eher von der Verfangenheit im post­modernen Diskursgeflecht als von der versprochenen Reflexion der konkreten materiellen Bedingungen vor den Toren des Tafawa Balewa Square.

Wie andere Kunstveranstaltun­gen dient auch die Lagos Biennale dem ­Sehen und Gesehenwerden, dem Händeschütteln und Zuprosten, dem Aussprechen von Gratu­lationen, Danksagungen und Lobbekundungen zwischen allen Beteiligten. In kaum einer Branche – ja: Branche! – entscheiden Netzwerke und Beziehungen in solchem Maß über das Vorankommen oder Stagnieren einer Karriere wie in der Kunst. Es wundert kaum, dass jenseits der großen Podien auch kritische Stimmen laut werden: Zu sehr bediene man nur die eigene Blase und zu wenig Verbindung habe die Biennale zur Bevölkerung; zu groß die Distanz zwischen drinnen und draußen, zwischen Ausstellung und Stadt, konkret dann also doch: zwischen Lagos und Biennale?

Einige der kolportierten Äußerungen von Künstlern zeugen tatsächlich eher von der Verfangenheit im postmodernen Diskursgeflecht als von der versprochenen Reflexion der konkreten materiellen Bedingungen vor den Toren des Tafawa Balewa Square. Täglich Tausende Neuankömmlinge ohne Unterkunft und Perspektive, informelle Arbeits- und Wohnverhältnisse, katastrophale Verkehrsplanung und miserable Infrastruktur sind nur einige der Sorgen, mit denen die Bewohner von Lagos zu kämpfen haben. Auf der Biennale hört man davon wenig.

Postbürgerliche Vergesellschaftung

Viele haben sich schon an Lagos ­versucht. Stadtplaner, Architekten, Soziologen – sie alle haben sich die Zähne ausgebissen. Während die einen in der Stadt nur eine Chiffre für den permanenten urbanen Kollaps sehen, romantisieren andere die – ob des staatlichen Versagens – notwendige Improvisationsfähigkeit ihrer Bewohner zum erstrebenswerten Attribut postbürgerlicher Vergesellschaftung.

Offenkundig ist hingegen, dass Lagos kaum dem Anspruch einer Stadt gerecht wird, die mehr sein will als bloß der gemeinsame Raum der in ihr lebenden Menschen, welche meist in Eigenregie, von Tag zu Tag und ohne staatliche Unterstützung, ihr Auskommen besorgen. »Eine Vorstellung von ›Öffentlichkeit‹, die in anderen städtischen ­Zusammenhängen zwischen Regierungsmacht und Gesellschaft vermittelt, konnte hier nicht wachsen«, schrieb der britische Urbanist Matthew Gandy kurz nach der Jahrtausendwende, und noch heute zeugen die hohen Mauern und Zäune, mittels derer sich nicht nur die ­Reichen vom öffentlichen Raum abgrenzen, von dieser Leerstelle.

»Überall in Westafrika wurden damals Gebäude im Geiste der Unabhängigkeit gebaut, die verlassen wurden und heute leerstehen«, sagt der Biennale-Co-Direktor Folakunle Oshun. »Mit der Lagos Biennale wollen wir genau diese Orte besetzen, weil sie die richtigen Orte sind, um nach den historischen Bedingungen von Unabhängigkeit und Autonomie zu fragen und neue Formen gesellschaftlicher Assoziation zu diskutieren.«

Doch ist damit schon jene Form von Öffentlichkeit hergestellt, die der Stadt so bitterlich fehlt? Erste Schritte sind jedenfalls getan. Und würde auch eine wachsende Zahl jener erreicht, denen die Teilnahme mehr verspricht als die Aussicht auf den nächsten Karriereschritt, könnte die Lagos Biennale eine Entwicklung mit anstoßen, von der man hier lange nur träumen konnte.