DJ Vance legt auf
Die erbarmungslose Geschwindigkeit, mit der in Washington, D.C., der news cycle rotiert, ließ die Nominierung von J. D. Vance als running mate von Donald Trump im laufenden Präsidentschaftswahlkampf beinahe in den Hintergrund treten. Gerade mal zwei Tage vor der Vorstellung seines Vizepräsidentschaftskandidaten auf dem Parteitag der Republikaner hatte Trump ein Attentat bei einer Wahlkampfveranstaltung in Pennsylvania knapp überlebt. Keine Woche später kündigte US-Präsident Joe Biden seinen Rückzug als Präsidentschaftskandidat der Demokraten an und erklärte seine Unterstützung für die Kandidatur seiner Vizepräsidentin Kamala Harris.
Von steigenden Zustimmungswerten beflügelt, schwören sich die Demokraten jetzt auf den Wahlkampf ein und erklären Harris zur Kandidatin der Herzen, derweil J. D. Vance sich medial in wenigen Tagen vom Politaufsteiger zum Problemfall der Republikaner gewandelt hat.
Einen Shitstorm hat Vance' Bemerkung über »kinderlose Katzenfrauen« aus einem konservativen Podcast im Jahr 2021 hervorgerufen, in der der zwei Jahre zuvor zum Katholizismus Konvertierte behauptete, die Zukunft werde von kinderlosen Menschen kontrolliert.
Für welche Politik aber steht der 39jährige, in Middletown, Ohio, geborene und aufgewachsene Politiker? Und welche polittheoretischen Einflüsse prägen sein Denken? Schenkt man der Einordnung des den Demokraten zugeneigten Teils des Washingtoner Kommentariats Glauben, handelt es sich bei Vance um den Vertreter einer Maga-2.0-Bewegung rechter Nationalisten, eine Art jüngeren Wiedergänger Trumps, um einen Mann, der sich in die Vergangenheit zurücksehnt. Hervorgekramt werden allerlei Memes und Videoschnipsel, die seine wüsten Ansichten zu gesellschaftspolitischen Themen wie Abtreibung und Familienpolitik belegen sollen.
Einen Shitstorm hat seine Bemerkung über »kinderlose Katzenfrauen« aus einem konservativen Podcast im Jahr 2021 hervorgerufen, in der der zwei Jahre zuvor zum Katholizismus Konvertierte behauptete, die Zukunft werde von kinderlosen Menschen kontrolliert. Unter umgekehrten Vorzeichen wird aber auch im Trump-Lager gegen Vance opponiert, nachdem einige persönliche Bemerkungen – kritische über die Polizei, empathische über von Diskriminierung betroffene Schwarze – in der geleakten Korrespondenz zwischen Vance und einer befreundeten Trans-Person sein angeblich liberales Weltbild enthüllen. Es ist also noch unklar, ob das republikanische Lager Vance die Treue halten wird.
»Hillbilliy Elegy« revisited
Die Ausläufer dieses Kulturkampfs erreichen auch die deutsche Debatte. Hiesige Kommentatoren, die vom Treiben des Senators aus Ohio bisher anscheinend wenig mitbekommen haben, äußern Verwunderung und Abscheu darüber, dass aus dem Anhänger der »Never Trump«-Bewegung ein knallharter Trump-Anhänger geworden ist. Vances 2016 erschienenes Memoir »Hillbilly Elegy« wurde seinerzeit im Feuilleton als Schlüssel zum Verständnis für das Aufkommen des Trumpismus innerhalb der weißen Arbeiterschaft im Rust Belt, dem am stärksten industriell geprägten Teil der Vereinigten Staaten verstanden.
Nun musste es einer eiligen Relektüre unterzogen werden. Der Verlag Ullstein, bei dem die deutsche Übersetzung erschienen war, nahm den Titel, dessen Restauflage schnell vergriffen war, ganz aus dem Programm. Den Spiegel ließ das Berliner Verlagshaus wissen, dass das Buch bei seinem Erscheinen zwar einen wertvollen Beitrag zum Verständnis der Spaltung innerhalb der US-amerikanischen Gesellschaft geliefert habe, da sich der Autor aber nicht mehr von Trump distanziere, sondern »offiziell an dessen Seite« agiere und »eine aggressiv-demagogische, ausgrenzende Politik« vertrete, könne der Vertrag mit dem Autor nicht erneuert werden.
Eingesprungen ist nun der Yes-Verlag, der die Neuauflagen des Buchs auf den deutschen Markt werfen wird. Gehässig wird das von Vance beschriebene Milieu in deutschen Zeitungen mit Begriffen wie »Hinterwäldler«, »Rednecks« und »White Trash« belegt. Letzterer ist ein Begriff, den Vance für das Milieu, dem er selbst entstammt, nie verwendet hat, obgleich er es recht hartherzig als arbeitsscheu und faul abqualifiziert.
»Hillbilly Elegy« beschreibt die Karriere des Ich-Erzählers, der aus prekären Familienverhältnissen stammt; die Mutter war drogenabhängig, der Junge wuchs bei den Großeltern auf. Stationen seines unwahrscheinlichen Aufstiegs aus der Arbeiterklasse sind die US-Marines, ein College in Ohio, die Yale Law School und ein Venture-Capital-Unternehmen im Silicon Valley, von dem aus er es bis zum Senatssitz bringt. Das Buch besitzt den Vorzug, dass der Autor das eigene Milieu der zusehends verarmten Industriearbeiterschaft einer gründlichen Selbstkritik unterzieht, anstatt – wie so gerne in republikanischen Kreisen – die Schuld für die Misere der Menschen den demokratischen »Eliten« Washingtons zuzuschieben.
Vances ökonomisches Programm ist im Kern dem eines Bernie Sanders verwandt, mit entscheidenden Unterschieden allerdings im Hinblick auf sozialstaatliches Handeln und Migrationspolitik.
Allerdings ist J. D. Vances politisches Projekt sehr wohl das einer expliziten Elitekritik. Diese bezieht sich allerdings auf das Partei-Establishment sowohl der Demokraten als auch der Republikaner. Es ist eine Stoßrichtung, die bereits in »Hillbilly Elegy« zum Ausdruck kommt, zum Beispiel wenn der Autor von seinen Erfahrungen an der Eliteuniversität Yale berichtet, wo das entscheidende Distinktionsmerkmal nicht etwa ethnische Zugehörigkeit ist.
Vance beschreibt das multikulturelle Miteinander durchaus positiv. Die Trennlinien und Ausschlüsse verliefen vielmehr entlang sozialer Klassen. Die Klassenfrage aber klammere die US-amerikanische Politik systematisch aus. Die Demokraten, so stellt es Vance dar, bringen sie unter dem Einfluss von Identitätspolitik mit dem Fokus auf ethnische Zugehörigkeit und sexuelle Orientierung zum Verschwinden. Aus der Perspektive des Arbeitersohns und Irak-Kriegsveteranen berichtet Vance beispielsweise davon, wie begüterte Upperclass-Kids auf Soldaten herunterblickten oder sie als Mörder diffamierten.
Sein politisches Projekt wird aber bereits in dem Moment mit Trumps politischem Vorhaben – so verlogen dieses auch sein mag – deckungsgleich, wo es die Interessen der Blue-Collar-Arbeiter, ob demokratisch oder republikanisch gesinnt, unter dem Banner der »kleinen Leute« zusammenführt, die von der Selbstbedienung vermeintlich meritokratischer Eliten genug haben. Vances ökonomisches Programm ist dabei im Kern dem eines Bernie Sanders verwandt, mit entscheidenden Unterschieden allerdings im Hinblick auf sozialstaatliches Handeln und Migrationspolitik.
So offensiv Vance mit seiner Herkunft aus dem Rust Belt umgeht, so bedeckt hält er sich, wenn es um die Verbindung zu den Techmillionären des Silicon Valley geht. Elon Musk und Peter Thiel gelten als seine Mentoren, die seine Karriere erst möglich gemacht haben. Als Selfmademan, wie er sich selbst vermarktet, soll Vance auch die bislang den Demokraten zugeneigten Wählerschichten der Innovationsregion erobern.
Amerikanische Jobs für amerikanische Arbeiter
In seiner Rede beim Republikanischen Parteitag in Milwaukee anlässlich seiner Kür zum Vizekandidaten legte Vance zentrale Punkte seiner wirtschafts- und außenpolitischen Vorhaben dar. Im Zentrum der Ausführungen stand seine nationalistisch inspirierte Wirtschaftspolitik, die statt Freihandel Isolationismus und Strafzölle befürwortet. Mit diesem Bekenntnis zum Protektionismus greift er das zentrale neoliberale Paradigma sowohl der Demokraten als auch der Grand Old Party an.
»America First«, wie Vance in diesem Zusammenhang gerne Trump sekundiert, ist ein Slogan, der sich aggressiv gegen die Handelsbeziehungen mit China richtet. Die USA ließen die chinesische Mittelschicht auf dem Rücken der US-amerikanischen Arbeiter zu Wohlstand gelangen. Denn China und andere Marktteilnehmer weltweit würden die Löhne in den USA drücken, Migration in die USA verschärfe diese Dynamik, da sie dem heimischen Markt konstant billige Arbeitskräfte zuführe. Damit solle zukünftig Schluss sein.
Mit dem wirtschaftspolitischen Kurs ist der außenpolitische eng verbunden. »America First« gilt auch in der Außenpolitik und zielt ebenfalls darauf, den Konflikt mit China zu priorisieren. Die USA sollen sich Vance zufolge nur noch in Ausnahmefällen militärisch engagieren, die Ukraine sei primär das Problem der Europäer.
Die bisher erfolgreiche Strategie von Harris‘ Wahlkampfteam und progressiven Social-Media-Cheerleadern, die Vance als »weirden« konservativen Hinterwäldler hinstellen, dem man bloß das Bild der schwarzen, progressiven Einwanderertochter entgegenzuhalten brauche, könnte sich noch als Falle erweisen.
Die europäischen Verbündeten – zuvorderst Deutschland, wie Vance an anderer Stelle verlauten ließ – müssten in Zukunft einen entschieden größeren Beitrag zur Friedenssicherung leisten. Die USA sollten sich sicherheits- und geopolitisch auf den ostasiatischen Raum konzentrieren. Die Rede zeigte Einflüsse von politischen Denkern wie dem Antiliberalen Patrick Deneen, dem Hausphilosophen der Neuen Rechten in den USA, Curtis Yarvin sowie dem israelischen Theoretiker Yoram Hazony, der den Nationalstaat als erstrebenswert und tugendhaft beschreibt.
Sie zeigt auch, welche Gefahr der Kandidat Vance für die Wahlkampagne der Demokraten darstellt. Die bisher erfolgreiche Strategie von Kamala Harris‘ Wahlkampfteam und Heerscharen an progressiven Social-Media-Cheerleadern, die Vance als »weirden« konservativen Hinterwäldler hinstellen, dem man bloß das Bild der schwarzen, progressiven Einwanderertochter entgegenzuhalten brauche, um zu reüssieren, könnte sich noch als Falle erweisen, in die 2016 bereits Hillary Clinton tappte, als sie von weißen Trump-Anhängern im Rust Belt als deplorables sprach.
Clinton unterschätzte weiland die Klassenfrage, die viele in den USA umtreibt. Hierauf gilt es für die Demokraten im Jahr 2024 eine Antwort zu finden, die über identitätspolitisch inspiriertes virtue signaling hinausweist.