Die Linkspartei muss bald einen neuen Parteivorstand wählen

Pluralistisch in den Untergang

Nach Sahra Wagenknechts Abgang hat die Linkspartei nicht an Profil gewonnen. Sie versucht weiterhin, alle irgendwie als links geltenden Positionen abzudecken. Die neuen Kandidaten für den Parteivorsitz werden daran nichts ändern.

18.41 Uhr am 1. Oktober 2024: Die israelischen Streitkräfte melden den Beginn eines heftigen iranischen Raketenangriffs auf israelische Städte. Wenig später folgt die Meldung eines Terror­attentats im Tel Aviver Stadtteil Jaffa mit sechs Toten und mindestens 17 Verletzten. Nahezu gleichzeitig, um 18.55 Uhr, fordert die frühere Sea-Watch-Kapitänin Carola Rackete auf der Plattform X die Regierungen der EU und der USA auf, jegliche Waffenexporte und sonstige Unterstützung Israels zu stoppen. Offenbar ist sie überzeugt, dass der Nahe ­Osten ein wahres Kuschelparadies sein könnte, würde man Israel einfach der Möglichkeit berauben, sich gegen das islamistische Regime im Iran und die von ihm unterstützten Terrororganisationen Hamas und Hizbollah zu wehren.

Als Einzelmeinung wäre das keine größere Aufregung wert. Die sogenannten sozialen Medien werden ja nicht erst seit gestern mit allerlei kontrafaktischem Quergedenke gefüttert, und Israel ist ebenfalls nicht erst seit gestern eine beliebte Projektionsfläche für Leute, die zur Sühne der Kolonialverbrechen ihrer Ururgroßväter gerne einen Sündenbock im Hier und Jetzt hätten.

Die Partei »Die Linke« sieht sich, wie schon ihr Name suggeriert, weiterhin als eine Art Sammelbecken für alle, die sich selbst als »links« definieren, ganz gleich, was sie darunter jeweils verstehen mögen.

Doch Rackete ist keine x-beliebige ­Aktivistin, sondern seit diesem Jahr Abgeordnete im Europaparlament für die Linkspartei, die – so steht es jedenfalls im Parteiprogramm – »für das Existenzrecht Israels« eintritt. Wie geht das zusammen?

Die Antwort: gar nicht. Muss es aber wohl auch nicht. Denn die Partei »Die Linke« sieht sich, wie schon ihr Name suggeriert, weiterhin als eine Art Sammelbecken für alle, die sich selbst als »links« definieren, ganz gleich, was sie darunter jeweils verstehen mögen. Ja, am Beispiel von Rackete zeigt sich, dass man nicht mal Mitglied sein muss, um auf Listenplatz zwei für die Europawahl aufgestellt zu werden.

Desaströsen Wahlergebnisse 

Einige prominente Vertreter der Partei, die seinerzeit gegen diese Nominierung wetterten, sind inzwischen aus- und dem neugegründeten Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) beigetreten, die Bundestagsabgeordnete Sevim Dağdelen zum Beispiel oder der ehemalige Parteivorsitzende Klaus Ernst. Und auch der kürzlich verkündete Rücktritt der für Racketes Nominierung verantwortlichen Parteivorsitzenden Janine Wissler und Martin Schirdewan erfolgte nicht aufgrund inhaltlicher Differenzen in der Partei, sondern nur als Reaktion auf die desaströsen Ergebnisse bei der Europawahl und den kürzlichen Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg. Angemessen ist das durchaus, die Parteivorsitzenden tragen schließlich qua Amt die Verantwortung. Aber werden außer personellen auch inhaltliche Konsequenzen gezogen? Eher nicht.

Das lassen jedenfalls jüngste Äußerungen von Jan van Aken und Ines Schwerdtner befürchten, die beim Parteitag, der am 18. Oktober losgeht, wohl als neue Doppelspitze kandidieren werden. So sagte van Aken im Interview mit dem Freitag zwar: »Wenn Russland damit durchkommt, die Ukrai­ne einzunehmen, ist das Völkerrecht hinüber und das Recht des Stärkeren hat gewonnen. Das darf nicht sein.« Um dann aber wenig später zu erklären: »Ich bin trotzdem für den Stopp der Waffenexporte.«

Und das ist grundsätzlich gemeint, betrifft also nicht nur Waffen für die Ukraine, sondern auch Waffen für Israel. Der promovierte Biologe und ehemalige UN-Biowaffeninspekteur, der bereits von 2009 bis 2017 für die Linkspartei im Bundestag saß, anfangs als stellvertretender Vorsitzender und ab 2012 als außenpolitischer Sprecher der Fraktion, ist nämlich überzeugter Pazifist. Außerdem war er schon 2022 sicher, dass »der militärische Ausgang dieses Krieges klar vorgezeichnet« sei, und zwar so: »Russland wird die Ukraine überrollen und einnehmen, wenn das denn das russische Kriegsziel ist.« Deshalb sei »jede Waffenlieferung an die Ukraine im Moment falsch, denn sie ändert prinzipiell nichts am Kriegsausgang. Sie wird im besten Fall gar nichts bewirken und im schlechtesten Fall nur das Leiden verlängern.«

Sätze wie diese – einem Essay van Akens für die Rosa-Luxemburg-Stiftung entnommen – hat man praktisch wortgleich schon von Sahra Wagenknecht gehört. Und auch dieser Instagram-Post der früheren Jacobin-Chefredakteu­rin Ines Schwerdtner ist BSW-tauglich: »Gerade bei einer Eskalation und Tausenden Toten sowohl im Ukraine-Krieg als auch in Gaza braucht es eine Stimme, die sich gegen weitere Militarisierung und für eine Waffenruhe einsetzt.«

Linkspartei versteht simple PR-Regeln nicht

Nicht einmal die Forderung nach Auflösung der Nato, um sie durch »ein kollektives Sicherheitssystem unter Beteiligung Russlands« zu ersetzen, will das Kandidatenduo dem BSW künftig zur Alleinvertretung überlassen. Nur etwas realistischer möchten sie gerne klingen, weshalb van Aken im Interview mit der DPA einschränkte, dass dieses Ziel vermutlich in den nächsten 30 Jahren nicht realisierbar sei.

Ein neues – eigenes – Profil der Linkspartei, mit dem man gegen Wagenknechts bislang erfolgreiches Projekt bestehen könnte, verheißt das nicht. Wie schon mit den Wahlkampfplakaten mit aufgespießten Friedenstauben (»Stoppt das Töten!«) oder Schusswaffen mit verdrehtem Lauf (»In Frieden investieren, nicht in Waffen!«) macht die Linkspartei damit eher Werbung für das BSW. Denn Wählerinnen und Wähler streben bei Großthemen dieser Art meist denen zu, die statt Zweifel oder Abwägung scheinbar klare Lösungen bieten. Aus demselben Grund gelingt es den Regierungsparteien und der Union ja auch nicht, beim Thema Migration und Asyl Wähler von der AfD zurückzugewinnen. Im Gegenteil.

Aber weil derlei simple PR-Regeln offenbar nur von BSW und AfD verstanden werden, tappt auch die Linkspartei unverdrossen immer wieder in dieselbe Falle und beteiligte sich am 3. Oktober wieder einmal an einer großen »Friedensdemonstration« in Berlin, obwohl völlig klar war, mit wem man dort gemeinsam auf die Straße gehen würde – mit Hamas-Unterstützern, Rechtsextremen und den Putinisten des BSW.

Liebgewonnene Haltungen mal einem Realitätscheck zu unterziehen, um vielleicht eine Neupositionierung zu ermöglichen, scheint der Linkspartei offenbar einfach nicht möglich, auch wenn sie sich damit für immer mehr Menschen unwählbar macht.

Zwar verkündete der Bundesvorstand der Linkspartei vorab: »Wir begeben uns nicht in eine Querfront mit rechten Positionen.« Aber nur, um genau das dann eben doch zu tun und dann nachher lautstark darüber zu lamentieren. Der ehemalige Bundesgeschäftsführer Jörg Schindler auf X: »Ich schäme mich wirklich, dass meine Partei ›Die Linke‹ eine Demo unterstützt hat, bei der ein Hauptredner des Bündnisses von der Demo ausgebuht wird, weil er sagt, was gesagt werden muss: dass der Krieg in der Ukraine ein völkerrechtswidriger Angriffskrieg Russlands ist.«

Liebgewonnene Haltungen mal einem Realitätscheck zu unterziehen, um vielleicht eine Neupositionierung zu ermöglichen, scheint der Linkspartei offenbar einfach nicht möglich, auch wenn sie sich damit für immer mehr Menschen unwählbar macht. Wer in einer Situation, in der die Nato-Mitgliedschaft für Länder wie Polen, Lettland, Litauen, Estland und Finnland den einzigen halbwegs verlässlichen Schutz gegen Putins aggressiven Imperialismus darstellt, ernsthaft sagt: »Die Nato braucht kein Mensch« (van Aken), ohne wenigstens so konsequent zu sein, im selben Atemzug die von Russland ausgehende ­Gefahr zu leugnen (wie es AfD und BSW tun), ist offensichtlich nicht gewillt, als politischer Entscheidungsträger ernst genommen zu werden.

»Die Nato braucht kein Mensch« (van Aken)

Immerhin, van Aken und Schwerdtner wollen, so sie denn gewählt werden, eine seit Jahren überfällige Programmdebatte initiieren. Unklar ist allerdings, wohin die führen soll, wenn doch offensichtlich der Wunsch, die Partei mit allen Strömungen und Splittergruppen auf Gedeih und Verderb irgendwie zusammenzuhalten, so viel größer ist als der Wunsch, sich auf eine konsistente Linie im Umgang mit gegenwärtigen Problemen zu verständigen.

Denn van Aken irrt, wenn er sagt, er sei sich »ziemlich sicher, dass der Streit mit der Absplitterung des BSW vorbei ist«. Mag es daran liegen, dass Sahra Wagenknechts Kaderpartei nicht bereit ist, jeden aufzunehmen, oder daran, dass so mancher einfach seine Pfründe nicht verlieren will – der kakophonische Meinungschor aus der Linkspartei zur Lage im Nahen Osten, dem Krieg in der Ukraine sowie auch zum weiten Feld der Identitätspolitik (Ost- und Westdeutschland, Postkolonialismus, Gender-Fragen) ist mit der Gründung des BSW weder kleiner noch leiser geworden.

Der kakophonische Meinungschor aus der Linkspartei ist mit der Gründung des BSW weder kleiner noch leiser geworden.

Das sah man zum Beispiel, als Carola Rackete im September im EU-Parlament als einzige Abgeordnete der Linkspartei für eine Resolution stimmte, die mehr Waffenhilfe für die Ukraine forderte. Ingar Solty, Referent für Außenpolitik bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung, kommentierte das auf X mit den Worten: »Carola Rackete war ein Kuckucksei. Aber von Anfang hätte jeder mit Augen im Kopf sehen können, dass dieses Ei nicht von einer Friedenstaube gelegt wurde, sondern ein Falke vom Team Weltkrieg drinsteckt.«

Wenn nun van Aken und Schwerdtner künftig soziale Themen stärker in den Mittelpunkt rücken wollen, also vor allem innenpolitische Fragen, ist das zweifellos ein vernünftiger Ansatz. Zumal SPD und Grüne auf Druck ihres Koalitionspartners FDP sowie der konservativen Opposition dieses Feld inzwischen geräumt haben.

Linkspartei nicht »klar genug«

Doch ohne weiterführende Perspektive – weiß eigentlich irgendwer, was genau dieser demokratische Sozialismus sein soll, von dem da so oft die Rede ist? – dürfte auch das nicht genügen, um Wahlen zu gewinnen. Ebenso wenig wie die »revolutionäre Freundlichkeit«, die Schwerdtner im gemeinsam mit van Aken gegebenen DPA-Interview als Leitlinie vorgibt.

Das ist so skurril wie aus der in einem gemeinsamen ND-Beitrag niedergeschriebenen Erkenntnis, dass die Linkspartei »in den großen Krisen und Widersprüchen der letzten Jahre« nicht »klar genug« gewesen sei, den Schluss zu ziehen, man könne einfach so weitermachen. Also: den Ukrainern die Waffenhilfe zu verweigern und trotzdem einen Diktatfrieden von Putins Gnaden verhindern wollen. Oder: für das Existenzrecht Israels zu sein, aber weiterhin »linken« Antisemiten wie Jeremy Corbyn oder politisch frei flottierenden Aktivistinnen wie Carola Rackete ein Podium bieten, um nicht »den linken Pluralismus zu verengen« (Schwerdtner). Eine Partei, die sich so positioniert, hat keine Position. Die aber bräuchte es, um gewählt zu werden.