Insbesondere in Sachsen häufen sich Proteste gegen Flüchtlinge

Die Pogrome von morgen

In immer mehr Städten und Dörfern organisieren Rechtsextreme Proteste gegen die Unterbringung von Geflüchteten. Wie in den vergangenen Jahren ist das Problem in Sachsen am größten.

Mitte Januar in Nordsachsen. Durch den kleinen Ort Laußig bei Bad Düben ziehen knapp 280 Demonstrant:innen, »Wir wollen keine Asylantenheime!« schallt es durch die Straßen. Eine leerstehende Grundschule soll dort als Unterkunft für geflüchtete Menschen genutzt werden. Die Initiative »Laußig wehrt sich« hatte unter dem Motto »Asylflut stoppen« zu einer Demonstration dagegen aufgerufen. Der Demonstrationszug ist laut und aggressiv, bei einbrechender Dunkelheit zieht er vor das Gemeindehaus, wo sich der parteilose Bürgermeister Lothar Schneider gerade mit Landkreis­ver­tre­ter:innen berät. Er solle sich »stellen«, ruft der Mob immer wieder. Nach einer Stunde tritt Schneider, der auch für die CDU im Kreistag sitzt, an ein Fenster im ersten Stock und pflichtet per Megaphon dem Protest bei, wie von anwesenden Journalisten im Internet veröffentlichte Videos zeigen. »Da habt ihr auch völlig recht, wir wollen das alle nicht.« Es kämen immer mehr »Asyler« nach Deutschland, »es geht nicht mehr«.

Obwohl die Demonstration erkennbar von den rechtsextremen »Freien Sachsen« dominiert wurde, will der Bürgermeister dort keine Rechtsextremen gesehen haben. »Ich habe zu un­seren Laußiger Bürgerinnen und Bürgern gesprochen, die ihre berechtigten Nöte und Sorgen haben«, sagte er später der Leipziger Volkszeitung. Die veröffentlichten Videos des Protests lassen hingegen keine Zweifel. »Wir wollen nicht, dass Ausländer in unser Dorf kommen«, ruft ein Redner unter Jubel vorm Gemeindehaus.

»Das Boot ist voll«, wurde im Stil der neunziger Jahre auf einer Demonstration in Kriebethal gerufen.

Laußig ist nur einer von mehreren Orten in Sachsen, in denen derzeit Bürgerinitiativen gegen Geflüchtete mobil machen. »Wir beobachten mit großer Sorge, dass die Proteste zunehmen, vor allem weil sie eindeutig von den rechtsextremen Freien Sachsen organisiert und angeführt werden«, sagt Dave Schmidtke, der Sprecher des Sächsischen Flüchtlingsrats (SFR), der Jungle World. Er spricht von einer »gefährlichen Gemengelage« aus »Freien Sachsen«, AfD sowie dem Milieu der Pan­de­mie­leugner:innen, die in den vergangenen Jahren auf den Straßen des Freistaats demonstrierten.

Ihren Anfang nahm die jüngste Welle von Rechtsextremen organisierter Proteste bereits im Oktober. In mehreren sächsischen Städten demonstrierten Menschen gegen steigende Energiepreise und eine angebliche Kriegspolitik gegen Russland, in der Stadt Bautzen waren es etwa 1 000 Personen. Ende Oktober kam es dort zu einem Brandanschlag auf das ehemalige Spreehotel, das als zukünftige Flüchtlingsunterkunft dienen sollte, wogegen kurz zuvor die AfD eine Protestkundgebung organisiert hatte.

Auch in Chemnitz-Einsiedel wurde bereits seit Oktober, in Dresden-Sporbitz seit November wöchentlich gegen die Unterbringung von Geflüchteten demonstriert. Ebenfalls im November zogen 1 000 Demonstrant:innen durch das 400-Seelen-Dorf Naunhof bei Meißen. Zu Jahresbeginn kam es zu weiteren rechten Mobilisierungen, unter anderem in Kriebethal, wo sich der Protest gegen zwölf unbegleitete geflüchtete Minderjährige richtet, die in einem DRK-Heim untergebracht werden sollen (Jungle World 3/2023). Und seit Januar kommen jede Woche neue Orte hinzu.

Dave Schmidtke vom SFR sieht vielerorts eine Mitverantwortung lokaler Politiker:innen für das Erstarken der Proteste: »In Sachsen weicht man seit 2015 dem Druck von rechtsaußen, zeigt Verständnis für ›besorgte Bürger‹, ­anstatt den Leuten zuzuhören, die demokratische Werte vertreten und ebenfalls Angst haben, aber vor einer Zunahme an rechten Übergriffen.« Die Befürchtung, dass sich die Angriffe auf Geflüchtete mehren, ist berechtigt. Mittlerweile steht das DRK-Heim in Kriebethal unter Bewachung, für alle weiteren Flüchtlingsunterkünfte im Landkreis Mittelsachsen wurde dies ebenfalls angeordnet, wie die Freien Presse berichtet. Es wurde gedroht, das Heim mit den Kindern und Jugendlichen anzuzünden, gab der Landrat Dirk Neubauer (parteilos) Ende Januar bekannt, die Polizei ermittelt.

Die Argumentation ist überall die gleiche: Die Unterkünfte seien voll, die Kapazitäten erschöpft. »Das Boot ist voll«, wurde auf einer Demonstration in Kriebethal im Stil der neunziger Jahre gerufen. Befeuert wird solche Rhetorik beispielsweise vom sächsischen Innenminister Armin Schuster (CDU), der bereits Grenzkontrollen an der tschechischen Grenze vorschlug, um »irreguläre Zuwanderung besser steuern und minimieren« zu können, wie er Bild mitteilte. Schuster warnte schon im September davor, dass »der Flüchtlingszustrom in Kürze kaum noch zu bewältigen« sei, Bild schrieb vergangene Woche vom »Asyl-Chaos an der Grenze«.

Der SFR widerspricht dem: »Lange Zeit lag die Auslastung der Erstaufnahmeeinrichtungen bei zwei Drittel, aktuell sind es nur 50 Prozent.« Jüngste Zahlen der Landesdirektion Sachsen belegen dies. In den vergangenen Wochen sei die Anzahl der Einreisen nach Sachsen sogar deutlich gesunken, sagt Schmidtke. »Von Herbst bis Ende November hatten wir 80 bis 100 Personen pro Tag, die einen Asylantrag stellen, jetzt sind es gerade mal 40 bis 60 Leute.« Die Debatte werde von Panikmache bestimmt, außerdem sei das Pro­blem hausgemacht, betont der Sprecher des SFR: »Man könnte durch dezentrale Unterbringung der Menschen, die schon Jahre hier sind, sehr schnell Kapazitäten in Massenunterkünften freimachen. Das passiert aber nicht.«

Bisher finden die Demonstrationen in Sachsen nur in kleinen Orten oder in am Rande größerer Städte liegenden Gemeinden statt. Der SFR befürchtet aber, dass der Zulauf solcher Demonstrationen schnell wachsen und eine Dynamik entstehen könne, von der auch größere Städte betroffen wären. Schließlich habe sich die Grundstimmung in Sachsen seit 2015 nicht verändert, was man auch daran sehen könne, dass die AfD in Umfragen die stärkste Partei im Freistaat ist, sagt Schmidtke. Am Wochenende gab es bereits einen ersten Versuch in Leipzig. Die AfD hatte im Stadtteil Stötteritz zu einer öffent­lichen »Lagebesprechung« aufgerufen, um gegen die dort geplante Unterbringung von Geflüchteten zu demonstrieren. Knapp 100 Menschen standen 80 Gegen­demons­trant:innen gegenüber.

Die rassistische Mobilisierung im Freistaat dockt an die diffusen rechten Proteste der vergangenen beiden Jahre an, die sich anfangs gegen die Coronamaßnahmen und zuletzt die Energiepreise und die deutsche Beteiligung am Ukraine-Krieg richteten. Vor allem die »Freien Sachsen« haben sich hierbei als Mobilisierungsplattform und »Radikalisierungs­beschleuniger« (Bell­tower News) hervorgetan. Erst vor zwei Jahren von bekannten Rassisten und Neonazis im Erzgebirge gegründet, hat die Partei auf Telegram mittlerweile über 150 000 Abonnent:innen. Mit ihrer Unterstützung gingen zuletzt bei den sogenannten Montagsdemos im vergangenen Herbst landesweit mehrere Zehntausend Demonstrant:innen auf die Straßen.

Daran will man nun anknüpfen: Alleine diese Woche wurde auf dem Telegram-Kanal der »Freien Sachsen« zu »Montagsdemos« in fast 150 Orten gegen »Kriegsmobilisierung, Asylflut, korrupte Politeliten« aufgerufen. Zwar ist offen, an wie vielen dieser Orte am Montag tatsächlich Proteste stattfanden, doch veröffentlichte der Kanal Videos von Aufmärschen unter anderem in Chemnitz, Dresden, Kamenz, Zwickau und Freiberg. Die Partei hat mittlerweile eigene »Nein zum Heim«-Aufkleber und -Transparente produzieren lassen sowie eine Broschüre mit dem Titel »Sachsen wehrt sich. Asylflut stoppen!«.

Doch dem wird auch entgegengetreten. Sachsens Sozialministerin Petra Köpping (SPD) ging Ende Januar mit einer Pressemitteilung an die Öffentlichkeit und kritisierte darin die »mancherorts wieder aufflammende pauschale Ablehnung dieser Menschen« sowie die »oft unangemeldeten Demonstrationen, die klar erkennbar von Rechtsextremisten angeführt oder begleitet werden«. Bei den jüngsten rechten Demonstrationen in Kriebethal gab es Gegenprotest, dessen Teil­nehmer:in­nen sich schützend vor das Heim stellten.

Nicht nur in Sachsen ist eine Zunahme rassistischer Proteste zu beobachten. Im mecklenburgischen Grevesmühlen versuchte vor zwei Wochen ein wütender Mob von rund 700 Leuten, darunter bekannte Rechtsextreme, den Kreistag zu stürmen, um die Eröffnung einer Flüchtlingsunterkunft für 400 Menschen im Nachbardorf Upahl zu verhindern. Vergangene Woche gab es im niederbayrischen Marklkofen innerhalb von 24 Stunden gleich zwei Brandanschläge auf ein noch unbewohntes Zelt für Flüchtlinge aus der Ukraine. In Oberfranken finden derzeit rassistische Proteste statt, initiiert von der neonazistischen Partei »Der III. Weg«. In Zapfendorf, ebenfalls im bayerischen Regierungsbezirk Oberfranken, räumte die Polizei aufgrund von Drohungen und Pöbeleien während einer Gemeinderatssitzung das Rathaus.

Noch hat die rassistische Mobilisierung längst nicht das Ausmaß von 2015 und 2016 erreicht. Doch ist bereits eine ähnliche Dynamik zu erkennen wie zu Beginn der Protestwelle vor einigen Jahren, befeuert von rassistischer Notstandspropaganda über angeblich nicht mehr zu bewältigende Flüchtlings­zahlen, die bis weit in die bürgerliche Mitte reicht. Zudem ist das Gewaltpotential seit Jahren hoch: In den ersten drei Quartalen des vergangenen Jahres verzeichnete das Bundesinnenministerium 65 Angriffe auf Flüchtlingsheime wie Sachbeschädigung oder Schmierereien, meist mit mutmaßlich rechtsextremem Hintergrund. Täglich gab es zwei bis drei Übergriffe auf geflüchtete Menschen wie Überfälle oder Gewaltdelikte. Somit gewinnt der 2015 entstandene antirassistische Slogan »Heute die Pogrome von morgen verhindern« wieder an trauriger Aktualität.