Jonathan Spyer, Nahost-Experte, im Gespräch über die russisch-iranischen Beziehungen

»Der Iran ist Teil einer globalen antiwestlichen Allianz«

Die Jungle World sprach mit dem britisch-israelischen Autor über die Folgen der russischen Invasion in der Ukraine für den Nahen Osten.
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Wie hat das erste Jahr seit der umfassenden russischen Invasion der Ukraine die politische Situation im Nahen Osten verändert?

Der Krieg hatte tiefgreifende Auswirkungen. Am wichtigsten ist die Ver­tiefung der russisch-iranischen Beziehung, deren Natur und Kräfteverhältnis sich dabei verändert hat. Zuvor sah die Islamische Republik Iran Russland als ein Tor zum Westen und als Möglichkeit, mit der internationalen Staatengemeinschaft zu kommunizieren, aber heute ist Russland ein Pariastaat wie der Iran. Russland sah den Iran zuvor als Juniorpartner in der Region, heute ist er ein wichtiger Teil der russischen Krieg­sanstrengungen. Die umfassenden Angriffe auf ukrainische Infrastruktur waren in den vergangenen Monaten nur mit iranischen Shahed-136-Drohnen möglich, nun wird sogar in Russland selbst eine Fabrik für diese Waffen gebaut. In Syrien wurde der Iran bei der Absicherung des Assad-Regimes wich­tiger, weil Russland seine Kräfte auf die Ukraine konzentrieren musste.

Wie reagieren andere Staaten darauf?

Für Experten und Diplomaten ist es seit dem Krieg gegen die Ukraine leichter geworden, auf die Gefahr des iranischen Regimes und der Revolutionsgarden hinzuweisen. Viele Jahre erhielten wir in Europa etwa die Antwort: Ja, wir verstehen, warum der Iran für Israel oder die Golfmonarchien eine Gefahr ist, und wir verstehen, dass ihr den Iran auch als Gefahr für Europa darstellen wollt, aber im Ernst, es handelt sich doch nur um einen ambitionierten und aggressiven Staat, der anders als sunnitische Terroristen keine wirkliche Gefahr für Europa darstellt. Heute redet niemand mehr so, seit dem Ukraine-Krieg ist der Iran Teil einer globalen antiwestlichen Allianz, die eine klare Gefahr für die europäische Sicherheit darstellt.

Wie hat sich die europäische Haltung zum Iran geändert?

Seit europäische Leben in Gefahr sind, werden Debatten über die Revolutionsgarden in Großbritannien und im EU-Parlament ernsthaft geführt, und es gibt wachsende Anstrengungen, sie als Terrororganisation einzustufen, wie es die USA 2019 getan haben. Die Argumente dagegen lauten, dass man sich nicht die Chance auf Wiederaufnahme der Atomverhandlungen verbauen will und dass eine Einstufung als Terror­organisation praktisch keinen großen Unterschied machen würde. Beide Argumente sind falsch. Die Atomverhandlungen werden nicht erneut beginnen, schon alleine weil Iran nur sechs Prozentpunkte von der Urananreicherung auf 90 Prozent entfernt ist, wie gerade entdeckt wurde. Ein Verbot wäre folgenreich, da man beispielsweise das Eigentum von Terrororganisationen einziehen und ihren Mitgliedern Einreiseverbote erteilen kann. Es ist inko­härent, nur die Hizbollah zu verbieten, die Revolutionsgarden, deren Mutterorganisation, aber nicht. Ich hoffe, dass die neuen Erkenntnisse über Terroraktivitäten der Revolutionsgarden in Dänemark, Frankreich, den Niederlanden oder Groß­britannien dazu beitragen, deren dringend nötiges Verbot voranzutreiben. In Deutschland sollte der Fall Jamshid Sharmahd die Dringlichkeit der Situation zeigen. Der deutsche Bürger wurde vor drei Jahren am Flughafen in Dubai entführt und am 21. Februar zum Tode verurteilt.

Sie haben die Kriege in Syrien und in der Ukraine von Anfang an auch an Ort und Stelle beobachtet, welche Verbindungen haben Sie entdeckt?

In Ostsyrien hatten die Kräfte der russischen Söldnergruppe Wagner etwa im Kampf um die Öl- und Gasfelder in Deir ez-Zor eine entscheidende Rolle gespielt. Heute dagegen gibt es Berichte, dass Syrer als Kämpfer und Kanonenfutter für den Krieg gegen die Ukraine rekrutiert werden. Ganz frisch habe ich auch von rekrutierten Palästinensern in libanesischen Flüchtlingslagern gehört. Russische S-300-Raketen ­wurden aus Syrien an die ukrainische Grenze verlegt.

Auf welchen Ebenen kooperieren Russland und der Iran noch?

Schon seit Beginn des islamischen Regimes im Iran gibt es enge Verbindungen zu Russland, seit vielen Jahren ist Russland der wichtigste Rüstungslie­ferant für Iran, die Waffen finden über Iran auch den Weg zu verschiedenen paramilitärischen und terroristischen Organisationen in der Region. Israel war beispielsweise 2006 im Libanon-Krieg mit russischen Kornet-Panzerabwehrraketen in den Händen der Hizb­ollah konfrontiert.
Bis zum Angriff auf die Ukraine wurde der russische Einfluss auf den Iran als mäßigend eingestuft, schließlich will Russland noch immer keinen nuklear bewaffneten Iran, und in der Gegend um das Kaspische Meer sind die beiden Länder strategische Widersacher. Russland sollte den Iran im Rahmen einer internationalen Ordnung halten, die Russland nun selbst verlassen hat. In Israel dachte man lange, dass Russland dabei helfen könnte, den iranischen Einfluss in Syrien zu reduzieren, und dass gute Beziehungen zu Russland ­dafür nützlich seien. Heute glaubt das niemand mehr.
Die Annäherung zwischen dem Iran und Russland ist von globaler Bedeutung, denn erstmals seit Ende des Kalten Kriegs zeigen sich die Umrisse einer internationalen Allianz gegen die USA, die Nato und die internationale Ordnung der letzten gut dreißig Jahre.

Russland und der Iran sind inzwischen die beiden am stärksten sanktionierten Länder der Welt, doch die Sanktionen zeigen nur begrenzt Wirkung. Welche Alternative zu Sanktionen gibt es?

Wir müssen akzeptieren, dass selbst die als maximal bezeichneten Sanktionen der Trump-Regierung zu keiner noch so kleinen Änderung der iranischen Politik geführt haben, das Gleiche gilt für die Sanktionen gegen Russland. Es gibt kein Zeichen des von Biden angekündigten Zusammenbruchs der russischen Wirtschaft. Die internationale Ordnung ist nicht mehr so, dass der Westen mit der Peitsche knallen kann, und alle müssen gehorchen. China ist viel zu groß, und selbst Indien kann Ausnahmeregelungen verlangen und weiter russisches Erdöl kaufen. China hat schon jetzt großen Einfluss auf die Politik im Nahen Osten, etwa als Absicherung des Iran gegen die US-Sanktionen.
Alternativ kann man bei Ländern wie Russland und Iran, die bewaffnete Konflikte austragen, ihre Feinde militärisch unterstützen und so gewährleisten, dass sie ihre Ziele nicht erreichen.

Israel wird gerade in Deutschland oft dafür kritisiert, sich nicht klar genug gegen den russischen Angriffskrieg auszusprechen.

Daran hat sich schon einiges geändert, und es gibt dabei eine Kontinuität von der vorigen zur neuen Regierung. In seinen früheren Amtszeiten hatte Ministerpräsident Benjamin Netanyahu gute Beziehungen zu Russland gepflegt, aber nun hat er nicht daran angeknüpft. Stattdessen besuchte Außenminister Eli Cohen im Februar die Ukraine, und es gab einen mutmaßlich israelischen Anschlag auf eine Quadrocopterdrohnen-Fabrik in Isfahan, für den sich der ukrainische Außenminister in einem Tweet bedankte. Es gibt nun eine klarere israelische Position, die zwar keine Militärhilfe für die Ukraine beinhaltet, aber immerhin die Lieferung ziviler Hilfsgüter wie ein Alarmsystem gegen Luftangriffe, oder auch die Unterstützung von proukrainischen UN-Resolutionen, bei denen man sich zuvor der Stimme enthalten hatte.

Auf der ukrainischen Seite scheint es ein wachsendes Verständnis der komplizierten israelischen Situation zu geben, das etwa zum Zeitpunkt von Wolodymyr Selenskyjs erster ­Videorede vor der Knesset im März vergangenen Jahres, die auf Kritik stieß, noch nicht gegeben war.

Israel ist auch nicht hilflos, Russland kann nicht einfach beschließen, den syrischen Luftraum für Israel zu schließen. Israel verfügt über F-35-Kampfbomber, und es ist unklar, ob die russischen S-400-Luftabwehrraketen dagegen effektiv sind. Wahrscheinlich will Russland das nicht in einem sekundä­ren Konfliktgebiet testen, weil es ein großer Rückschlag wäre, wenn sich erweisen sollte, dass die russische Luftabwehr gegen die modernsten Flugzeuge nutzlos ist, schließlich will Russland diese weltweit verkaufen. Israel hat also auch ohne russische Einwilligung mehr Handlungsmöglichkeiten in Syrien, als es oft dargestellt wird.

Gibt es im Gegenzug auch eine Kooperation der Gegner des Iran?

Ja, das Abraham-Abkommen zwischen Israel und den Vereinigten Arabischen Emiraten von 2020 ist sehr bedeutend. Die Emirate haben zwar anders als ­Israel noch diplomatische Optionen, aber sie sind wegen des Iran besorgt und benötigen Unterstützung. Vor einigen Monaten gab es Berichte, dass das israelische Flugabwehrsystem Barak-2 in der Nähe von Abu Dhabi stationiert ist, es wurde also von Israel gekauft. Es gibt auch diplomatische Strukturen wie die sogenannte I2U2-Gruppe aus Israel, Indien, USA und den Vereinigten Arabischen Emiraten, oder die Middle East Air Defence Alliance (MEAD), beide initiiert im Sommer 2022. Aus den gemeinsamen Interessen bezüglich des Iran und anderer Themen bilden sich also Strukturen, aber es ist noch zu früh, um von einer starken Allianz zu sprechen.

Der russische Angriff auf die Ukraine wird oft als Fehlschlag beschrieben, aber profitiert Russland nicht davon, dass sich neue Allianzen ­bilden, vor allem mit der Aussicht, dass China Russland militärisch unterstützen und sich der russisch-iranischen Allianz anschließen könnte?

Das ist die große Frage. US-Außenminister Blinken sprach bei der Münchner Sicherheitskonferenz von entsprechenden Hinweisen. Bislang war es so, dass China mit seinen Beziehungen zu offenen militärischen Gegnern des Westens wie Russland als mäßigende Kraft betrachtet wurde. China benötigt etwa Öl aus Saudi-Arabien, hat also Interesse an Stabilität. Aber es gibt Anzeichen ­einer Verhaltensänderung, eines neuen Konzepts, bei dem China die Zukunft in einer Allianz mit den Feinden des Westens sieht. Ob es so kommt, ist aber noch unklar, und wenn, dann ist diese Entwicklung erst ganz am Anfang. Die Art, wie China weltweit seinen Einfluss ausbaut, wurde lange viel zu wohlwollend betrachtet.

Jonathan Spyer ist ein britisch-israelischer Autor und Nahost-Experte. Er ist Gründer des Middle East Center for Reporting and Analysis (MECRA). 2014 warnte er nach einer Undercover-Reise nach Syrien schon früh vor dem damals entstehenden »Islamischen Staat« (IS) (Gespräch über die Zukunft des Irak: »Isis ist ein Pseudo-Staat«, Jungle World 26/2014).