Yoda versus DZ Mafia
Paris. Ein bitterer Rekord bahnt sich an: 2023 dürfte es in Marseille so viele Morde geben wie seit 20 Jahren nicht mehr. Am 15. August starb in der südfranzösischen Mittelmeermetropole die 32. Person in diesem Jahr durch Schusswaffengebrauch, ein 27jähriger, dem direkt in den Kopf geschossen worden war. Eine weitere »Hinrichtung« im Zusammenhang mit Auseinandersetzungen zwischen Drogenbanden um Plätze zum Dealen. Es war bereits das siebte Todesopfer seit Monatsbeginn, weil sich die Auseinandersetzungen in der Sommerperiode häufen. 70 Schießereien fanden insgesamt seit Jahresbeginn statt.
Das ist keine law and order-Propaganda, sondern Realität, ja Alltag vor allem für die Bevölkerung der sozial und ökonomisch abgehängten Quartiers Nord, also der teilweise küstenfern gelegenen Stadtteile Marseilles. Und die Opfer sind immer jünger. Anfang April starben drei Jugendliche, 14, 15 und 16 Jahre alt; aber auch die Schützen sind oft sehr jung.
Nach Angaben der Präfektin, der Repräsentantin des Zentralstaats in Marseille, bei einer Pressekonferenz im April werden Auftragsmörder in der Stadt heutzutage mit durchschnittlich 18 Jahren rekrutiert. In früheren Zeiten waren sie nicht nur älter, sondern auch in gewisser Weise Spezialisten: Kam es zu Verhaftungen in ihren Reihen, herrschte danach für sechs Monate Ruhe in der Stadt. Dies ist nicht mehr der Fall. Die bezahlten Killer sind austauschbar geworden. Denn eine ganze Generation junger Männer wuchs mit einer Gewöhnung an die Gewalt heran.
In der Nacht zum Dienstag wurde ein zehnjähriges Kind im südfranzösischen Nîmes tödlich bei einem Schusswechsel getroffen. Der Konflikt ging mutmaßlich um Dealplätze im dafür bekannten Stadtteil Pissevin.
80 Prozent des Schusswaffengebrauchs gehen auf das Konto zweier krimineller Gruppen, die sich Konkurrenzkämpfe um Territorien im Drogenhandel liefern: »Yoda« und »DZ Mafia«. Letztere bezog ihren Namen vom internationalen Autokennzeichen Algeriens – auf Arabisch lautet der Landesname Djazaïr – und nahm ihn aus Prestigegründen an, um mit der sogenannten Mocro-Mafia zu wetteifern, an der vor allem marokkanischstämmige Menschen beteiligt sind. Diese kontrolliert den Kokainhandel in belgischen und niederländischen Häfen. Beide zählen Einwandererkinder zu ihren Gründern.
Nach der jüngsten Erschießung reagierte Innenminister Gérald Darmanin nicht nur mit neuen Erklärungen in der Presse und auf X (früher Twitter), sondern eilte an Ort und Stelle. Nun entsendet er eine seit 2021 bestehende Eliteeinheit der Compagnies républicaines de sécurité (CRS), einer Organisation der Police national Frankreichs, die in Vélizy-Villacoublay im Pariser Umland stationierte CRS 8, für acht Tage nach Marseille, wo sie vor allem Waffen bei Durchsuchungen ausfindig machen und beschlagnahmen soll. Die CRS 8 ist besonders gedrillt und soll innerhalb von 15 Minuten in jeden beliebigen Einsatz entsandt werden können. Vorherige Einsätze der Truppe in Rennes, am Rande einer Demonstration gegen die Rentenreform im Frühjahr mit autonomer Beteiligung, sowie bei der Zerstörung von Slums im französischen Überseebezirk Mayotte waren umstritten.
Die Eskalation in Marseille besitzt indes eine Vorgeschichte in dem, was man vor einigen Jahrzehnten noch die French connection nannte. Es handelte sich um einen internationalen Drogenschmugglerring, der seine Basis ursprünglich auf Korsika hatte.
Bereits im Dezember 2014 resümierte die Pariser Abendzeitung Le Monde anlässlich des Erscheinens von zwei Dokumentarfilmen zum Thema: In den siebziger Jahren sorgte das in Marseille produzierte Heroin, dessen Qualität als hoch galt, in den Straßen nordamerikanischer Städte »für Verheerungen. Alle sozialen Milieus sind betroffen. Tausende von Toten mit einer Überdosis werden quer durch die USA gezählt, vor allem in New York. Die US-Regierung ist machtlos, den Handel einzudämmen. (…) Der frisch gewählte Präsident Richard Nixon verspricht, gegen ihn vorzugehen. Er fordert (1969, Anm. d. Red.) vom französischen Präsidenten Charles de Gaulle eine Zerschlagung der im Raum Marseille angesiedelten Drogenlabore. Doch dieser, wie auch sein Nachfolger Georges Pompidou, reagieren nur schwach. Sie betrachten den Drogenhandel nicht als inneres Problem. ›Es ist euer Problem, nicht unseres, da Amerikaner die Drogenkonsumenten sind‹, antwortet Innenminister Raymond Marcellin.«
In Frankreich haben sich die Strukturen der Drogenökonomie seither grundlegend geändert. Aufgrund der schieren Masse haben einerseits Haschisch mit seinem Breitenkonsum – die Zahl der regelmäßigen Verbraucher in Frankreich wird auf fünf Millionen geschätzt –, andererseits aus Südamerika importiertes Kokain dem Heroin und anderen Opiumprodukten längst den Rang abgelaufen. Die ursprünglichen korsischen Netzwerke sind zerschlagen oder in anderen Geschäftsfeldern aktiv. In jüngerer Zeit sind es eher Einwandererkinder aus benachteiligten Stadtgegenden und mit Schulabbrecherkarrieren, die in der Drogenökonomie aufstiegen und in ihr Karriere machten.
Zumindest Teile der Ordnungskräfte verhielten sich dabei lange Zeit strukturell ähnlich wie ihre Pendants in den USA der siebziger oder frühen achtziger Jahre: Die illegalisierte, doch unverkennbar kapitalistischen Gesetzen gehorchende Parallelökonomie des Drogenhandels wurde als ein bis zu einem gewissen Grad stabilisierender Faktor in ghettoisierten Wohngegenden und als Gegengift zu Klassenkämpfen oder Revolten betrachtet. Im Dezember 2005 publizierte die Wochenzeitung Le Canard enchaîné eine berühmt gewordene Notiz des Inlandsgeheimdiensts DCRI, dem zufolge die Riots im Vormonat – nach dem Tod zweier Jugendlicher in der Pariser Vorstadt Clichy-sous-Bois – in hohem Ausmaß durch die lokalen Ableger der Drogenökonomie eingedämmt worden seien. Diese könnten unkontrollierte Aktionen in »ihren« Stadtteilen, die auch noch die Polizei dorthin locken würden, nicht brauchen, da das geschäftsschädigend sei.
Verblüfft war das französische Medienpublikum, als es im vorigen Monat erfuhr, wie örtliche Dealer am 14. Juli – dem französischen Nationalfeiertag – in Cavaillon, einer kleineren Stadt in Südfrankreich, ein Stadtteilfest mitsamt Rutschbahn, Vergnügungsmöglichkeiten für die Kinder, Grillständen und aufblasbarem Swimmingpool veranstaltet und finanziert hatten. Viele Einwohner hatten zunächst geglaubt, die Stadtverwaltung habe das veranlasst, was sich jedoch als falsch herausstellte.
Eine Legalisierung könnte zweifellos den Massenkonsum sogenannter weicher Drogen gewissermaßen aus dem Untergrund holen und kontrollierbarer machen. Doch dürften die zuvor entstandenen Strukturen kaum verschwinden, sondern sich auf andere Tätigkeitsfelder verlagern.
Ist eine solcher Grad sozialer Verankerung erreicht, dann dürfte es auch schwierig werden, die bestehenden Netzwerke aufzulösen. Linke und liberale Stimmen schlagen nun erneut eine Legalisierung bestimmter Drogen, vor allem jener auf Cannabisbasis, vor – zum Beispiel Carlos Bilongo, Abgeordneter von La France insoumise (Das unbeugsame Frankreich), in der vorigen Woche. Das Regierungslager lehnt hingegen wie schon in der Vergangenheit eine solche Legalisierung rundheraus ab.
Eine Legalisierung könnte zweifellos den Massenkonsum sogenannter weicher Drogen gewissermaßen aus dem Untergrund holen und kontrollierbarer machen. Doch dürften die zuvor entstandenen Strukturen kaum verschwinden, sondern sich auf andere Tätigkeitsfelder verlagern. Eine milliardenschwere Branche löst sich nicht einfach auf.
Dass jedoch die repressive Politik der Regierung mehr als nur innenpolitische Werbeeffekte zeitigt, darf getrost bezweifelt werden. Nach einer Woche soll die CRS-8-Truppe wieder abziehen. Danach dürfte es weitergehen wie zuvor. Allerdings diskutiert man im Regierungslager nun, in Marseille eine eigene Polizeieinheit ähnlich der CRS 8 zu gründen.
In der Nacht zum Dienstag wurde ein zehnjähriges Kind im südfranzösischen Nîmes tödlich bei einem Schusswechsel getroffen, auch hier ging es mutmaßlich um Dealplätze im dafür bekannten Stadtteil Pissevin. Innenminister Darmanin kündigte in einer ersten Reaktion umgehend die Entsendung der CRS 8 auch nach Nîmes an.