Antonio Gramsci und seine Überlegungen zur politischen Rolle der Landarbeiter im Süden Italiens

Blick zurück nach Süden

In den Post-Colonial Studies ist der Begriff der Subalternen beliebt. Antonio Gramsci hat ihn in seinem berühmten Aufsatz über »Einige Gesichtspunkte der Südfrage« 1926 geprägt. Ein Band mit Erst- und Neuübersetzungen versammelt die Texte des kommunistischen italienischen Theoretikers, die sich mit der politischen Rolle der Landarbeiter vor allem Süditaliens beschäftigen.

Bauern sind vom Impuls »eines chaotischen Aufruhrs« getrieben, aber nicht in der Lage, sich zu organisieren. Angst haben sie nur »vor Carabinieri und Teufel«, sind aber trotzdem den Grundbesitzern auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Denn letztlich ist ihr Kampf bloß auf die Abwehr unmittelbarer Gefahren konzentriert.

Angestimmt hat diese Rede über die Bauern Antonio Gramsci, damals noch Journalist und Sozialist, 1919 in seinem Artikel »Arbeiter und Bauern«. Darin finden sich bereits einige Motive, die die spätere theoretische und politische Position Gram­scis charakterisieren sollten.

Antonio Gramsci war 1921 Mitgründer der Kommunistischen Partei Italiens (KPI), deren Generalsekretär er 1924 wurde. 1926 wurde er trotz seiner Immunität als Abgeordneter von der faschistischen Polizei verhaftet. Er verbrachte fast den gesamten Rest seines Lebens im Gefängnis und starb im Januar 1937 nur drei Monate nach seiner Entlassung im Alter von 46 Jahren. In der Haft war es ihm unmöglich, ins politische Tagesgeschehen einzugreifen, also machte er sich Notizen »für ewig«, wie er selbst schrieb. Diese in einfache Schulhefte notierten Aufzeichnungen sind später unter dem Titel »Gefängnishefte« veröffentlicht worden und dienen bis heute als Referenzwerk für linke Theorie und Kulturwissenschaften.

Gramscis Ausgangspunkt ist die sozioökonomische Ungleichheit im damaligen Italien, das von einem industriellen Norden und einem ruralen, bäuerlichen Süden geprägt war.

Die frühen, aktivistischen Aufsätze weisen zahlreiche Gemeinsamkeiten mit den »Gefängnisheften« auf. Das zeigt sich bei der Lektüre des gerade im Argument-Verlag von Ingo Pohn-Lauggas und Alexandra Assinger herausgegebenen Bands »Südfrage und Subalterne«, der auch den eingangs zitierten Beitrag enthält.

Der Reader ist in zweit Teile gegliedert, deren erster Texte aus den Jahren 1919 bis 1926 enthält, die sich mit der Bedeutung der Südfrage für die Strategie der italienischen Arbeiterbewegung beschäftigen; der zweite Teil versammelt Auszüge aus den »Gefängnisheften«, in denen die Ausführungen zur Südfrage weiterentwickelt werden.

Gramscis Fragestellung ist immer eine doppelte: Sie zielt auf Analyse und Strategie gleichermaßen. Wie ist die vorgefundene Gesellschaft strukturiert und wie können politische Akteure und Akteurinnen, die um diese Struktur wissen, in sie intervenieren?

Kollektives Bewusstsein
Gramscis Ausgangspunkt ist die sozioökonomische Ungleichheit im damaligen Italien, das von einem industriellen Norden und einem ruralen, bäuerlichen Süden geprägt war. Während er im Norden etwa während der Turiner Rätebewegung 1920 ein organisiert kämpfendes Proletariat miterlebt hatte, bot ihm seine Kenntnis des Südens – er stammte selbst aus armen Verhältnissen auf Sardinien – ein ganz anderes Bild.

Die ausgebeuteten Bäuerinnen und Bauern im Süden des Landes waren alles andere als klassenbewusst. Ihr kollektives Bewusstsein von sich selbst war, wie ihre Geschichte insgesamt, »notwendigerweise bruchstückhaft und episodisch«, wie Gramsci in den »Gefängnisheften« schrieb. Weil sie sich in dieser Hinsicht vom Industrieproletariat unterschieden, benutzte Gramsci auch einen anderen Begriff, um sie zu beschreiben: Er nannte sie »Subalterne«. Wie in der Einleitung zum vorliegenden Band klar herausgearbeitet wird, sind die Subalternen bei Gramsci aber nicht nur eine soziologische Kategorie, der Begriff charakterisiert auch ein politisches Unterdrückungsverhältnis ebenso wie eine »kulturelle Verfasstheit«.
 

Antonio Gramsci, um 1920
Antonio Gramsci, um 1920 (gemeinfrei)


Hier setzte Gramsci sowohl analytisch als auch politisch an: In seiner Analyse der zeitgenössischen kapitalistischen Gesellschaft warnt er vor dem Entstehen eines gewaltigen »Agrarblocks«, dem es durch Einbindung der Bauernschaft gelingen könnte, »als Vermittler und Aufseher des norditalienischen Kapitalismus und der großen Banken« zu fungieren. Das schrieb Gramsci in dem gemeinsam mit Palmiro Togliatti verfassten und auf dem Parteitag der KPI 1926 vorgetragenen Strategiepapier unter dem Titel »Einige Gesichtspunkte der Südfrage«, das in einer Neuübersetzung ebenfalls in dem Band enthalten ist. Politisch sollte es also darum gehen, die Bäuerinnen und Bauern aus diesem Block herauszulösen und sie mit dem städtischen Proletariat zusammenzubringen beziehungsweise die »beiden Triebkräfte der proletarischen Revolution« zu verbinden.

Bäuerliche Massen und Intellektuelle
Interessant ist nun, welche Strategie Gramsci vorschlägt: Die bäuerlichen Massen sollen nicht einfach von der Avantgardepartei agitiert und in ihrem Kampf angeleitet werden, wie das Lenin und viele Genossen und Genossinnen seiner Zeit propagierten. Stattdessen wirbt Gramsci schon früh für ein weniger paternalistisches, ja geradezu egalitäres Vorgehen. Jede »revolutionäre Anstrengung«, schreibt er 1919, könne nur dann gelingen, »wenn sie ihre Lebensbedingungen (die der Bauern; Anm. J. K.) und die Bedürfnisse ihrer Kultur berücksichtigt«. Später, in den »Gefängnisheften«, legt er dann besonderes Augenmerk auf den Alltagsverstand der Menschen, den es zu verstehen und an dem es zugleich auch politisch anzusetzen gelte.

Eine bedeutende Rolle komme dabei den Intellektuellen zu. Sie müssten den Prozess des Wandels gestalten und neue politische Verhältnisse ermöglichen. In den Texten zur Südfrage deutet sich also schon jener Komplex von analytischen und strategischen Fragen an, auf den sich Gramsci wie kein anderer linker Intellektueller konzentriert hat: die Fragen der Hegemonie. Jede Herrschaft basiert nach Gramsci unter anderem auf der organisierten Zustimmung der Beherrschten, auf der Herstellung von Konsens. Dafür seien die Intellektuellen entscheidend, arbeiteten sie doch daran, Denkmuster zu verbreiten und ihnen Akzeptanz zu verschaffen. Soll politische Herrschaft verändert werden, müsse zunächst die kulturelle Hegemonie verändert werden.

Die spontanen Aufstände der Bäuerinnen und Bauern hatte die offizielle Geschichtsschreibung, die in der ehemaligen britischen Kolonie antikolonial-nationalstaatlich ausgerichtet war, ausgeblendet, und die Marxisten und Marxistinnen taten dasselbe.

Die Frage der Hegemonie und nach der Rolle, die »subalternen gesellschaftlichen Gruppen« in ihr spielen, lässt sich keineswegs bloß in Bezug auf die zwanziger und dreißiger Jahre stellen, in denen Gramsci seine Überlegungen anstellte. Zum Beispiel unternahm in den späten siebziger Jahren eine Gruppe Intellektueller um den kürzlich verstorbenen indischen Historiker Ranajit Guha den Versuch, den Begriff der Subalternen auf die Situation in Indien anzuwenden.

Die spontanen Aufstände der Bäuerinnen und Bauern hatte die offizielle Geschichtsschreibung, die in der ehemaligen britischen Kolonie antikolonial-nationalstaatlich ausgerichtet war, ausgeblendet, und die Marxisten und Marxistinnen taten dasselbe. Ihnen gegenüber verteidigten Guha und die von ihm mitgegründeten Subaltern Studies eine »subalterne Politik«, die horizontal und spontan statt vertikal und kontrolliert funktioniere. Zweifel an deren Existenz äußerte nicht zuletzt die postkoloniale Theoretikerin Gayatri Chakravorty Spivak, die dem Begriff der Subalternen mit ihrem vieldiskutierten Aufsatz »Can the Subaltern Speak?« (1988) einige Aufmerksamkeit verschaffte.

Mit einem Urteil darüber, ob diese Interpretationen Gramscis Begriff der Subalternen gerecht werden oder nicht, halten sich Pohn-Lauggas und Assinger eher zurück. Die Frage der Subalternen anzusprechen, erweise sich aber, so Pohn-Lauggas in der Einleitung, als »Bedingung jeg­licher politischen Praxis«.


Gramsci_Buchcover

Antonio Gramsci: Südfrage und Subalterne. Herausgegeben von Ingo Pohn-Lauggas und Alexandra Assinger. Argument-Verlag, Hamburg 2023, 300 Seiten, 22 Euro