Marxistische Schrumpfkur
Es kommt nicht allzu oft vor, dass ein marxistischer Autor die Bestsellerlisten erobert. Kohei Saito, Associate Professor für Philosophie an der Universität Tokio, ist eine bemerkenswerte Ausnahme. Sein Buch über das »Kapital im Anthropozän« erschien 2020 zunächst in Japan und ist dort mit über einer halben Millionen verkaufter Exemplare so etwas wie eine kleine Sensation. Saito geht es um die »Zusammenführung von Karl Marx und Degrowth«, die der Autor aus der Verflechtung von Kapital, Gesellschaft und Natur herleitet. Unter dem Titel »Systemsturz« ist sein Buch nun auf Deutsch erschienen und hat auch hierzulande für Aufmerksamkeit gesorgt.
Das grundsätzliche Anliegen von Saito ist schlüssig. Der menschengemachte Klimawandel bedrohe die Lebensgrundlagen, schon bald könne ein point of no return erreicht sein. Die gängigen Lösungsangebote unterzieht er einer schonungslosen Kritik. Die Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen verspottet Saito als »Opium des Volks«, die individuelle Änderung des Konsumverhaltens als modernen »Ablasshandel«. Dem Ökomodernismus, der seine Hoffnungen auf technische Innovationen setzt, wirft Saito »Realitätsflucht« vor. Die Diskussion über eine Entkoppelung von Ökonomie und Ökologie führe nicht weiter. Rechnerisch sei es zwar möglich, »in den nächsten hundert Jahren eine Emissionsrate von null zu erreichen«, nur griffen auch diese Maßnahmen zu spät, bedenke man die Kipppunkte der Ökosysteme. Von einer Politik, die in der Klimakrise eine »Businesschance« sieht, sollte man also nichts erhoffen.
»Stoffwechsel« zwischen Mensch und Natur
Dies alles kann Saito anhand von Marx’ Kapitalismuskritik plausibel darstellen. Marx’ Ökologie war bereits Thema seiner Promotion, die 2016 unter dem Titel »Natur gegen Kapital« auf Deutsch erschienen ist. Marx’ Schlüsselbegriff ist hier der »Stoffwechsel« zwischen Mensch und Natur. Dieser »Stoffwechsel«, der über die menschliche Arbeit erfolgt, ist Grundvoraussetzung menschlicher Existenz. Allerdings wird der Stoffwechsel in der kapitalistischen Gesellschaftsformation in einer sehr grundlegenden Art verändert. Das Kapital transformiert ihn in einer Weise, »die für das Ziel der Wertvermehrung optimal ist«. Das Wirtschaftswachstum zum Zweck der Profitsteigerung lenkt nun die Arbeit und das Mensch-Natur-Verhältnis. »Die Menschen werden zu gnadenlos langen Arbeitszeiten gezwungen, die Kräfte und Rohstoffe der Natur weltweit geplündert.«
Der Kapitalismus ist für Saito per Definition »eine endlose Bewegung von ununterbrochen steigendem und fallendem Wert«. Seine Kritik richtet sich deshalb auch nicht allein gegen den »Neoliberalismus«.
In seinen ökonomischen Schriften hat Marx das grundsätzliche Missverhältnis beschrieben, in welchem die Strukturen des kapitalistischen Profitstrebens mit den Zyklen der Natur stehen. Er verdeutlichte dies an Beispielen wie der Bodenerschöpfung und der übermäßigen Abholzung der Wälder. Ebenso hatte Marx dargestellt, wie das Kapital versucht, dieses Missverhältnis technisch, räumlich und zeitlich auszulagern. Saito erklärt, warum diese Entwicklungen, die nunmehr globalen und irreversiblen Charakter haben, zu einer »Gabelung in der Krise der kapitalistischen Weltordnung« führen werden.
Auf dieser Ebene argumentiert Saito konsequent. Der Kapitalismus ist für ihn per Definition »eine endlose Bewegung von ununterbrochen steigendem und fallendem Wert«. Seine Kritik richtet sich deshalb auch nicht allein gegen den »Neoliberalismus«. Auch ein »kapitalistisches Degrowth«, etwa die Vorstellung, man könne auf das Konsumniveau der siebziger Jahre zurückkehren, ist für ihn ein Widerspruch in sich, weil »Gewinnstreben, Marktexpansion, Externalisierung und Auslagerung sowie die Ausbeutung von Natur und Arbeitskraft in der Natur des Kapitalismus liegen«.
Saitos Lösung des Problems fällt allerdings weniger überzeugend aus. Plakativ ist das vorletzte Kapitel mit der Parole »Der Degrowth-Kommunismus rettet die Welt« überschrieben. Saito betont, dass er sich damit keinesfalls positiv auf die »Einparteiendiktaturen« Chinas oder der Sowjetunion bezieht. Vielmehr gehe es um »Empowerment« und die »gemeinsame Verwaltung der Produktionsmittel durch die Assoziation«.
Seine Theorie des Degrowth-Kommunismus bleibt allerdings in vielerlei Hinsicht vage. Auf fünf Säulen soll er beruhen: dem Wandel zur Gebrauchswertwirtschaft, der Verkürzung der Arbeitszeit, der Aufhebung uniformer Arbeitsteilung, der Demokratisierung des Produktionsprozesses und einer Konzentration auf systemrelevante Arbeit. Nun sind dies zweifelsohne allesamt wünschenswerte Maßnahmen. Auch soll nicht bezweifelt werden, dass derlei Schritte neue Formen von Wohlstand generieren könnten.
Begriffe wie Klasse, Geld oder Markt kommen kaum vor
Statt Verzicht zu predigen, könnte man mit ihnen egalitären Komfort einfordern, der den Energie- und Ressourcenverbrauch senken würde. Die Frage bleibt, wieso solcherlei Maßnahmen nicht ergriffen werden. Eingangs verspricht Saito, sich mit »Problemen wie Klasse, Geld oder Markt« auseinanderzusetzen, was an dieser Stelle auch ratsam wäre. Leider kommen diese Begriffe im Buch dann aber kaum vor.
Saito gelingt es zwar, selbst komplexe Sachverhalte anschaulich zu machen; das gesamte Buch kommt sehr leichtfüßig daher. Je tiefer der Autor allerdings in die Materie vordringt, desto unschärfer argumentiert er. Kommunismus bedeutet, »sich die Commons zurückzuholen«, schreibt Saito, ohne jedoch genau zu definieren, was die »Commons« eigentlich sind. Der Kommunismus sei eine Gesellschaft, in der die Erde und die Produktionsmittel »gemeinsam von den Produzenten als Common verwaltet werden«.
Ob Erde und Produktionsmittel auch gemeinsam besessen oder nur gemeinsam »verwaltet« werden, lässt er offen. Die »Besitzfrage ist nicht das grundlegende Problem«, heißt es an einer Stelle recht zweideutig. Auch dass die Commons als »dritter Weg« angepriesen werden, kann einen skeptisch stimmen. Überhaupt seien die Commons nichts Neues, sie wurden »ursprünglich von den Menschen selbst durch die Assoziation geschaffen«. Dass in solchen Formulierungen eine vorkapitalistische Vergangenheit verklärt wird, ist recht offenkundig, auch wenn Saito sich an anderen Stellen des Buches bemüht, diesen Eindruck zu entkräften.
Kommunismus bedeutet, »sich die Commons zurückzuholen«, schreibt Saito, ohne jedoch genau zu definieren, was die Commons eigentlich sind.
Das eigentlich Problematische an seinen Ausführungen zu den Commons ist der Umstand, dass Saito mit diesem Begriff die Kapitalismusanalyse aufweicht. Die Gemeingüter der Vergangenheit hätten allen im Überfluss zur Verfügung gestanden. Erst der Kapitalismus habe dann den Mangel geschaffen. In diesem Zusammenhang werden dann auch die Preise aus »Knappheit« hergeleitet. Die Arbeit als Substanz des Werts dagegen wird nicht berücksichtigt.
Wert-Begriff als Zerrbild der Marx’schen Analyse
Überhaupt taucht der Begriff Wert nur noch als Zerrbild der Marx’schen Analyse auf. Dass Saito umstandslos die Begriffe Tauschwert und Wert in eins setzt, hat der Übersetzer Gregor Wakounig dann auch in einer Fußnote vermerkt. Doch das Problem geht noch tiefer. Das eigentliche Prinzip des Kommunismus, über eine Aneignung der Produktionsmittel das gesellschaftliche Verhältnis des Werts aufzuheben, wird bei Saito überhaupt nicht berücksichtigt.
Die große Schwäche des Buches ist zudem, dass Saito Marx zum Kronzeugen seines Degrowth-Kommunismus einsetzt. Dass Marx als Denker des 19. Jahrhunderts bisweilen Formulierungen benutzte, die heute als technikverliebter Produktivismus gelten können, ist eigentlich wenig verwunderlich. Saito teilt Marx’ Werk nunmehr in drei Phasen ein: eine frühe produktivistische, eine ökosozialistische, in der unter anderem »Das Kapital« entstand, und eine späte degrowth-kommunistische Phase. Als Beleg für letztere führt Saito Marxens Briefentwürfe an die russische Revolutionärin Wera Sassulitsch sowie seine Kritik am Entwurf des Gothaer Programms an. Es bedarf dabei einiger Phantasie, in diesen Schriften Belege dafür zu sehen, dass der späte Marx »eine stationäre Wirtschaft als etwas Positives« ansah. Statt einzelne Marx-Zitate so zurechtzubiegen, dass sie für heutige politische Anliegen dienstbar sind, wäre es besser gewesen, Saito hätte sich mehr an dessen Theorie gehalten.
Dann wäre allerdings auch aufgefallen, dass es durchaus problematisch ist, sich dermaßen auf den Begriff (Post-)Wachstum festzulegen. Natürlich gibt es heute an vielen Stellen ein Zuviel an Produktion. Zwar müsste auch eine assoziierte Produktion ganze Industriezweige abwickeln (nicht nur umbauen), um die ökologische Krise zu lösen. Dennoch ist nicht irgendein abstraktes Wachstum das Problem, sondern das blinde, profitgetriebene. Das Gegenstück zu kapitalistischem Wachstum ist aber nicht eine »stationäre Wirtschaft«, sondern eine bewusste menschliche Entwicklung, in welcher die assoziierten Produzent:innen unter Berücksichtigung der Naturgesetze ihren Gemeinbesitz erhalten und pflegen.
Saitos Anliegen, die Marx’sche Theorie aus den Fängen des Produktivismus zu befreien, ist dringend geboten. Erst recht gilt dies für sein Bestreben, klarzustellen, dass kapitalistischer Überfluss nicht mit Freiheit oder Wohlstand verwechselt werden darf. Es bleibt deshalb zu hoffen, dass das Buch zumindest Diskussionen über diese zentralen Einsichten befördert.
Kohei Saito: Systemsturz. Der Sieg der Natur über den Kapitalismus. Aus dem Japanischen von Gregor Wakounig. DTV, München 2023, 320 Seiten, 25 Euro