Verdi-Mitglieder diskutieren über das Ergebnis der Tarifverhandlungen mit der Deutschen Post

Annehmen oder nicht

Die Gewerkschaft Verdi hat mit der Drohung eines unbefristeten Erzwingungsstreiks die Deutsche Post zu Zugeständnissen im Tarif­konflikt bewegt. Bis Ende März stimmen die Mitglieder über die Annahme des Verhandlungsergebnisses ab. Auch die hohe Arbeits­belastung hat die Streikbereitschaft erhöht.

»Viele Kolleginnen und Kollegen haben auf den Streikkundgebungen von ihren schweren Arbeitsalltag berichtet, von Personalmangel, mangelnder Wertschätzung, schweren Paketen und Zeitdruck«, sagt Christin Neuendorf*, Briefzustellerin und Verdi-Betriebsrätin in einem Zustellstützpunkt in Bayern, im Gespräch mit der Jungle World. Im Januar und Februar war es zu zahlreichen Warnstreiks bei der Deutschen Post gekommen. Die Beteiligung sei »enorm hoch« gewesen, sagt Christin Neuendorf: »An insgesamt drei Streikwellen haben sich knapp 100 000 Postlerinnen und Postler beteiligt, das gab es schon sehr lange nicht mehr.«

Am 12. März einigten sich die Tarifparteien in den Verhandlungen. Die 160 000 Beschäftigten sollen demnach ab dem 1. April 2024 monatlich 340 Euro mehr im Monat erhalten. Hinzu kommt eine Sonderzahlung zum Inflationsausgleich von insgesamt 3 000 Euro, gestreckt über über 15 Monate. Davon sollen 1 020 Euro schon im kommenden April gezahlt werden.

Die Einstiegsgehälter in den unteren drei Einkommensgruppen werden so um mindestens elf und bis zu 16 Prozent steigen. Die Gewerkschaft hat eine Urabstimmung der Verdi-Mitglieder in der Post über das Ergebnis eingeleitet, die bis zum 30. März läuft. Da bereits eine Zustimmung von 25,1 Prozent der Mitglieder ausreicht, ist eine Ablehnung unwahrscheinlich.

Unmut in der Belegschaft
Die Streiks waren Ausdruck des Unmuts in der Belegschaft, der seit Jahren wächst. Denn die Deutsche Post AG hat viele Stellen abgebaut, in der Folge müssen Beschäftigte wegen Personalmangels häufig Mehrarbeit erledigen. Für das bisherige Einstiegsgehalt von 2 108 Euro brutto gibt es andere Jobs, die nicht so anstrengend sind, wie Pakete bis 31,5 Kilogramm zu schleppen oder in der Verbundzustellung Briefe und Pakete gleichzeitig auszuliefern.

Zehn Prozent der Beschäftigten arbeiten mit befristetem Vertrag, und in den vergangenen Jahren ist der Anteil der Angestellten mit Teilzeitverträgen, von Leiharbeitenden und Saisonkräften stark gewachsen. Der Krankenstand ist kontinuierlich angestiegen, die Beschäftigten leiden unter Arbeitsverdichtung und verschlechterten Arbeitsbedingungen, auch die Klagen über Probleme bei der Zustellung mehrten sich.

Das Angebot der Post – eine geringe tabellarisch wirksame Lohnerhöhung und eine doppelt so lange Laufzeit des Tarifvertrages – stieß sowohl bei der Verhandlungskommission von Verdi als auch bei den Beschäftigten auf einhellige Ablehnung.

»Höchste Zeit, dass die rund 160 000 Tarifbeschäftigten bei der Deutschen Post AG eine ordentliche Tariferhöhung erhalten. Der Konzern erwartet für das Jahr 2022 ein neues Rekordergebnis von etwa 8,4 Milliarden Euro«, sagte der Verdi-Fachbereichsleiter Postdienste Hamburg, Lars-Uwe Rieck, unmittelbar vor einem großen Warnstreiktag am 19. Januar. Den Beschäftigten sei bewusst, dass die hohen Gewinne »durch ihre tägliche harte Arbeit erwirtschaftet werden«, betont Christin Neuendorf. »Deshalb ist auch das Verständnis für das Rumgejammere, es wäre kein Geld da, sehr gering.«

Verdi forderte eine Entgelterhöhung von 15 Prozent und 200 Euro für die Auszubildenden bei einer Laufzeit des Tarifvertrages von zwölf Monaten. Bei der Deutschen Post sind fast 90 Prozent der insgesamt 160 000 Tarifbeschäftigten in die drei untersten Entgeltgruppen 1 bis 3 eingruppiert, was einem Verdienst von monatlich zwischen 2 108 und 3 090 Euro brutto entspricht.

»Mein Eindruck ist, dass zum einem die Kollegen und Kolleginnen natürlich für eine kräftige Lohnerhöhung auf die Straße gegangen sind, und andererseits konnte man auf unzähligen Demos und Kundgebungen auch die Wut auf ihren Arbeitgeber deutlich spüren«, schildert Christin Neuendorf die Stimmung. »Das hat viele motiviert, so aktiv mitzumachen, ihrem Arbeitgeber mal klare Kante zu zeigen und dass es so nicht weitergeht.«

Die Deutsche Post war zunächst nicht bereit, über die gewerkschaftliche Forderung nach 15 Prozent Lohnerhöhung zu verhandeln. Stattdessen bot sie an, einer einmaligen Sonderzahlung zuzustimmen: Für 2023 sollte es eine monatliche »Inflationsausgleichsprämie« geben, die einer Lohnerhöhung von 8,7 Prozent entsprochen hätte.

Der Post-Vorstand drohte mit Stellenabbau
Der besondere Haken an dieser »Prämie« ist, dass sie nicht tabellenwirksam wäre: Bei zukünftigen prozentualen Lohnerhöhungen werden solche außertarifliche Sonderzahlungen nicht in den Basiswert eingerechnet. Die Gehälter sollten zudem statt für ein für zwei Jahre festgeschrieben werden: Erst ab dem Jahr 2024 wurden überhaupt tabellarisch wirksame Erhöhungen für die Beschäftigten mit 150 Euro brutto mehr ab Januar 2024 und einer zweiten Erhöhung ab Dezember 2024 in Höhe von 190 Euro brutto auf die jetzigen Tabellenwerte angeboten. Dieses Angebot – eine geringe tabellarisch wirksame Lohnerhöhung und eine doppelt so lange Laufzeit des Tarifvertrages – stieß sowohl bei der Verhandlungskommission von Verdi als auch bei den Beschäftigten auf einhellige Ablehnung.

Mitte Februar drohte Thomas Ogilvie, der als Personalvorstand der Deutschen Post die Verhandlungen mit der Gewerkschaft führte, den Beschäftigten mit Stellenabbau und der Auslagerung von Tätigkeiten an Subunternehmen. »Wir haben als Post für Deutschland über viele Jahrzehnte ein Betriebsmodell aufgebaut, das ausschließlich mit eigenen Kräften operiert. Wenn Verdi das jetzt alles vor dem Hintergrund kurzfristiger maximaler Lohnsteigerungen in Frage stellt, werden wir unser Betriebsmodell überdenken müssen«, sagte Ogilvie in einem Interview mit der Funke-Mediengruppe.

»Wenn wir nicht mehr ausreichend in neue Betriebsstandorte investieren können, stellt sich die Frage, ob wir diese Standorte weiter selber betreiben können und wollen, oder ob wir sie fremdvergeben.« Das bestehende Angebot der Deutschen Post sei das »Maximum dessen, was wir vertreten können«, weitere Zugeständnisse werde es nicht geben.

Die Beschäftigten ließen sich nicht einschüchtern. Unter den Verdi-Mitgliedern bei der Post fand Anfang März eine Urabstimmung über die Bereitschaft für einen unbefristeten Erzwingungsstreik statt, für den es eine Zustimmung von 86 Prozent gab. Das Management der Deutschen Post rückte daraufhin von seiner kompromisslosen Haltung ab.

Die erneuten Verhandlungen fanden unter dem Eindruck des Urabstimmungsergebnisses statt. Das hat zu ­einem neuen Angebot des Arbeitgebers geführt. »Das Volumen der Einkommenserhöhung des neuen Angebots ist 25 Prozent höher als das vorherige Angebot«, triumphierte Verdi.

»Wenn der Arbeitgeber sich bereits mit dem Zuspruch zum unbefristeten Streik zu diesem Angebot bewegen ließ, dann hätte man mit einem Streik vielleicht noch mehr raus­holen können« Eine Verdi-Betriebsrätin

Von einem »guten Ergebnis, das ohne den Druck und die hohe Streikbereitschaft unserer Mitglieder nicht hätte erreicht werden können«, sprach die stellvertretende Verdi-Vorsitzende und Verhandlungsführerin Andrea Kocsis. Der Arbeitgebervertreter Ogilvie sagte, das Unternehmen sei »im Inter­esse unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, aber auch unserer Kunden über unsere finanzielle Schmerzgrenze hinaus gegangen«. Wichtig sei, längere Streiks zu vermeiden.

Es gibt auch Enttäuschung
Nach der großen Mobilisierung und den Warnstreiks gibt es aber auch Enttäuschung. »Wie nach jedem Verhandlungsergebnis ist die Stimmungslage gemischt. Die einen finden es gut, die anderen schwach, wieder anderen ist es egal und viele meckern immer über alles, aber das sind meistens keine Mitglieder«, so Christin Neuendorf. »Was allerdings diesmal den Kolleg:innen sehr übel aufstößt, ist die Tatsache, dass bis zur vierten Verhandlungsrunde die Inflationsprämie nicht als Ersatz für eine Lohnerhöhung akzeptiert wurde«, dies aber jetzt Teil des Verhandlungsergebnisses ist.

Es sei deshalb ein schlechter Kompromiss, kritisieren einige linke Gewerkschaftsaktive. Bei der Urabstimmung das Ergebnis abzulehnen, fordert etwa das »Netzwerk für eine kämpferische und demokratische Verdi«. Die ­Initiative »Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften« fordert: »Nein zum Verhandlungsergebnis!«

Christin Neuendorf wägt ab: »Wenn der Arbeitgeber sich bereits mit dem hohen Zuspruch zum unbefristeten Streik zu diesem Angebot bewegen ließ, dann hätte man mit einem Streik vielleicht noch mehr rausholen können.« Bei aller berechtigter Kritik am Verhandlungsergebnis ist es ihr wichtig zu betonen, »dass wir weiterhin organisiert sein müssen, um ein Gegengewicht zum Kapital zu haben«. Ende des Jahres stehen bereits die nächsten Verhandlungen an. Dann geht es um den Kündigungsschutz, denn die Tarifverträge zum Schutz vor betriebsbedingten Kündigungen und Änderungskündigungen laufen zum 31. Dezember aus.

* Name von der Redaktion geändert