Die Entpolitisierung einer Scharlatanerie
Mehr als 20.000 Zeichen braucht Fabian Wolff in seinem von Zeit Online veröffentlichten Essay »Mein Leben als Sohn«, um die Einsicht zu teilen, die am Anfang hätte stehen sollen: Entgegen seines langjährigen Auftretens ist Fabian Wolff kein Jude.
Wie kam diese Verwechslung zustande? Nachdem Wolff als Abiturient eine Folge »Curb your Enthusiasm« schaute, habe er seine Mutter gefragt, ob sie eigentlich jüdisch seien. Die Mutter habe geantwortet: »na ja, nicht wirklich, aber du weißt ja das mit deiner Großmutter.« Eine Familienlegende um eine angeblich jüdische Ururgroßmutter, bei der Wolffs Großmutter aufgewachsen sei, reichte, um sich eine neue Identität zurechtzuzimmern.
Wolff beginnt, von dieser Position aus zu sprechen, und zwar nicht nur privat, sondern öffentlich, als Journalist und Kommentator politischer Debatten.
Wolff betäubt die Leser:innen zunächst mit ermüdenden Reflexionen auf seinen vermeintlich jüdischen Sprechort, um dann die antisemitische Boykottbewegung BDS zu verharmlosen.
In zahlreichen Texten und auf Twitter gab Wolff seine Meinung kund, gerne auch zum jüdischen Leben in Deutschland oder Antisemitismus. Im Mai 2021 kritisierte er in dem ebenfalls bei Zeit Online veröffentlichten viel beachteten Essay »Nur in Deutschland« einen angeblichen pro-israelischen Konsens, der Menschen mit abweichender Haltung als antisemitisch diffamiere.
Im Text betäubt Wolff die Leser:innen zunächst mit ermüdenden Reflexionen auf seinen vermeintlich jüdischen Sprechort, um dann die antisemitische Boykottbewegung BDS zu verharmlosen. Das Pathos dabei ist schwer zu ertragen: »Meine jüdischen Freund*innen, die BDS unterstützen, tun das aus ihrem jüdischen Selbstverständnis heraus. Das nehme ich ernst und will es verteidigen. Im Namen von jüdischer Pluralität, im Namen von jüdischem Leben.«
Diese Gewichtigkeit kommt ohne die vorangegangene Selbstpositionierung nicht aus. Aus ihr leitet sich die Legitimität ab, etwa an Max Czolleks Ansatz der Desintegration zu kritisieren, dass dieser Versuch, »eine neue radikale Jüdischkeit zu verkünden«, ihn nicht anspreche.
Überhaupt wusste Wolff viel über Jüdinnen und Juden zu sagen: Im Juli 2021 urteilte Wolff auf Twitter über Anna Staroselski, damals Präsidentin der Jüdischen Studierendenunion, »solche Leute« seien »als spokespeople bad for the Jews«. Laura Cazés von der Zentralen Wohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland belehrte er im Februar selben Jahres, Jüdinnen und Juden in Deutschland und Österreich hätten rassifizierte Gewalt als »Massenphänomen« seit 1945 nicht mehr erlebt. Dem Vorsitzenden der AG Migration der SPD Sachsen-Anhalt, Igor Matviyets, unterstellte er, die Traumatisierungen US-amerikanischer Jüdinnen und Juden nicht ernst zu nehmen.
Der Tonfall war scharf. Wolff polterte gegen Jüdinnen und Juden, weil sie die jüdische Pluralität übersehen würden, für die er und sein Freundeskreis stünden.
Den Verdacht, Wolff sei gar nicht jüdisch, gab es schon seit längerem. Philipp Peymann Engel schreibt in der Jüdischen Allgemeinen, bereits im September 2021 sei »einigen Journalisten in Berlin« eine ausführliche Recherche einer Wolff »nahestehenden Person« zugespielt worden, die belegte, »inwiefern Wolffs jüdische Biografie von vorne bis hinten ausgedacht war«.
Mit seiner Beichte kam er der Enttarnung zuvor.
Auch Wolff erwähnt in seinem jüngsten Artikel diese Gerüchte, die ihn zu seiner Flucht nach vorn verleitet hätten. Mit seiner Beichte kam er der Enttarnung zuvor.
Den Zusammenbruch seiner Identität verkauft er dabei als Ergebnis eines Rechercheprozesses. Er habe der Ururgroßmutter nachgespürt und sie habe nicht den kolportierten Nachnamen getragen, nichts deute auf eine jüdische Religionszugehörigkeit hin.
So wird sein Betrug doch noch irgendwie zum Missverständnis, zu einem Fehler, der unterlaufen kann, wenn man nicht genauestens nachforscht. Dass die Familiengeschichte von vornherein so gut wie nichts hergibt, was auf eine jüdische Abstammung schließen lässt, verschwindet im Erzählfluss.
Üblicherweise wird Betrügern nicht überlassen, ihren Fall selbst in der Öffentlichkeit auszubreiten. Weder Claas Relotius noch Wolfgang Seibert, der ehemalige Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde von Pinneberg, der seine jüdische Abstammung erfunden hatte, konnten ihre Sicht der Dinge über ein gutes Dutzend Seiten ausbreiten, nachdem sie aufgeflogen waren.
Wolffs neuer Essay wirkt wie eine Fortsetzung des um seine Identität kreisenden Essays von 2021. Eine Entschuldigung findet sich in ihm nicht. Er übergeht abermals diejenigen, für die er gesprochen hat. Im Mittelpunkt steht er selbst, seine Identitätssuche, die er im Selbstoffenbarungsfuror ausbreitet. Er schreibt über seine Beziehung zu seiner Mutter und deren Tod.
Das ist alles ziemlich traurig, bietet aber auch die Schablone einer Entlastung. Die Motive für die Scharlatanerie sollen affektiv nachvollziehbar werden.
Die Rechtfertigung qua Psychologisierung wäre kein Skandal, würde es sich einfach nur um einen gewöhnlichen nicht-jüdischen Deutschen handeln, der gehofft hatte, irgendwo auf dem Dachboden zwischen Abzeichen der Luftwaffe doch noch das geheime Tagebuch der jüdischen Großtante zu finden.
Rasch meldeten sich im Netz neben großer Empörung auch Stimmen voller Anteilnahme. Die von Wolff selbst im Text angebotene Entpolitisierung seines Betrugs wird dabei übernommen. Die Rechtfertigung qua Psychologisierung wäre kein Skandal, würde es sich einfach nur um einen gewöhnlichen nicht-jüdischen Deutschen handeln, der gehofft hatte, irgendwo auf dem Dachboden zwischen Abzeichen der Luftwaffe doch noch das geheime Tagebuch der jüdischen Großtante zu finden.
Wolff war aber politischer Kommentator, er hat, plausibilisiert durch seinen angeblichen Sprechort, Einschätzungen zu Antisemitismusdefinitionen abgegeben oder für die Initiative Weltoffenheit GG 5.3. getrommelt, und immer wieder Antisemitismuskritiker:innen attackiert. Zuletzt kommentierte er erinnerungspolitische Debatten und ergriff dabei für Dirk A. Moses Partei, der die Singularität der Schoah als »Katechismus der Deutschen« verwerfen wollte. Die Perspektive, die Wolff auch hier wieder anbot, war eine explizit autobiographische und anekdotische.
Gefeiert wurde Wolff für seinen Einsatz nicht nur, wie Michael Wolffsohn in der NZZ schreibt, von Linken, sondern vom bürgerlichen Feuilleton, wo er publizistisch zuhause war. Wolff performte in seinen Texten eine vermeintliche authentische jüdische Identität, die er dramatisch mit seinen politischen Positionen verknüpfte.
In seinem jüngsten Text behauptet er: »Das jüdische Leben und die jüdischen Ideale, die ich vor Augen hatte, waren darauf ausgerichtet, die Deutschen zu nerven, sogar zu verärgern (…).« Die große Nachfrage deutet aber eher daraufhin, dass ziemlich viele Deutsche weniger genervt als begeistert von Kitsch gepaart mit Entlastungsangeboten waren. Man hat dem angeblichen Juden gern zugehört, der zeitgenössischen Antisemitismus verharmloste und die Frage der Singularität der Shoah für irrelevant erklärte.
Das ist die politische Dimension des Betrugsfalls. Die Aufarbeitung, die hier einsetzen sollte, kann durch Psychologisierungen möglicher Motive Wolffs nichts gewinnen.