Russland versucht, im Ukraine-Krieg den politischen Druck zu verstärken

Militärisch solide, politisch schwach

Die Nato wurde durch den Ukraine-Krieg gestärkt, aber Einigkeit im Umgang mit Russland gibt es nicht.
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Für die Nato scheint es gut zu laufen. Sie konnte in diesem Jahr Finnland und nun auch Schweden aufnehmen, nachdem der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan seinen Widerstand gerade noch rechtzeitig vor dem Gipfeltreffen des Bündnisses in der vergangenen Woche in der litauischen Hauptstadt Vilnius aufgegeben hatte. Regierungen wie die Ungarns, die weiterhin gute Beziehungen zu Russland pflegen wollen, störten die Harmonie nicht, und die Zusage der Mitgliedstaaten, zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für militärische Zwecke auszugeben, ist nun ein »dauerhaftes ­Engagement« (enduring commitment) geworden.

Fast könnte man US-Präsident Joe Biden glauben, der nach dem Gipfel resümierte, die Nato sei »stärker, energiegeladener, und ja, auch geeinter als je zuvor in ihrer Geschichte«. Tatsächlich hat die Bedrohung durch Russland zwei skandinavische Staaten bewogen, ihre jahrzehntelange Neutralität aufzugeben – das macht die Nato stärker. Bei der militärischen Unterstützung der Ukraine zeigen die Mitgliedstaaten jedoch weiterhin ein recht unterschiedliches Ausmaß an Energie. Zudem bedeutet der Verzicht auf offenen Widerspruch keine politische Einigkeit.

Auch Staaten wie die Türkei und Ungarn wollen auf den Schutz nicht verzichten, den die Beistandsverpflichtung gemäß Artikel 5 des Nato-Vertrags im Fall eines militärischen Angriffs bietet. Eine gemeinsame Russland-Politik folgt daraus nicht. Es waren vornehmlich die USA, die nach der Annexion der Krim 2014 das ukrainische Militär aufrüsteten und trainierten, so dass es dem Angriff im vergangenen Jahr standhalten konnte. Und wenngleich die Waffen- und Munitionslieferungen anderer Staaten nicht unbedeutend sind, ist es weiterhin vor allem die Unterstützung der USA, die die Ukraine dazu befähigt, den Abnutzungskrieg durchzuhalten und Gegenoffensiven zu unternehmen.

Wie der bewaffnete Aufstand der Söldnergruppe Wagner zeigte, ist die Lage in Russland nicht so stabil, dass Putin geruhsam auf Zeit spielen kann. Die Folgen des Krieges zersetzen den russischen Staatsapparat.

Da es sich um einen Krieg neuen Typs handelt, in dem sich die Wirksamkeit der eingesetzten Waffensysteme erst erweisen muss, sind Vorhersagen problematisch. Der bislang geringe Erfolg der ukrainischen Versuche, besetzte Gebiete zurückzuerobern, deutet aber darauf hin, dass die russische Armee trotz ihrer Schwächen in der Lage sein könnte, ihre Stellungen zu halten – zumindest ist ein schneller Sieg der Ukraine unwahrscheinlich. Das verschafft der russischen Regierung Zeit für politische Interventionen, deren Ziel es vor allem ist, die Unterstützung für die Ukraine zu mindern und jene Kräfte zu stärken, die von der Ukraine Zugeständnisse an Russland als Preis für den Frieden fordern.

Die Kündigung des vor einem Jahr von der Türkei und der Uno vermittelten Abkommens, das der Ukraine ungefährdete Getreideexporte über das Schwarze Meer ermöglichte, könnte ein wirksames Mittel sein. Die nun selbst ohne russische Angriffe auf ukrainische Frachtschiffe zu erwartenden Preissteigerungen treffen vor allem arme Länder, nicht selten solche, die wie der Jemen oder Somalia selbst von bewaffneten Konflikten erschüttert werden. Angesichts der zahlreichen vorhergehenden Vertragsbrüche des russischen Präsidenten Wladimir Putin war der Widerruf des Abkommens nur eine Frage des Zeitpunkts, eine Überraschung sollte er nicht gewesen sein. Doch spricht derzeit nichts dafür, dass die westlichen Staaten Vorkehrungen für die wieder einkehrenden Notlage getroffen haben, also etwa mit subventionierten Nahrungsmitteln oder Geldzuschüssen helfen werden.

Die Antwort »des Westens« auf den russischen Angriffskrieg ist militärisch solide, aber politisch schwach. Einst einte die Konfrontation mit der Sowjetunion »den Westen«, eine Systemkonkurrenz, die es in dieser Form mit Russland nicht gibt. Manche Regierungen sehen den Ukraine-Krieg als lästige Störung der Geschäfte mit Russland, die es so schnell wie möglich wieder aufzunehmen gilt. Rechtskonservative und Rechtsextreme sympathisieren mit dem autoritär-patriarchalen Staatsmodell Putins. Sie werden in der EU stärker, und sollte in den USA ein republikanischer Präsidentschaftskandidat die Wahl im kommenden Jahr gewinnen, stünde die Unterstützung für die Ukraine zu Disposition.

Allerdings ist, wie der bewaffnete Aufstand der Söldnergruppe Wagner zeigte, die Lage in Russland nicht so stabil, dass Putin geruhsam auf Zeit spielen kann. Die Folgen des Krieges zersetzen den russischen Staatsapparat. Die ukrainische Regierung muss sich zwar vor der Bevölkerung verantworten, dies könnte sie, wenn Erschöpfung und Kriegsmüdigkeit zunehmen, zu Kompromissen zwingen; doch der Verteidigungskampf wird von der Mehrheit getragen. In der direkten Konfrontation Russlands mit der Ukraine gibt es eine Systemkonkurrenz zwischen Autokratie und Demokratie.