Die jüdische Tradition, Zeugnis von der Gewalt gegen Juden abzulegen

»Survived to tell«

Noch während der Massaker durch die Hamas begannen Überlebende, Zeugnis von den Verbrechen abzulegen. Damit knüpfen sie auch an eine Tradition jüdischer Dokumentation von Verfolgung und Massenmord an.

Zachor – Erinnere Dich!, heißt es in der hebräischen Bibel. Der Imperativ zur Erinnerung an vorangegangene Vertreibungen und Verfolgungen ist ein zentrales Motiv jüdischer Geschichtsschreibung und jüdischen Gedächtnisses. Die Verfolgungen schlugen sich über die Jahrhunderte in jüdischer Liturgie, Lyrik und Literatur ­nieder, und seit Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte sich im Zuge der ­Säkularisierung jüdischer Geschichtsschreibung sowie angesichts zunehmender antisemitischer Gewalt in Ostmitteleuropa, dem damaligen Zen­trum jüdischen Lebens, eine Tradition der Dokumentation dieser Verbrechen.

In Reaktion auf die Pogrome im Russischen Reich, insbesondere in den Jahren 1903 bis 1906, schlossen sich dort jüdische Gruppen zusammen, um Augenzeugenberichte der Verbrechen zusammenzutragen. Zu den ersten dieser Gruppen zählten das vom Historiker Simon Dubnow in Odessa gegründete Historische Komitee sowie eine von der World Zionist Organization (WZO) beauftragte Untersuchungskommission unter Leitung des Journalisten Leo Motzkin, der es mit Hilfe ausführlicher Fragebögen und trotz schwerer staatlicher Repression gelang, die Pogrome während der Russischen Revolution zu rekonstruieren.

Der jiddischsprachige Schriftsteller und Ethnograph Salomon An-ski ­dokumentierte in seiner Studie »Der Khurbn in Polen, Galizien und der ­Bukowina« (»Khurbn« ist Jiddisch für »Zerstörung«) die Gewalt gegen Juden während des Ersten Weltkriegs, in dem bis zu eine Million Juden infolge der antisemitischen russischen Politik aus ihren Wohnorten vertrieben oder deportiert und zahlreiche Pogrome an der jüdischen Bevölkerung verübt wurden. Gemeinsam mit anderen Schriftstellern veröffentlichte An-ski Ende des Jahres 1914 einen Aufruf in jiddischsprachigen Zeitungen, in dem sie die jüdische Bevölkerung zur Dokumentation der Gewalt aufriefen: »Wir wenden uns an alle Angehörigen unseres Volkes (…) mit dem folgenden Aufruf: Seid eure eigenen Historiker! Macht euch nicht von anderen abhängig! Zeichnet auf, macht Notizen und ­sammelt!«

Angehörige des sogenannten Sonderkommandos in Auschwitz-Birkenau verfassten Berichte für die Nachwelt, die sie auf dem Lager­gelände vergruben, wo sie nach dem Krieg geborgen werden konnten.

Während der Shoah richteten jüdische Gruppen trotz der systematischen Verfolgung, Ausbeutung und Ermordung durch die Deutschen umfangreiche Untergrundarchive und Chroniken in den Ghettos in Warschau, Biały­stok, Łódź und Wilna ein, in denen sie Beweismaterial und Berichte über den Massenmord zusammentrugen. Selbst in den Vernichtungslagern legten die Häftlinge noch Zeugnis ab: Angehörige des sogenannten Sonderkommandos in Auschwitz-Birkenau verfassten Berichte für die Nachwelt, die sie auf dem Lagergelände vergruben, wo sie nach dem Krieg geborgen werden konnten.

Nach ihrer Befreiung durch die Alliierten gründeten jüdische Überlebende in mehreren Städten Europas historische Kommissionen, die Beweismaterial und Zeugenberichte sammelten, um das Ausmaß der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik offenzulegen. Damit verbunden war erneut der Aufruf zur kollektiven Dokumentation. So schrieb Israel Kaplan, der Leiter der Jüdischen Historischen Kommis­sion in München, 1947: »Man braucht nur ein Ohr zu haben. Lasst uns sammeln – retten!«

Ihren Appell stellten die Überlebenden mitunter in direkten Zusammenhang mit dem jüdischen Erinnerungsgebot: Plakate, die in den Lagern für die jüdischen displaced persons zur Dokumentation aufriefen, trugen biblische Aufschriften, zum Beispiel »Gedenke, was Amalek dir antat!« aus dem Fünften Buch Mose, und erinnerten an die Versklavung der Juden in Ägypten oder vergangene Pogrome wie in der Ukraine in den Jahren 1648 und 1649.

Die Massaker der islamistischen Terrormiliz Hamas am 7. Oktober 2023, in denen die Terroristen mindestens 1.400 Israelis brutal ermordeten und 222 in den Gaza-Streifen verschleppten, markieren den größten Massenmord an Juden seit der Shoah. Noch während der grausamen Angriffe dokumentierten die Opfer und Überlebenden die Massaker durch Videoaufnahmen und Fotos und erstellten damit Beweismaterial für die unfassbaren Gewalttaten. Unmittelbar nach ihrer ­Rettung begannen sie, Zeugnis vom Geschehenen abzulegen – in Videos, mit Screenshots von Chatverläufen und durch schriftliche Augenzeugenberichte.

Am 9. Oktober ging der Instagram-Account @survivedtotell unter dem ­Titel »Israeli Survivor Stories« online, der Videos mit Berichten von Überlebenden veröffentlicht. Das Projekt entstand auf Initiative des israelischen Harvard-Studenten Nim Ravid Dieser. Der berichtet auf Anfrage der Jungle World, seine eigenen Social-Media-Feeds seien zwar voller Berichte der Über­lebenden gewesen, doch diese Berichte schienen die US-Öffentlichkeit nicht zu erreichen.

Ravid kontaktierte daraufhin einen Freund und ehemaligen ­Kameraden aus der israelischen Armee (IDF), der für die 2017 gegründete Non-Profit-Organisation »Israel-Is« (auch »Israel.is.you«) arbeitet. Gemeinsam schufen sie die Plattform Survived to Tell, an der inzwischen 50 Studierende der Universität Harvard ­mitwirken.

Die systematischen Demütigungen, Folterungen, Vergewaltigungen und die massenhafte Ermordung von Juden durch die Hamas rücken viele Über­lebende in die Nähe der nationalsozialistischen Verbrechen. Auch ihre Berichte weisen mitunter schockierende Parallelen zu jenen von Überlebenden der Shoah auf: In einem Video auf Survived to Tell berichtet Sahar Ben-Sela, wie Hamas-Terroristen Granaten in einen Bunker warfen, in dem er mit 30 anderen Teilnehmern des »Super­nova«-Festivals Schutz gesucht hatte. Er überlebte, geschützt durch die Leichen derer, die durch die Granaten ­ermordet worden waren. Berichte wie dieser ähneln denen jener wenigen, die die Massenhinrichtungen der SS-Einsatzgruppen in der Sowjetunion überlebten, indem sie sich totstellten und zwischen den Ermordeten in den Massengräbern ausharrten, bis sie fliehen konnten.

Nach der Ermordung von sechs Millionen Juden durch das nationalsozialis­tische Deutschland war offensichtlich, dass nur ein jüdischer Staat den Juden Sicherheit bieten konnte. Zeugnis abzulegen von dem, wovon es keine Zeugen hätte geben sollen, war ein Triumph über das erklärte Ziel der Nationalsozialisten, das europäische Judentum vollständig zu vernichten; das war von zentraler Bedeutung für die Chronisten der Shoah.

»Wir werden gerade Zeugen eines Holocaust-Leugnungsphänomens, das sich in Echtzeit entwickelt.« ­Israels Regierungssprecher Eylon Levy

Das Zeugnis sollte immer auch dazu dienen, der nichtjüdischen Bevölkerung die Augen zu öffnen und das Ausmaß der Verbrechen offenzulegen, ­damit es sich nicht wiederholen möge. Die polnische Schriftstellerin Gustawa Jarecka schrieb darüber in einem ihrer Texte für das Untergrundarchiv im Warschauer Ghetto: »Der Bericht muss wie ein Keil unter das Rad der Geschichte geklemmt werden, um es zum Stehen zu bringen.«

Mit ihren Berichten wollen die Überlebenden der Massaker vom 7. Oktober 2023 Zeugnis ablegen von den Bluttaten der Hamas, des Islamischen ­Jihad und ihrer Schergen. Sie müssen sich auch deshalb dazu verpflichtet fühlen, weil die Geschehnisse weltweit bagatellisiert, relativiert und geleugnet werden.

Als Reaktion auf die anhaltende Verleugnung der Massaker beschloss die ­israelische Regierung, am Montag in einer offiziellen Vorführung Videomaterial von Bodycams und Handys, mit denen die Täter ihre bes­tialischen Gewalttaten gefilmt hatten, internationalen Journalisten zu zeigen. »Ich kann nicht glauben, dass wir als Land dies tun müssen«, sagte der ­israelische Regierungssprecher Eylon Levy über diese Entscheidung. »Wir werden gerade Zeugen eines Holocaust-Leugnungsphänomens, das sich in Echtzeit entwickelt.«

Mit ihren Zeugnissen stellen die Überlebenden sich in eine historische Tradition jüdischer Dokumentation von Verfolgung und Massenmord. Man hatte gehofft, diese nach der Staatsgründung Israels nicht weiterführen zu müssen. Doch bleibt der entscheidende Unterschied zu den vorangegangenen Verfolgungen die Existenz des ­jüdischen Staats mit seiner Fähigkeit und seinem Recht zur Selbstverteidigung als Antwort sowohl auf den Terror als auch auf dessen Unterstützer und Bagatellisierer.