Klaus von Lampe, Kriminologe, im Gespräch über Begriff und Realität der Clan-Kriminalität

»Es geht um nicht legitimierte Machtstrukturen«

Der Begriff der Clankriminalität ist umstritten. Die einen sehen in ihm die Beschreibung eines Phänomens der organisierten Kriminalität, andere einen Mythos, der Menschen unter einen oft rassistischen Generalverdacht stellt. Die »Jungle World« sprach mit dem Krimino­logen Klaus von Lampe über die Verwendung des Begriffs und die Kritik an ihm.
Interview Von

Was versteht man unter »Clan« und »Clankriminalität«?
Der Begriff »Clan« kommt ursprünglich aus Schottland. Da gab es diese Clanstrukturen aufgrund der wirtschaftlichen Gegebenheiten: der Vieh- und Weidewirtschaft. Um bestehen zu können, musste man sich gegen Konkurrenz absichern. Man ist auf seinen sozialen Verband angewiesen, und das ist nicht nur die Familie. Man gehört zusammen und hat die Verpflichtung, den anderen im Clan zu helfen, und den Anspruch, unterstützt zu werden, insbesondere im Konflikt mit anderen Clans.
In der gegenwärtigen Verwendung hat sich der Begriff erst in den letzten Jahren durchgesetzt. International ­jedoch ist er in Bezug auf kriminelle Strukturen relativ verbreitet. Aus meiner Sicht ist das nicht abwertend gemeint, sondern ein naheliegender Begriff, den man aus der Soziologie und Anthropologie für bestimmte Formen familienbasierter Kriminalität übernimmt.

Was bedeutet das hierzulande?
Die Frage ist, inwieweit es Sinn ergibt, in diesem anthropologischen Verständnis auch hier in Deutschland von Clans zu sprechen und daran anschließend von »Clankriminalität«. Man muss dabei differenzieren, über welchen Zeitraum man spricht. Mahmoud Jaraba, der seit Jahren Feldforschung im sogenannten Clanmilieu führt, meinte letztens, Clans als handlungsfähige Strukturen gebe es tatsächlich nicht mehr. Das spiele sich mittlerweile alles auf viel kleinerer Ebene ab. Im Grunde genommen sei das nicht viel mehr als die Kleinfamilie, in der drei Genera­tionen zusammenkommen.
Man kann aber aus meiner Sicht nicht sagen, dass das Clanphänomen damit komplett aus der Welt ist. Die Clans haben in der Außenwahrnehmung wahrscheinlich immer noch eine Bedeutung und ihr Name funktioniert wie eine Marke.

Wie kommt die Polizei zu dem Begriff »Clankriminalität«, der ja auch in öffentlich einsehbaren Lage­bildern der Polizei verwendet wird?
Die Polizei hat vor etwa 30 Jahren angefangen wahrzunehmen, dass es Konstellationen von Kriminalität gibt, in denen aus dem Libanon nach Berlin gekommene Familien eine Rolle spielen. Das betrifft das Machtgefüge innerhalb des kriminellen Milieus ebenso wie einzelne Deliktbereiche wie den Drogenhandel. Wenn jetzt zum Beispiel auf einmal irgendwer in Neukölln viel mit Gras handelt, fragt die Polizei: Wie kommt das? Was ist das für eine Connection? Wie ist die Lieferkette? Wenn sich zeigt, dass das über Familienzusammenhänge läuft, ergibt es für die Polizei Sinn, sich das genauer anzuschauen.

»Soweit größere Clanstrukturen vorhanden waren, haben sie in den vergangenen 20 Jahren wohl eher an Bedeutung verloren.«

In Nordrhein-Westfalen hat man anhand der Nachnamen untersucht, welche Familien besonders kriminalitätsbelastet sind, indem unterschiedslos alles zusammengetragen wurde, was die Einzelmitglieder an kriminellen Handlungen begehen. Als erste Sortierung der Lage halte ich das für nahe­liegend. Vieles davon sind aber jugendtypische Delikte, die nicht in der Logik des Clans oder der Großfamilie begangen wurden. Der Familie zurechnen lassen sich nur wenige Taten. Zum Beispiel solche, die in Konflikten mit anderen Familien auftreten, wenn etwa Zeugenaussagen zurückgenommen oder gar nicht erst gemacht werden sollen, weil die Einigung über den Friedensrichter oder direkt mit der anderen Familie erfolgen soll. Teils wird dabei Druck ausgeübt, der in Form von Bedrohungen oder Nötigungen in den strafrechtlich relevanten Bereich geht.
Die Frage ist aber, wie man damit umgeht und an die Öffentlichkeit geht. Das Problem mit diesen Lagebildern und auch mit der Definition von »Clankriminalität« ist, dass sie für die polizeiinterne Informationsverarbeitung gedacht sind. Die Veröffentlichung ­erfolgt wohl auch auf Druck der Politik. Ich glaube, die Polizei wäre zufrieden, wenn sie diese öffentlichen Lagebilder nicht erstellen müsste. Die weiß auch, wie begrenzt deren Aussagekraft ist und dass man sie falsch interpretieren kann.

Wie interpretiert man sie richtig?
Im Kern geht es darum, welche Bedeutung die Familie für das kriminelle oder ordnungswidrige Verhalten einzelner Mitglieder hat. Man müsste schauen, wie groß ein Clan insgesamt ist und welcher Anteil davon polizeilich in Erscheinung tritt. Dann muss man untersuchen, welche dieser Straftaten überhaupt einen Familienbezug haben. Diesen kleineren Ausschnitt müsste man sich im Detail angucken. Statistische Erhebungen sagen nur begrenzt etwas darüber aus, was tatsächlich passiert und welche Bedeutung es hat. Aus meiner Sicht geht es um Gewalttaten in Auseinandersetzungen zwischen Clans und mit anderen Gruppierungen und um Geldwäsche innerhalb von Clans, wenn in der Logik familieninterner Solidarität illegales Geld an bedürftige Familienangehörige weitergegeben wird.

Stimmt der verbreitete Eindruck, dass das Problem »Clankriminalität« immer größer wird?
Soweit größere Clanstrukturen vorhanden waren, haben sie in den vergangenen 20 Jahren wohl eher an Bedeutung verloren. Die Familien sind zwar enorm gewachsen, der innere Zusammenhalt wird dadurch aber immer schwächer. Mir erscheint es plausibel, dass deshalb immer mehr im kleineren Rahmen stattfindet. Bei Fällen wie dem Goldmünzenraub oder dem Grünen Gewölbe scheint es nur um einen Zweig eines Clans zu gehen. Von mehreren Zweigen der Familie sind es einer oder zwei, in denen die Leute kriminell stärker auffallen, in den anderen praktisch gar nicht.
Ich denke allerdings, dass sich kriminelles Verhalten schon immer auf einzelne Leute konzentriert hat und dass die innerhalb der Groß­familien auch nicht zwingend ein besonders hohes Ansehen genießen. Wenn die Clans als solche überhaupt noch handlungsfähig sind, dann jedenfalls nicht unbedingt zur Begehung von Straftaten. Eher im Gegenteil, denn eine wichtige Funktion von Clans ist es, Konflikte zu vermeiden und friedlich beizulegen.

Wie kommt es dann zum weitverbreiteten Gebrauch des Begriffs Clankriminalität?
Es gibt verschiedene Leute, die ein Interesse daran haben, dass die Clans in der Wahrnehmung existieren und immer größer und gefährlicher werden. Zunächst sind das die kriminellen ­Teile der Clans selbst. Die profitieren davon, wenn sie als Angehörige eines möglichst großen Clans wahrgenommen werden, weil die Probleme mit anderen Kriminellen kleiner werden und keiner sich traut, sie herauszufordern. Auch für die Presse ist das interessant. Und natürlich kommt es auch Leuten, die etwas gegen Migration haben, sehr gelegen, das Problem aufzubauschen.
Als Wissenschaftler darf man das Thema aber nicht aussparen, weil es instrumentalisiert wird. Die empi­rischen Realitäten gibt es, sie sind nur etwas anders und auch komplizierter, als es im Diskurs erscheint.

Erhält das Thema also zu viel Aufmerksamkeit?
Ich habe in den nuller Jahren angefangen, in der Berliner Unterwelt Interviews zu führen. Dabei stellte sich heraus, welche große Bedeutung diese ­arabisch sprechenden Großfamilien in Westberlin haben. Ich habe mich damals gefragt, warum man das eigentlich nicht mitkriegt.

»Es ist gefährlich zu sagen, der Diskurs sei per se rassistisch. Man ignoriert so bedeutende Probleme oder tabuisiert sie, so dass man sich nicht mehr vernünftig damit auseinandersetzen kann.«

Mindestens bis in die zehner Jahre war es noch so, dass diese Großfamilien sehr vorsichtig waren, nach Ostberlin zu gehen. Da waren andere Leute präsent, vor denen man höllischen Respekt hatte. Aber in Westberlin war deutlich erkennbar, wie sie andere an die Seite gedrängt haben. In Duisburg, Essen oder Bremen war es wohl im Prinzip das Gleiche, und auch in kleineren Städten in Niedersachsen. Organisierte Kriminalität ist stark lokal. Man kann also nicht sagen, dass ganz Deutschland von diesen Clans beherrscht wird oder wurde.

Aber was bedeutet das auf lokaler Ebene?
Man muss sich fragen, was die wirklich anrichten können. Inwieweit haben sie zum Beispiel Einflussmöglichkeiten auf politische Entscheidungen? Bezogen auf Westberlin würde ich sagen, im kriminellen Milieu sind die Clans wichtig, aber es geht nicht weit darüber hinaus. Schon nach Brandenburg und auch in die Oberwelt gibt es sehr wenig Einfluss.
Wenn man sich aber die kleinen Hochburgen anguckt, etwa in Neukölln, wirkt sich deren Macht doch aus. Die Behauptung, alle Gewerbetreibenden in diesen Gegenden würden Schutzgeld zahlen, muss nicht stimmen. Manchmal wird auch geprahlt, welchen Einfluss man habe. Ich würde aber sagen, man kriegt schon mit, dass sich zum Beispiel Leute nicht trauen, bei der Polizei auszusagen.

Welche Rolle spielt Rassismus bei der Diskussion über »Clankriminalität«?
Einerseits besteht die Gefahr, dass man rassistische Motive bedient und das Thema von rechts vereinnahmt wird. Andererseits gibt es tatsächlich ein Problem, das man nicht einfach abtun kann.
Ich will das Rassismusproblem nicht kleinreden, aber es ist gefährlich zu ­sagen, der Diskurs sei per se rassistisch. Man ignoriert so bedeutende Probleme oder tabuisiert sie, so dass man sich nicht mehr vernünftig damit auseinandersetzen kann. Damit macht man das, was man verhindern will, und stärkt den rechten Diskurs darüber. Hier geht es um nicht legitimierte Machtstrukturen und ich wundere mich, warum das gerade von links in Abrede gestellt wird.
Wenn ich sage, der antirassistische Diskurs zur »Clankriminalität« ist problematisch, heißt das nicht, dass er – bezogen auf einzelne Facetten der Bekämpfung von »Clankriminalität« – nicht doch sehr zutreffend ist. Das ist für mich eine offene Frage, ich will es nicht ausschließen.

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Klaus von Lampe ist Professor für Kriminologie an der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin. Zuvor war er Professor am John Jay College of Criminal Justice in New York City. Vor seiner wissenschaftlichen Karriere war er als Rechtsanwalt tätig. Er beschäftigt sich mit Begriff, Theorie und Erscheinungsformen organisierter Kriminalität, insbesondere illegalen Märkten und illegalen Machtstrukturen, sowie mit internationaler Polizeikooperation.