Ein Mammutbuch über die Geschichte der Arbeit

Die Matrix der Arbeit und wie man sich daraus befreit

Vom Faustkeil zum KI-Roboter: Anhand von Graphiken, Karten, Tabellen und Zeittafeln sowie aktuellen Zahlen und Forschungsergebnissen schildert eine Mammutmonographie die globale Geschichte der menschlichen Arbeit von ihren Anfängen bis heute – und erwägt, wie Arbeit in Zukunft vernünftig und menschenwürdig gestaltet werden müsste.

Sieben Bände mit insgesamt rund 2.400 Seiten: Die Autorinnen und Autoren des Instituts für die Geschichte und Zukunft der Arbeit haben eine Mammutmonographie vorgelegt, die sich der menschlichen Produktivität und dem Gebrauch der Werkzeuge widmet. Sie endet mit dem Mikrochip noch lange nicht, sondern mit Vorschlägen, wie die avancierte Technik zu nutzen ist, um die dreifache Not zu mildern: die reale des Globalen Südens, die metaphorische der entfremdeten Arbeit in den OECD-Ländern des Nordens und die der ausgebeuteten äußeren Natur. Einen solchen theoretischen Text, der zudem politisch-programmatisch sein will und aus sozialdemokratischer Perspektive argumentiert, hat man seit langem nicht mehr gelesen.

Die Urheber der im SPD-nahen Verlag J. H. W. Dietz Nachf. Bonn (nicht zu verwechseln mit dem Karl-Dietz-Verlag Berlin, der für die Marx-Engels-Werke bekannt ist) erschienenen Bände sind erkennbar von Thomas Piketty und seinem Buch »Das Kapital im 21. Jahrhundert« inspiriert. Sie eifern dem französischen Ökonomen und seiner Vorliebe für Statistiken nach; in ihren sieben Bänden findet man seitenweise Graphiken und Schautafeln. Diese zeigen ein in ständigem Progress befindliches menschliches Arbeits­vermögen. Längst habe es eine historische Stufe erreicht, die die Fortexistenz von Hunger und Armut als eine Schande der Menschheit erscheinen lässt. Wären die Produktivkräfte von dem Zwang befreit, nur dem Tauschwert dienstbar zu sein, und stünde ihr Gebrauchswert frei zur Verfügung, käme dieser schändliche Zustand der Welt rasch zu einem Ende. In diesem Urteil kommt der Charakter eines Manifests zum Ausdruck, und als ein Manifest will dieses Werk, neben seinem wissenschaftlichen Anspruch, ebenfalls gelten.

Die Monographie liefert keine reine Technikgeschichte und blendet Herrschaftsverhältnisse nicht aus.

Seine einzelnen Bände gehen den Epochen der Menschheitsgeschichte nach und gliedern sie gemäß ihren Produktions- und Herrschaftsverhältnissen. Ganze Meter an Sekundärliteratur wurden verarbeitet, und zugearbeitet haben den Ökonomen die Wissenschaftssparten Ethnologie, Anthropologie, Arbeitswissenschaft und Klimaforschung. Bezeichnenderweise ist von den Ingenieurswissenschaften nichts gekommen, ihnen fehlt jeder Begriff ihrer eigenen Geschichte. Dass die lebendige Arbeit als bloßes Anhängsel unter die tote Maschinerie subsumiert ist und dieses Elend als condition humaine gilt, entziehe sich der Reflexion. An keiner technischen Universität dieses Landes sei ein solcher kritischer Gedanke zu finden, muss die Studie feststellen.

Bewusstsein, Sprache und Werkzeug

Mit dem frühen Homo, der erst ein erectus und dann ein sapiens geworden ist, mittels Bewusstsein, Sprache und Werkzeug, fangen die Bände an. Er wird durch alle Epochen begleitet, von der Steinzeit mit der entsprechenden Axt bis in die computergesteuerte Gegenwart. Man erfährt dabei so einiges über ihn. Der Homo sapiens trat vor ungefähr 300.000 Jahren auf. Was er seinen Vorfahren voraus hatte, ist das präzise Greifen mittels den anderen Fingern opponierbarem Daumen, die über das Auge vermittelte Koordination der Hand. Anthropologie geht in diese Studie ein, gepaart mit Materialismus.

Die materialistische Argumentation erscheint an dieser Stelle deutlich überzogen: Dass die Sprache mit dem Vermögen des Menschen entsteht, die Natur zu bearbeiten, ist keineswegs ausgemacht. Ihre Entwicklung mag einer eigenen Logik folgen, die nicht identisch ist mit der Logik der Naturbeherrschung.

Eine Schlachterei in Castelvetro di Modena (Italien) beliefert McDonald’s, Mai 2024

Eine Schlachterei in Castelvetro di Modena (Italien) beliefert McDonald’s, Mai 2024

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Die sieben Bände haben Lesebuchcharakter; sie zeigen sorgfältig erstellte Diagramme, Schautafeln und manchmal auch Fotografien. Ihr sehr nützliches Schlagwortverzeichnis verleiht ihnen den Vorzug eines lexikalischen Werks. Der pädagogische Zweck ist unübersehbar. Auch Anekdotisches hat seinen Platz. Wer sagt denn, dass Aufklärung eine ernste Sache sein muss? Großkonzerne der frühen Neuzeit waren die Ost- und die Westindien-Kompanie und ihr Importgut, Kaffee und Tee, machten dem verbreiteten Bierkonsum Konkurrenz und sorgten für die Regheit, auf die der angehende Kapitalismus Anspruch zu haben glaubte. Solche Geschichten hinter der Geschichte erzählt das Buch.

Die erkenntnisleitende Frage ist die nach der Ökonomie der Imperien.

Die Monographie liefert keine reine Technikgeschichte und blendet Herrschaftsverhältnisse nicht aus. Die Produktivität des Ackerbaus liefert zum ersten Mal ein über das zum Überleben Nötige hinausgehendes Mehrprodukt und ruft Mächte auf den Plan, die es sich aneignen. Entlang den großen Flüssen zunächst Chinas, Indiens, Ägyptens und Mesopotamiens beginnt die neolithische Revolution mit der Sesshaftigkeit, dem Ackerbau und der Tierhaltung. Den aus dem Säen, Ernten und Lagern resultierenden Überschuss eignen sich Priester, militärische Führer und technisch versierte Herrschaften an. Kanalbauten zu planen und zu überwachen, ist wohl die früheste Funktion des Staats.

Jeder Epoche der Menschheitsgeschichte ist ein Band gewidmet, der den in ihr entstehenden Imperien nachgeht. Die erkenntnisleitende Frage ist die nach der Ökonomie der Imperien. Die Bewässerungssysteme am Nil und am Tigris lassen die sogenannten Hydraulischen Gesellschaften entstehen. Der maritime Handel mit Schiffsflotten macht die oberitalienischen Stadtstaaten und ihre Großkaufleute reich. Der Sklavenhandel ist ein vom Kaufmannskapital betriebenes zirkuläres Geschäft. Die Handelshäuser liefern Textilien und Waffen nach Afrika, bekommen dafür Sklaven, setzen diese auf den Baumwollfeldern der Südstaaten der USA ein, lassen den Rohstoff in den englischen Fabriken weben und überschwemmen mit billiger Massenware die ganze Welt.

Geschichte des Werkzeugs, Geschichte der Maschine

Dem Handelskapital werden die Märkte im Bedarfsfall freigeschossen. Man verschafft sich Zugang, wie beispielsweise im den Freihandel erzwingenden Opiumkrieg. Der Preis eines Sklaven notiert um 1800 bei 400 US-Dollar; ein Lohnarbeiter verdiente damals um die 130 Dollar im Jahr.

Der Fortschritt im Kampf um die Menschenrechte war langsam, der der Arbeitsproduktivität dagegen rapide. Produzierte Rom zu seinen Glanzzeiten 300 Gramm Weizen pro Stunde, waren es um 1800 schon ein Kilogramm und gegenwärtig sind es 200 Kilogramm. Eisen für die Werkzeuge des Handwerks, des Kriegs und des Landbaus zu verwenden, hat die Produktivität erheblich gefördert.

Kinderarbeit in einer Baumwollspinnerei in South Carolina, um 1909

Kinderarbeit in einer Baumwollspinnerei in South Carolina, um 1909

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Die Geschichte des Werkzeugs schreibt das Buch zu einer Geschichte der Maschine fort. Mit Wind- und die Wassermühlen begann die Industrialisierung. In den sogenannten Satanic Mills der englischen Midlands erlebte die Geschichte der Arbeit einen Tiefpunkt, zu ermessen an dem für Kinder erlassenen Sozialgesetz, das um 1800 als große Reform galt: Es legte für Hilfskräfte beim Spinnen und Weben ein Mindestalter von zehn Jahren fest, erlaubte »nur« einen Zehnstundentag und keine Nachtarbeit. Die Arbeitszeiten der Erwachsenen erstreckten sich bis auf 100 Stunden die Woche und die Profitraten erreichten 40 Prozent.

Der Fortschritt im Kampf um die Menschenrechte war langsam, der der Arbeitsproduktivität dagegen rapide.

Der Verbrennungsmotor, so erfahren wir, hat die Grenzen der menschlichen und der tierischen Muskelkraft gesprengt. Er löste eine technische Revolution aus, denn die neue Energiequelle steigerte die Produktivität pro Arbeitsstunde immens. In der gängigen Definition von Produktivität anhand der pro Zeit und Arbeiter produzierten Menge eines Produkts kommt das Wesen einer Ökonomie zum Ausdruck, die für die Bestimmung des Fortschritts nur quantitative Parameter zur Verfügung stellt. Ihr Siegeszug kam einer Eroberung gleich, den die Fauna und Flora erleiden musste, schreiben die Autorinnen und Autoren. Längst ist eine Gegenrechnung aufgemacht worden, die ökologische und andere Schäden berücksichtigt, doch die Destruktivkräfte werden ihr Zerstörungswerk fortsetzen, sollte es der Menschheit nicht gelingen, der mit dem »fossilen Irrweg« entstandenen ökologischen Krise entgegenzusteuern.

Die Notwendigkeit, der Armut entgegenzuwirken

Dazu bieten die Produktivkräfte das nötige Potential, wie die Verfasser zeigen. Von einer Politik, die fordert, den Gürtel enger zu schnallen, halten sie nichts. Genauso wenig vom Wegwerfkonsum. Vermutlich werden 30 Prozent der produzierten Kleidung nie getragen; denn die Menschheit des Globalen Nordens ist gehalten, dem mehrmals im Jahr neu ausgerufenen Modetrend zu folgen. Die Influencer sind als Trendsetter angestellt, die Näherinnen schuften bei niedrigstem Lohn in den Sweatshops Pakistans und der Online-Handel optimiert die Distribution der Waren. Millionen Beschäftigte des Globalen Südens stellen Wegwerfartikel und Billigelektronik her.

Stahlarbeiter der Hoesch AG in Dortmund, ca. Ende der sechziger Jahre

Stahlarbeiter der Hoesch AG in Dortmund, ca. Ende der sechziger Jahre

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Die der Zukunft gewidmeten Kapitel handeln von der Notwendigkeit, der Armut entgegenzuwirken. Zehn Prozent der Menschheit verfügen gerade mal über vier Dollar pro Tag und damit das Existenzminimum. Wer das Doppelte verdient, und das sind 36 Prozent der Menschen, ist von Wohlstand natürlich noch weit entfernt. Die Wirtschaftsstatistiker des Instituts haben gerechnet: Das 15 fache des Existenzminimums, dazu ärztliche Versorgung und Bildung, sind für ein menschenwürdiges Leben nötig. Einem Viertel der Menschheit, das überwiegend in den OECD-Staaten lebt, ist ein solches vergönnt, und es war die Arbeiterbewegung, die ein humaneres Leben erkämpfte.

Das wuchtige Werk endet mit sehr handfesten Vorschlägen. Wie ist die lebendige Arbeit zu organisieren, damit sie den Produktionsprozessen nicht als Restgröße einverleibt bleibt? Was befähigt die Individuen, sich der Technik als Werkzeug zu bedienen? Die Frage lässt sich beantworten, aber nicht mit New-Work-Phraseologie. Befriedigende Arbeit ist abwechslungsreich, hat Einfluss auf die ihr zugrunde liegenden Organisation, wird ordentlich entlohnt und kommt der Entfaltung menschlicher Fähigkeiten entgegen; sie vergegenständlicht sich in einem nützlichen Gut, bietet Beschäftigungssicherheit und ist mit mäßigem Zeitaufwand zu erledigen. In der kosmopolitischen Arbeiterbewegung war einmal von der travail attractif die Rede. Es ist also nicht weniger nötig als eine grundlegende Abkehr vom Taylorismus, so das Resümee dieser Monographie.

Institut für die Geschichte und Zukunft der Arbeit (Hg.): Matrix der Arbeit. Materialien zur Geschichte und Zukunft der Arbeit. Sieben Bände im Schuber, je ca. 368 Seiten, Verlag J. H. W. Dietz Nachfolger, Berlin 2023, 245 Euro