Zu Besuch bei Kibbuzim in Nord- und Südisrael

Zweifel an der Rückkehr

Wann in Israel wieder einigermaßen Sicherheit herrschen wird, ist ungewiss, vor allem im Süden und im Norden des Landes. Ebenso ungewiss ist die Rückkehr evakuierter Familien.
Gastbeitrag Von

Israel kämpft zurzeit an zwei Fronten. An zwei Fronten ist das Land von einer Ter-rororganisation bedroht, hinter zwei Fronten sind Tausende Familien evakuiert worden, an zwei Fronten kämpfen täglich Tausende Soldat:in­nen und Reservist:innen und verteidigen das Land und seine Bevölkerung, die jüdische wie die muslimische, drusische, christliche und alle anderen Israelis auch. Doch die Lage scheint nach über 100 Tagen Krieg ungewisser als noch zu dessen Beginn. Viele Ex­pert:in­­nen gingen davon aus, dass innerhalb weniger Monate die Hamas besiegt sein und die Hizbollah aus dem Libanon nicht angreifen werde. Beide Annahmen scheinen sich nicht zu bewahrheiten.

Vorige Woche war ich viel unterwegs – sowohl im Süden als auch im Norden. Der Kibbuz Kissufim liegt etwa sieben Kilometer südwestlich von Re’im, wo das Nova Music Festival stattfand, auf dem die Hamas-Terroristen 364 junge Menschen abgeschlachtet und über 40 Geiseln nach Gaza verschleppt haben. Im Kibbuz Kissufim lebten vor dem »Schwarzen Schabbat«, wie der 7. Oktober in Israel genannt wird, etwa 280 Menschen. 18 von ihnen wurden auf brutalste Art und Weise von der Hamas ermordet, eine Person ist noch immer als Geisel in Gaza. Ich betrat drei der Häuser, die die Hamas-Terroristen zerstört hatten.

Ein Haus war fast vollständig ausgebrannt, man kam nur schwer herein. Dort lebte eine kleine Familie: Mutter, Vater und eine Tochter im Teenager-Alter. Während etwa 60 Terroristen aus zwei Richtungen den Kibbuz stürmten und gleichzeitig Hunderte Raketen aus dem Gaza-Streifen flogen, versteckte sich die Familie in ihrem Bunkerzimmer. Aber die Terroristen setzten das Haus in Brand, die Familie wurde lebendig verbrannt in diesem Raum, der zur Falle wurde. Als ich ihn mit meiner Handytaschenlampe betrat, versuchte ich, nicht zu atmen. Ich hatte Angst, dass mich der Geruch für immer verfolgen würde.

Shmuels 90jährige Großmutter wurde im Kibbuz Kissufim von einem Terroristen in ihrem Haus erschossen.

Es stand dort noch ein halbverbranntes Bett und von der Decke hing etwas, das wie eine grotesk verkohlte Girlande aus geschmolzenem Plastik aussah.
Shmuel, ein etwa 30 jähriger Mann, führte mich durch den Kibbuz, in dem er geboren und aufgewachsen ist. Seine 90jährige Großmutter wurde dort von einem Terroristen in ihrem Haus erschossen. Aber er hilft dabei, den Kibbuz wieder aufzubauen, und will dorthin zurückkehren.

Auf die Frage, ob auch die anderen Bewohner zurückkommen wollen, sagte er: »Na ja, im Moment wollen es nicht viele. Damit die Menschen zurückkehren, müssen zwei Dinge passieren: Wir müssen die Hamas zerstören und dafür sorgen, dass die Menschen hier die Gewissheit haben, dass sie sicher sind. Zum anderen müssen wir den Kibbuz noch schöner machen, als er zuvor war. Deshalb sammeln wir gerade auch Spenden. Ein paar Menschen aus dem Kibbuz sind wieder hier, um schon mal das Gras neu zu pflanzen. Wenn es grün und schön ist, dann denke ich, dass die Kibbuz-Bewohner sich wohler dabei fühlen zurückzukommen.«

Tags darauf fuhr ich in den Norden in den Kibbuz Ein Harod, einen der ältesten Kibbuzim Israels mit atemberaubender Sicht auf das Gilboa-Gebirge. Dort lebt meine Kindheitsfreundin Anna. Seit wir vier Jahre alt waren, sind wir befreundet; wir waren auch in der jüdischen Grundschule in der Ukraine in derselben Klasse.

Dort trennten sich zunächst unsere Wege: Ich ging als Kontingentflüchtling nach Deutschland, Anna nach Israel. Sie lebte die vergangenen zehn Jahre im Kibbuz Misgav Am direkt an der Grenze zum Libanon. Ich habe sie dort mit meinen Kindern und meinem Mann mehrmals besucht. Es ist ein Kibbuz, in dem viele junge Familien lebten, die nun alle evakuiert wurden, weil seit dem 8. Oktober ohne Unterbrechung mit der Hizbollah gekämpft wird.

Als Anna, ihr Mann und ihre beiden kleinen Töchter am 7. Oktober verstanden, was im Süden passierte, sagte ihr Mann bereits um 9 Uhr morgens zu ihr: »Nimm ein paar Sachen und die Mädchen und fahr bitte weg. Es wird gefährlich werden hier.« Ihr Mann hat bereits in zwei Kriegen gekämpft und ist Sicherheitsverantwortlicher des Kibbuz. Noch bevor die Aufforderung zur Evakuierung kam, ahnte er, dass der Kibbuz zu einer Kampfzone mit der Hizbollah werden würde. Genau so kam es auch.

Anna und der gesamte Kibbuz verbrachten einige Wochen in einem Hotel am See Genezareth. Sie entschied sich dann, ein neues Zuhause zu suchen, ob übergangsweise oder nicht, ist ihr noch nicht klar. »Wenn ich gewusst hätte, dass der Krieg in ein, zwei Monaten vorbei ist, wäre ich noch im Hotel geblieben. Aber die Mädchen müssen zur Schule und in den Kindergarten, das ist doch kein Zustand«, sagte sie mir neulich am Telefon.

»Was erzählt dein Mann aus dem Norden?« fragte ich. »Nicht viel, er darf mir nichts sagen und genau das macht mir Sorgen«, seufzte meine Freundin Anna.

Sie fand ein freies Häuschen in Ein Harod, wo es auch noch Plätze in Schule und Kindergarten gab. Dort besuchte ich sie. Erschöpft und mit täglicher Sorge um ihren Mann versucht sie, sich ein Leben im Kibbuz aufzubauen. »Was erzählt dein Mann aus dem Norden?« fragte ich. »Nicht viel, er darf mir nichts sagen und genau das macht mir Sorgen«, seufzte sie.

Wir setzen uns mit unserem Kaffee auf die Terrasse und ich fragte, ob die Familien nach Misgav Am zurückkehren wollten. Ihre Antwort hat mich erschüttert. »Die meisten haben Angst zurückzukommen. Wir wissen bisher nicht, ob die Hizbollah unter unserem Kibbuz oder in der Nähe Tunnel hat. Kann ich oder einer meiner Freunde aus Misgav Am verantworten, unsere Kinder dort großzuziehen, mit dieser Ungewissheit? Ich glaube nicht, dass viele zurückgehen. Zumindest nicht, solange die Hizbollah dort ist; und der Kampf mit ihr wird länger und schwerer als mit der Hamas.«

Während wir durch Ein Harod spazierten und uns dann im gemeinsamen Essensraum des Kibbuz, im Cheder Ochel, Mittagessen holten, sprachen wir auch über die Lage in der Welt. »Eine Freundin aus Misgav Am wollte vor dem Krieg für ein paar Jahre in die USA zurück. Jetzt will sie auf keinen Fall dort hin. Der Antisemitismus weltweit ist unerträglich geworden.« Ich stimmte zu: »Mir geht es auch so, dass ich mich hier in Israel sicherer fühle als in Deutschland. Trotz Krieg.«

Jenny Havemann ist Unternehmerin und Bloggerin und lebt in Ra’anana, etwas nördlich von Tel Aviv.